Meditation auf das Herz enthüllt uns die Natur unseres Geistes

… so heißt es im 3.Kapitel, Sutra 34 des Yogasutra.

Im dritten Kapitel des Yogasutra (YS) werden mögliche Meditationsobjekte genannt. Es gibt nach den Erfahrungen der Meditierenden nicht den einen, für alle gültigen Weg. Das steht im Gegensatz zu manchen aktuellen Angeboten. Bereits im 1. Kapitel, Sutra 34 wird empfohlen: Meditation über ein Thema, das uns anspricht, stabilisiert unser Denken und Fühlen – oder anders ausgedrückt: Ein Thema, das uns interessiert, bringt unsere Gedanken und Gefühle zur Ruhe und schenkt uns einen klaren Geist (YS 1.2 und 1.3). Worüber wir meditieren ist also eine persönliche Angelegenheit. Wir haben unterschiedliche Erfahrungen und daraus resultierend unterschiedliche Themen zu bearbeiten. Das Yogasutra ist undogmatisch, offen und modern. Gleichwohl werden im dritten Kapitel Meditationsobjekte vorgeschlagen und auch deren Wirkung beschrieben. Diese Vorschläge beruhen auf Erfahrungen, die Meditierende vor mehr als 2000 Jahren gemacht haben. Es sind keine theoretischen Ideen.

Wie kann uns eine Meditation über das Herz „Wissen über unser Denken und Fühlen“ bringen (YS 3.34)? In der „Herzmeditation“ können wir uns mit dem Herzzentrum am Ende des Brustbeins verbinden oder die Hände oder Fingerspitzen dort sanft auflegen. Das ist ein sehr sensibler Bereich. Dort befindet sich auch die Herzspitze. Wir können über das physische Herz meditieren, indem wir den Herzschlag wahrnehmen, uns der Bedeutung des Herzens bewusst werden und in eine tiefe Meditation kommen, z.B. über das Leben selbst, was über das Leben hinaus geht, die Bedeutung des eigenen Lebens und der Frage: Wer bin ich? So können wir uns unserer tieferen Gedanken über unsere Wünsche, Ziele, Überzeugungen, Ängste und Vorurteile klar werden. Im Alltag fehlt dazu oft die Möglichkeit. Wir können erkennen, was uns wirklich „am Herzen liegt“. Wir kommen uns selbst nahe. Weil wir das Wesentliche und Wichtige in unserem Leben erkennen, können wir ein weniger hektisches und damit ein glücklicheres Leben führen. Diese Erfahrungen sind ein starkes Fundament und eine große Kraft im Alltag. Wir können diese Kraft gezielt einsetzen – dort wo es wesentlich und wichtig ist. Andererseits verschwenden wir unsere Kraft und Zeit nicht mehr für unwichtige Themen. Die Meditation über das Herz führt uns zu einer neuen inneren Kraft und zu geistiger Klarheit, die viveka, Unterscheidungsfähigkeit genannt wird.

Ein Beispiel aus dem Alltag: Wir wollen jeden Samstag joggen. Der Kopf sagt, dass es wichtig ist, sich zu bewegen, in den Medien lesen wir, dass wir uns alle zu wenig bewegen und außerdem kneift die Hose. Am Samstag haben wir Zeit. Mit diesen Gründen, meinen wir, sind wir motiviert. Dann kommt der Samstag, wir fühlen uns schlapp, müssen außerdem noch einkaufen, sind verabredet und so eng ist die Hose auch nicht…. Ist das Joggen ein „Herzensanliegen“? Oder macht sich nur der „innere Kritiker“ bemerkbar? Ist es Trägheit, die uns vom Joggen abhält, haben die anderen mehr Disziplin als wir – oder haben wir ein Herzensanliegen, das dem Joggen entgegensteht? Wenn wir uns unserer Gefühle gewahr werden, haben wir eine Wahl: Wir können den Vorsatz wieder fallen lassen, eine Alternative wählen oder motiviert joggen. Wir verschwenden keine Zeit mit schlechten Gefühlen und blockieren uns nicht selbst.

In alten Texten wird Wissen oft über Bilder oder Metaphern transportiert. Man kann das Herz als Symbol für unsere Gefühle verstehen. Auch in unserer Kultur steht das Herz für Gefühle wie Liebe, Freundlichkeit, Großzügigkeit. Interessanterweise meint Patanjali, der als Urheber des Yogasutra gilt, dass wir unseren Geist und unser Ego nicht allein über das Denken erkennen und ändern können. Meditation ist keine Denkaufgabe. Der Geist kann sich nicht selbst erkennen – oder wie ein Lehrer mal sagte „Das Auge kann das Auge nicht sehen – es braucht einen Spiegel“. Der intellektuelle Vorgang des Denkens steht am Anfang. Wenn wir weiterkommen wollen, brauchen wir auch die Gefühle. Nur so kommen wir in die Tiefe. Unsere Gefühle sind oft die Ursache unserer Gedanken. Es können auch sehr alte Gefühle sein, die uns nicht bewusst sind, weil wir sie verdrängt haben. Unbewusst sind sie der Boden für unsere Gedanken heute. In der Meditation können wir beobachten, welche Gedanken und Gefühle auftauchen. Nach und nach zeigen sich auch längst vergessene Erinnerungen. Jede Erinnerung ist an Gefühle gebunden. Und so kommen alle Gefühle an die Oberfläche, auch die, die wir nicht wollen. Ohne von den alten Gefühlen überflutet zu werden, schauen wir sie uns aus einer Beobachterposition an. Mit unseren Erfahrungen und dem aktuellen Wissen können sich diese Gefühle verändern oder auch auflösen. Dazu bedarf es Zeit, denn meistens geschieht es nicht in einer einzigen Meditation. Manchmal ist es hilfreich oder sogar notwendig, sich professionell beraten oder begleiten zu lassen. Wenn die Gefühle in der Meditation zu stark werden, ist sie abzubrechen.

Wenn wir uns unserer Gefühle bewusst sind, erkennen wir unsere immer wiederkehrenden Gedankenmuster. Diese Muster präsentieren uns zu jedem Gefühl immer die gleichen und alten Lösungen. Die Frage ist: Passen diese Lösungen zur aktuellen Situation? Indem sich die Gefühle ändern, können sich unsere Gedanken und dann kann sich unser Verhalten ändern.

„Viele der großen Leiden in der Welt entstehen dadurch, dass der Geist keine Verbindung mit dem Herzen hat. In der Meditation können wir diese Verbindung wieder aufnehmen und unter allen gedanklichen Problemen ein Gefühl der inneren Weite, der Einigkeit und des Mitgefühls entdecken.“ (Jack Kornfield, Frag den Buddha und geh den Weg des Herzens, Kösel-Verlag, S.70)

Die Meditation über unser Herz bringt uns Wissen über unser Fühlen und Denken (citta) – unser Ego. Wir leben unseren Alltag aus unserem Ego heraus. Deshalb ist es wichtig zu wissen, woraus es besteht.

Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. – Antoine de Saint-Exupéry

Literatur:
Patanjali Das Yogasutra – R.Sriram
Yoga und Gefühle – Anjali und R.Sriram
Vollende, was du bist – Helga Simon-Wagenbach
alle Theseus-Verlag