Vairagya – Loslassen oder Loswerden?

Haben Sie zum Jahreswechsel auch etwas losgelassen? Vielleicht haben Sie es mit einem Ritual getan, z.B. etwas ins Feuer geworfen? Viele Ratgeber empfehlen loszulassen. Meistens ist Ballast, sind alte Verletzungen, falsche Erwartungen oder Gewohnheiten gemeint. Wenn man sich mit dem Thema Loslassen beschäftigt, klingt es oft wie los-werden. Das, was uns stört, unruhig oder Angst macht, wollen wir nicht haben. Wie ist es aber mit dem Loslassen von geliebten Menschen, dem Arbeitsplatz, der Gesundheit, von Geld und Sicherheit? Ist das Loslassen der Erstgenannten schon schwierig genug, so ist des mit dem, was wir schätzen noch schwieriger. Und doch sind wir manchmal dazu gezwungen.

Was genau ist Loslassen? Dazu schauen wir uns den ursprünglichen Begriff genauer an. In vairagya steckt der Begriff raga. Raga bedeutet, dass wir glauben, unser Glück abhängig ist von bestimmten Dingen, Personen oder Situationen. Gier und Sucht sind Extremfälle von raga. Raga wird auch mit Anhaften übersetzt. Wir „kleben“ an Personen, Besitz, Gedanken und Gewohnheiten. Vairagya ist die Abwesenheit von raga, nicht das Gegenteil von raga. Vairagya wird manchmal mit Teflon verglichen, an dem auch nichts haften bleibt und somit auch nichts losgelassen werden muss. Im Zustand von vairagya müssen wir nichts loslassen oder -werden, weil nichts haften bleibt. Das klingt nach Gleichgültigkeit. Wenn alles egal ist, belastet auch nichts. Das ist nicht gemeint. Auch im Zustand von vairagya gibt es ein Interesse und ggf. auch ein Handeln oder Eingreifen. Im Alltag ist es unumgänglich. Der Unterschied ist ein wesentlicher: Im Zustand von raga sind wir in unserer Sichtweise eingeschränkt. Indem wir etwas unbedingt (haben) wollen, sehen wir eine Situation nur aus unserer Sicht, also eingeschränkt oder einseitig. Wir verlieren das Ganze und auch die anderen aus dem Blick. Und wenn das Ergebnis dann nicht unserer Vorstellung entspricht, verlieren wir unsere innere Balance. In vairagya betrachten wir alles mit einer inneren Achtsamkeit. Wir sind uns unserer Wünsche und Bedürfnisse bewusst, wollen dies oder jenes gern haben oder meiden, aber wenn es anders ist, akzeptieren wir das. Aus dieser Achtsamkeit kann sich Gleichmut und Gelassenheit entwickeln. Schwierigkeiten lenken uns nicht mehr so leicht ab. Und da nicht an einem bestimmten Ergebnis festgehalten wird, können wir auch mit Mißerfolgen gleichmütiger umgehen. Es heißt, man solle nicht an den Früchten (des Handelns) hängen. Wie ein Bauer, der sein Feld bestellt, so gut er kann und auch nicht das Ergebnis bestimmen kann. Nicht nur zu Mißerfolgen und Verlusten stellt sich eine entspanntere Haltung ein, sondern ebenfalls zu allem, was wir schätzen. Denn was wir jetzt besitzen oder uns nahe ist, kann uns ebenfalls in Unruhe bringen. Einerseits kann es uns von unseren wesentlichen Zielen ablenken und andererseits ist es von der Angst begleitet, es zu verlieren. Und hier sehen wir: Loswerden und loslassen haben eine unterschiedliche Bedeutung.

Wie wäre es, das Loswerden loszulassen? Also diesem Wunsch gegenüber, eine Gewohnheit, eine alte Meinung, Gefühle wie z.B. Ärger, Arbeit, Belastung, loswerden zu wollen, eine achtsame und entspanntere Haltung zu entwickeln? Nicht an diesem Loslassen anzuhaften? Wie ist das möglich? Zunächst kann man diesem Alten, was immer man loswerden möchte, nachspüren. Das heißt im Yogasutra „svadhyaya“ – erforschen und so viel wie möglich darüber herausfinden: Gefühle, körperliche Empfindungen, Gedanken, Situationen. Dann kann man es so konkret wie möglich benennen und herausfinden, welchen Nutzen dieses Unerwünschte hat. Alles hat oder hatte mal eine Aufgabe, einen Sinn, eine Funktion in unserem Leben. Und solange es uns nützt, werden wir uns innerlich dageben sträuben, es „loszulassen“. Da wirken auch keine neuen Glaubenssätze. Wenn wir heraus gefunden haben, was der Nutzen ist, können wir Danke sagen. Das klingt vielleicht absurd, ist aber ganz wichtig. Mit jedem der genannten Schritte werden Sie eine Veränderung spüren, vielleicht kommt ein tiefer Seufzer. Und dann sollte es eine bessere Alternative zu dem Alten geben, denn dann kann das Alte gehen. Es ist nicht mehr wichtig – und deshalb ist Loslassen geschehen, wir haben es nicht gemacht. Vielleicht kann man sagen: Es hat mich losgelassen. Man kann sich auch wünschen oder vorstellen, dass sich das Alte in etwas Neues wandelt, dass es transformiert wird.

Loslassen im spirituellen Sinn ist eine innere Haltung. Es gibt nichts zu tun. Es gibt Dinge, die haben eine Bedeutung im Leben, sie bescheren auch Glück. Das Glück, das wir suchen, finden wir nicht in diesen Dingen, Menschen oder Situtionen, auch wenn wir zeitweise damit glücklich sind. Das dauerhafte, tiefe Glück, das uns inneren Frieden schenkt, ist in uns und wir finden wir es nur ins uns selbst. Je mehr inneres Glück wir erleben, desto mehr lassen wir los. Je weniger wir von dem inneren Glück erfahren, desto mehr werden wir uns anstrengen, um es im Außen zu erfahren.

Loslassen heißt also zuerst nach dem inneren Glück suchen und dann ist das Loslassen das Ergebnis.