YS 1.1: Atha Yoga anusasanam – Yoga als Tradition und Praxis

Yogameditation mit dem Yogasutra

Atha yoga anusasanam* – Jetzt beginnt Yoga als Tradition und Praxis. (1.1)
So lautet der erste Satz des Yogasutra. Was soll uns das sagen? Was kann uns der Satz sagen?

Es sind nur drei Worte und es fehlt ein Verb. Wortwörtlich heißt es: Jetzt yoga folgenpraxis. Es gibt glücklicherweise Kommentare mit Erklärungen. Ein wichtiger Kommentar ist der Kommentar von Vyasa aus dem 2.Jh. unserer Zeitrechnung. Warum ist der Satz so kurz? Das Yogasutra, bestehend aus 195 Sutren, also kurzen Sätzen, wurde über viele Jahrhunderte nur mündlich überliefert indem es auswendig gelernt wurde. Die Sätze enthalten nur die wichtigsten Informationen, weil es einfacher zu merken ist. Außerdem wurden die Sutren persönlich vom Lehrer zum Schüler weiter gegeben. Der Sinn eines Sutras wurde vom Lehrer erklärt und das Sutra war dann für den Schüler eine Erinnerung oder Gedankenstütze. Genau genommen gibt es das Yogasutra in Schriftform erst mit dem Kommentar von Vyasa, weil er in seinem Kommentar die Sutren aufgeführt hat.

Hier einige Erklärungen zu diesem ersten Sutra:
1.Der Satz ist eine Einleitung, ein kurzes Vorwort: Der Text befasst sich mit der Praxis von Yoga.

2. Das Wort „atha“ (gesprochen: Atha) war in Texten als Einleitung gebräuchlich. Es war nicht nur ein schlichtes „jetzt“ oder „hier“ sondern auch ein Appell, ein Achtung, hier ist Aufmerksamkeit gefordert. Hier geht es um etwas Wichtiges.

3. Yoga wird als Begriff ohne Erklärung genannt. Daraus kann man ableiten, dass Yoga bereits bekannt war, als dieser Text vor rund 2200 Jahren entstanden ist. Yoga war nichts Neues. Auch das Wort „anu“ deutet darauf hin. Es bedeutet in etwa „folgen“, wie einer Tradition folgen. Der Text und der Autor Patanjali** (oder die Autoren – darüber bestehen unterschiedliche Meinungen) sagt, dass es nicht seine Meinung ist, sondern er einer Tradition folgt. So wird der Text auch als systematische Zusammenfassung des damaligen Wissens über Yoga interpretiert. Es finden sich Elemente aus älteren indischen Texten wie den upanisaden ( Aussprache: upanischaden), der Bhagavadgita oder dem Buddhismus, aber der Text bleibt offen, er ist keine religiöse Schrift.

4. Āsana (gesprochen: Asana), hier durch ein „s“ mit dem Wort anu verbunden, heißt Praxis. Es ist keine theoretische Abhandlung, keine Philosophie, keine Religion, sondern es geht um eine Praxis. Diese Praxis wird Yoga genannt. Die Tradition von Yoga beruht demnach auf praktischen Erfahrungen, die Menschen gemacht haben, um den Zustand von Yoga zu erreichen. Und diese Erfahrungen will der Text Menschen vermitteln, die sich für Yoga interessieren. Es sind Erfahrungen von Problemen und Hindernissen und auch den Erfahrungen von Möglichkeiten, diese zu überwinden und das Ziel von Yoga zu erreichen. Der Text stellt den Menschen und seinen Geist in den Mittelpunkt mit seinen Funktionsweisen und Fähigkeiten, um damit zu arbeiten. Das Yogasutra wird manchmal mit einer Landkarte verglichen, mit deren Hilfe wir unser Ziel erreichen und zwischendurch immer wieder überprüfen können, ob wir noch auf dem Weg sind.
Der Text betont die Praxis und verzichtet auf philosophische Überlegungen oder Spekulationen, z.B. Reinkarnation und Wiedergeburt. Das kommt mit dem Wort Āsana zum Ausdruck. Es geht darum, Yoga zu leben und nicht nur darüber nachzudenken oder zu spekulieren!

Vielleicht mag es erstaunen, dass im Yogasutra nur 3 von 195 Sutren Āsana beschreiben und es trotzdem als praktische Anleitung gedacht ist. Die Praxis und teilweise sogar die Ziele von Yoga haben sich im Laufe der langen Zeit immer wieder gewandelt (s. Roots of Yoga, James Mallinson/Mark Singleton). Es gibt nicht den einen klassischen und damit richtigen Yoga, sondern immer wieder verschiedene Strömungen, die der jeweilige Zeitgeist in Indien, ab dem späten 19.Jh. auch in den USA, hervor gebracht hat. Die Körperübungen bekamen viele Jahrhunderte nach dem Yogasutra die Bedeutung, wie wir sie heute kennen. Sie waren z.B. in der Hatha Pradipika aus dem 14 Jh. eingebettet in den bekannten Yogaweg. Dem Körper wurde aber mehr Bedeutung als zuvor für die Praxis beigemessen.

Dieses Sutra erinnert uns also daran, dass es hier um praktische Erfahrungen geht und darum, selbst Erfahrungen zu machen. Das Ziel von Yoga erreichen wir nur durch Praxis, durch Erfahrungen mit dem Körper, dem Geist und der Psyche/Seele. Es gab Menschen, die uns ihre Erfahrungen überliefert haben, die uns helfen, mit unseren Erfahrungen auf dem Yogaweg umzugehen und die zeigen, dass das Ziel von Yoga erreichbar ist.

„Ein Gramm Praxis ist besser als Tonnen von Theorie“ (Swami Sivananda 1887-1963)

*Aussprache: anuschasanam

** Aussprache: Patan-dschjali