Yama: 2.satya – YS 2.36

Der Begriff satya

Sat heißt übersetzt die höchste Wahrheit. Die innere Haltung von satya bedeutet wahr-haftig zu sein, also der Wahrheit verhaftet. Sie ist ein Streben nach Wahrheit und drückt das Verhältnis zur Wahrheit aus. Satya ist das 2.yama. Folgende Fragen können sich u.a. stellen:

  • Welche Funktion/Rolle hat satya im Yoga?
  • Was bedeutet es, Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit im Alltag zu leben?
  • Ist es überhaupt möglich?
  • Ist es immer angebracht bzw. sinnvoll?
  • Was ist Wahrheit?
  • Ist uns die absolute, unwiderlegbare Wahrheit überhaupt zugänglich?

Satya im Kontext des Yogasutra

Die yama als innere Haltung zu kultivieren ist nach dem Yogasutra die Voraussetzung für einen klaren und ruhigen Geist. Wenn unser Geist ruhig wird, verändert sich unser ganzes inneres Erleben, das sich dann in unserem täglichen Handeln ausdrückt. Letztendlich ist es durch den achtgliedrigen Pfad (astanga/YS 2.29) möglich, einen ruhigen und stabilen Geist zu haben und  damit den Zustand von samadhi oder kaivalya – der völligen inneren Freiheit zu erreichen. Was ist mit Freiheit gemeint? Es ist die Freiheit von unseren einschränkenden Täuschungen (avidyā YS 2.3/2.4), Konditionierungen (klesa YS 2.3) und Blockaden (antarāya YS 1.30). Das ist ein Bewusstheitszustand, in dem wir frei sind von Leid. Alle Texte und Quellen sprechen davon, dass dieser Zustand nicht beschreibbar ist. Deshalb ist die gebräuchliche Beschreibung als Erleuchtung mit Klischees belegt.

Die fünf yama sind also in einem größeren Zusammenhang zu betrachten, wenn sich uns ihr Sinn erschließen soll. Ausführlich ist dies in dem Betrag Die yama als innerer Kompass dargestellt.


Ahimsa, das erste yama als Grundlage von satya

Alle yama sind miteinander verwoben. Das entspricht unserem Erleben im Alltag. Das Yogasutra ist kein abstrakter theoretischer Text mit abgehobenen Ideen, sondern holt uns als Menschen mit unseren Einschränkungen- s.o.- ab.

Eine grundlegende Bedeutung für alle yama hat das erste yama ahimsa- die Gewaltlosigkeit. Sie ist der Boden für alle weiteren yama und den Yogaweg überhaupt. Der Beitrag Yama: 1.ahimsa YS 2.35 beschäftigt sich mit diesem Thema.

Satya – die Wahrhaftigkeit, das zweite yama– braucht einerseits unbedingt ahimsa, andererseits können beide in Konkurrenz stehen und dadurch einen inneren Konflikt erzeugen.


Satya als Übungsweg im Yoga

Das Yogasutra kennt kein Bestrafungs-oder Belohnungssystem für unser Verhalten. Was ist dann die Motivation, sich um Ehrlichkeit zu bemühen? Es ist die Notwendigkeit, weil eine bestimmte innere Haltung Voraussetzung für einen ruhigen Geist und deshalb unabdingbarer Bestandteil des Yogaweges ist.

„Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen“ sagt der Volksmund. Unehrlichkeit oder eine Lüge beschäftigen den Geist, sobald er nicht mehr durch Aktivitäten abgelenkt wird. Dies kann in einer Pause, am Wochenende, im Urlaub oder in der Meditation geschehen. Dann plagt das schlechte Gewissen oder die Angst vor Entdeckung und Scham. Und diese Gedanken und Gefühle verhindern die Entspannung oder die Konzentration. Sie zu verdrängen gelingt nur bedingt und auf Kosten unserer inneren Gelassenheit. Außerdem braucht man Energie, um die Erinnerung an die Unwahrheit aufrecht zu erhalten und um sich nicht zu widersprechen. Auch das läßt den Geist nicht zur Ruhe kommen.

Der Fokus von satya ist nicht wie ein Scheinwerfer auf andere Menschen und deren Verhalten gerichtet, sondern vielmehr ein Spiegel, in dem wir uns selbst betrachten. Wenn wir in manchen Situationen zur Unaufrichtigkeit oder Lüge neigen, deren Quelle im Sinne des Yogasutra in den oben erwähnten Blockaden, Konditionierungen und Täuschungen liegt, unterstellen wir anderen (unbewusst) ebenfalls diese Absicht. Das führt zu Vorsicht oder Mißtrauen und beeinflusst unseren Kontakt und unsere Beziehungen. Wir nehmen die Menschen und ihr Verhalten nicht unvoreingenommen wahr, sondern haben ein verzerrtes Bild. Satya verhindert diese falsche Wahrnehmung ( viparyaya YS 1.6./1.8). Unsere Wahrhaftigkeit wirkt auch auf dieser subtilen Ebene. Ehrlich und aufrichtig zu sein ist also nicht „Privatsache“, sondern wirkt in unsere Beziehungen, auf ihre Qualität, im weiteren Sinne auf den Umgang innnerhalb der Gesellschaft und letztendlich global.

Weil wir es in unserem Leben häufig mit verschiedenen Varianten von Unehrlichkeit zu tun haben, ist es wichtig, auch die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, die uns begegnet, bewusst wahrnehmen, um beides bzw. uns selbst im Gleichgewicht zu halten.

In Bezug auf den inneren Weg führt satya zu einem ruhigen und stabilen Geist und zu einer klaren Wahrnehmung. Umgekehrt stärkt ein stabiler Geist unsere klare Wahrnehmung und damit den inneren Zustand von satya.


Satya heute:

  • Man soll kein falsches Zeugnis wider seinen Nächsten ablegen, heißt es in der Bibel. Dies ist eine Sünde und hat Konsequenzen- der Weg in den Himmel ist versperrt und man findet sich ggf. in der Hölle wieder. Zumindest gilt das für Christen. Wenn nicht aus innerer Überzeugung, dann folgt man zumindest aus Angst dieser Regel, mit entspechenden Schuld- und Schamgefühlen, wenn man sich selbst bei der Unwahrheit ertappt oder ertappt wird. In unserem Kulturkreis ist dies eine über Jahrhunderte tradierte Einstellung. So wurden wir über Generationen sozialisiert.
  • In unserem Rechtssystem wird ein Meineid, also bewusst die Unwahrheit zu sagen, mit Freiheitsstrafe bestraft.
  • „Lügen haben kurze Beine“ ist ein Sprichwort, das Kinder ermahnend hören oder wenn eine Unwahrheit ans Tageslicht kommt. Das will sagen, Lügen lohnen sich nicht. Über kurz oder lang fliegt der Schwindel auf. Die Unwahrheit zu sagen, kann kurzfristig einen Vorteil verschaffen oder einen befürchteten Nachteil vermeiden, aber langfristig schaden wir uns damit.
  • „Fake news“ – der Begriff ist fast salonfähig geworden. Es kann sich um frei erfundene oder gefälschte Nachrichten handeln, solche, die aus dem Zusammenhang gerissen wurden oder durch Weglassen oder Hinzufügen umgedeutet werden. Es gibt auch falsche Nachrichten durch sinn-ändernde Bildausschnitte oder Perspektiven und nicht zuletzt durch die Bildbearbeitung wie sie in den sozialen Medien an der Tagesordnung ist. Wir können uns in gewissem Umfang an Unwahrheiten gewöhnen, aber sie verändern mehr oder weniger unbewusst unsere innere Einstellung zur Wahrheit. Wenn wir Unehrlichkeit erfahren, vertrauen wir den Worten und Bildern nicht mehr. Sie verlieren ihre Glaubwürdigkeit. Daraus folgt, dass wir unserer Wahrnehmung nicht mehr vertrauen können, wie die Menschheit es seit Jahrtausenden gewohnt ist. Das führt zu einer inneren Verunsicherung, möglicherweise sogar zu Angst und damit verändert sich wiederum unser Umgang miteinander. Wir selbst und andere verlieren Glaubwürdigkeit. Die Unwahrheit führt immer zu einem Vertrauensverlust, das ist der Preis. Und die vielen, vielleicht gedankenlosen, sogenannten Nachrichten, verändern das Klima in unserer Gesellschaft. Satya hat damit eine ganz aktuelle Bedeutung. Es ist wichtig, sehr aufmerksam und kritisch zu sein beim Teilen von Informationen. Dazu unten die Geschichte mit den drei Sieben.

Diese Aufzählung kann beliebig fortgesetzt werden.


Satya im Sinne von Authentizität oder „Jedes Selbstbild bedeutet Selbst-Entfremdung“

Satya zu leben beginnt bei der Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Wir stehen zunächst vor der Frage, wer ist dieses „selbst“? Yoga nennt es unseren Geist (citta), der aus unseren Erfahrungen, bewussten oder unbewussten Überzeugungen und Schlussfolgerungen besteht, die im Yogasutra benannt und erläutert werden. Damit stimmt er mit der modernen Psychologie überein. Das ist sehr komplex, weil sich daraus – wer kennt sie nicht? – innere Konflikte ergeben. Mit Yoga lernt man, diese Konflikte zu erkennen und zu lösen. Dies ist ein Baustein, um den Geist ruhig werden zu lassen.

Unsere unbewussten „Schattenseiten“ oder bhrantidarsana:

Weitaus größer ist der „Schatz“ der Anteile (vāsanā, YS 4.8) unseres unbewussten Selbst. Es besteht aus unseren „Schattenseiten“. Es sind die Teile unseres Selbst, die wir als negativ ablehnen. Es kann z.B. sein, dass wir uns selbst als ehrlich und authentisch sehen wollen und deshalb unser Verhalten, zu flunkern, zu beschönigen, zu verschweigen usw. nicht wahrhaben wollen. Auch in der Yogaszene mit den hohen Idealen tritt dies auf. Im Yogasutra heißt es bhrantidarsana (Verblendung, Neigung zur Fehldeutung).

Unser unerwünschtes Verhalten blenden wir nicht nur aus, wir lagern es auch gern aus. Auslagern bedeutet, wir achten bei anderen sehr genau auf dieses Verhalten und kritisieren es gern. In der Psychologie spricht man von „Projektion“. Wie ein Filmprojektor eine Szene auf eine Leinwand projeziert, sind andere Menschen für uns die Leinwand für unser Verhalten. Wir können uns fragen, wenn wir jemanden kritisieren, ob das etwas mit uns selbst zu tun haben könnte. Es gibt zwei Möglichkeiten der Projektion: Entweder ist es ein Verhalten, das wir negativ bewerten, z.B. blenden wir die Unwahrheit aus, weil wir als Kind für eine Lüge bestraft oder beschämt wurden und dieses Verhalten nicht zulassen können. Oder es ist ein Bedürfnis, das wir uns nicht erlauben. Wenn wir z.B. gern einen besonderen Urlaub machen würden, aber er zu teuer ist oder wir glauben, wir haben kein Recht darauf, er steht uns nicht zu, wir sind es nicht wert, usw., kritisieren wir vielleicht Menschen, die sich das erlauben. Wenn wir unsere Gedanken erforschen (svadhyaya YS 2.1) und auf diese Weise immer mehr die Wahrheit über uns selbst herausfinden, fördern wir den Zustand der inneren Ruhe. Wir „integrieren“ alle Anteile und werden „integer“ und authentisch.

Wir alle haben Rollen in unserem Leben übernommen und aus Erfahrungen und Zuweisungen ein Selbstbild geschaffen. Viele Überzeugungen sind sehr alt: Wir haben die Rolle des/der Klugen, Schönen, Fröhlichen, Braven, Sportlichen, Offenen, Ehrlichen oder Dummen, Häßlichen, Frechen, Faulen, Lügners*in usw. übernommen. Oftmals stammen diese Zuschreibungen aus einer frühen Zeit unseres Lebens, als wir uns selbst mangels Erfahrung noch nicht selbst ein Bild machen konnten. In der Regel wurden diese Bewertungen wie Urteile über uns gesprochen und nicht zwischen Person und Verhalten differenziert. Wenn diese Urteile irgendwann im Leben nicht im Yoga oder in einer Therapie, einem Coaching oder einer Beratung bewusst werden, sind sie so zum Bestandteil unserer Persönlichkeit geworden, dass wir uns ihrer nicht bewusst sind und sie damit auch nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen können. Wir versuchen vielmehr, diesem inneren Bild zu entsprechen. Das ist eines der großen Themen, die das Yogasutra als DIE Täuschung (avidya) und Wurzel aller Probleme bezeichnet. Wenn wir, ohne es zu merken und zu wollen, in bestimmten Punkten uns selbst und anderen etwas vorspielen, wie können wir dann wahrhaftig sein? Wir können nur so wahrhaftig sein, wie wir alle Täuschungen über uns selbst erkannt und entlarvt haben. Das Selbststudium (svadhyaya, YS 2.1) spielt deshalb im Yoga eine wichtige Rolle. Āsana und prānāyāma allein reichen nicht aus, um den Geist stabil und ruhig sein zu lassen. Andernfalls sind wir permanent damit beschäftigt „uns so zu zeigen, wie wir nicht sind und das nicht zu zeigen, was wir wirklich sind“ – weil wir glauben, in dieser Weise den Erwartungen der anderen und der Gesellschaft zu entsprechen und nur so akzeptiert, respektiert und geliebt zu werden.

Unser Selbstbild und unsere Rollen stören den Geist immer wieder dabei, zur Ruhe zu kommen: Wir sind einerseits damit beschäftigt, unser Selbstbild zu bestätigen oder andererseits alles abzuwenden, zu verdrängen, abzuwehren, was diesem Selbstbild widerspricht. Wir brauchen viel Energie, um unser Selbstbild aufrecht zu erhalten und zu verteidigen.

Unser wahres Selbst und damit die unwiderlegbare Wahrheit erkennen wir, so das Yogasutra und andere Texte, nur im Zustand der inneren Freiheit von dem, was wir glauben wer wir sind: Außerhalb der Konditionierungen, Blockaden und Täuschungen. Der Yogaweg führt uns dorthin.


Satya und die vollkommene, höchste Wahrheit

Eine weiterer Aspekt der Täuschung, avidya (YS 2.3 ff), besteht darin, dass wir glauben, die Wahrheit zu kennen. Wir können aber immer nur einen Teil der Wahrheit kennen, weil uns das vollkommene Wissen (trotz aller technischen Möglichkeiten) noch nicht zur Verfügung steht. Wenn wir die Wahrheit nicht kennen, wie können wir dann wahrhaftig sein? Unsere Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit ist immer eine subjektive Wahrhaftigkeit. So können wir mit voller Überzeugung, die Wahrheit zu sagen, die Unwahrheit sprechen- genauso wie alle anderen. Diese Einschränkung muss uns zunächst klar und dann auch integriert werden. Wir müssen uns darum bemühen, möglichst viele Fakten und Umstände zu kennen. Wir werden das vollständige Bild trotzdem nicht sehen. Zur Wahrhaftigkeit gehört die Bereitschaft, für wahr gehaltenes zu überprüfen und die Möglichkeit eines Irrtums zu berücksichtigen. Und wir können mit dieser Einsicht andere Meinungen oder „Wahrheiten“ gelten lassen und müssen weniger kämpfen. Das bringt unseren Geist zur Ruhe.

Satya meint daher, mit welcher Absicht wir sprechen und handeln. Wenn wir dies „mit bestem Wissen und Gewissen“ tun, leben wir im Sinne von satya – auch wenn wir irren.


Satya im Alltag leben- „Ehrlich währt am längsten“ – „Lügen haben kurze Beine“

Wahrhaftigkeit leben wir, wenn wir in Übereinstimmung mit unserer inneren Überzeugung von Wahrheit (Werten) und den daraus entstehenden Bedürfnissen leben. Oder anders ausgedrückt: Wir bleiben uns treu. Sich selbst treu zu bleiben bedeutet Selbst-achtung und sich selbst Würde zu geben. Jede bewusste Unwahrheit ist eine Verletzung der Würde und Glaubwürdigkeit der eigenen und der anderen Person. Satya ist deshalb ahimsa (Gewaltlosigkeit) und ahimsa ist satya.

Wir würden entspannter und glücklicher leben, wenn wir immer im Zustand der Wahrhaftigkeit wären. Wenn es viele gute Argumente für satya gibt, warum sind wir dann immer wieder unehrlich?

Satya kann in Konkurrenz stehen zu unserem Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Anerkennung und Wertschätzung. Satya ist manchmal unangenehm und unbequem, für uns selbst und andere. Kurzfristig kann satya bedeuten, dass Menschen sich zurückziehen, wir von ihnen gemieden, abgelehnt werden, Geringschätzung oder andere Nachteile erleben. Langfristig gewinnen wir innere Stabilität und Ruhe. So ist es in unseren üblichen Alltagssituationen.

Eine bedenkenswerte Frage ist, wie weit wir mit dieser konsequenten Haltung von satya gehen sollen oder können, besonders wenn wir dabei z.B. auch körperlich oder seelisch Schaden nehmen können. Ich denke an Menschen in Organisationen wie Greenpeace, Journalisten/innen, die Mitglieder der „Weißen Rose“ oder Menschen in der früheren DDR, die ihr Leben riskier(t)en. Edward Snowden, dessen Enthüllungen 2013 das Ausmaß der weltweiten Überwachungspraktiken der Geheimdienste die NSA-Affäre auslöste, wusste um die Konsequenzen. Er sprach mit niemanden darüber, um seine Familie zu schützen. Seit 2014 lebt er, mittlerweile mit seiner Partnerin, in Russland im Exil. Obwohl er internationale Auszeichnungen bekommen hat, muss er seinen Aufenthaltsort geheim halten und hat nur ein Bleiberecht. Er hat alles aufgegeben, was einem Menschen wichtig ist- die Heimat, Freunde, Familie, Karriere – für satya. Weitere bekannte Beispiele sind Chelsea Manning oder Julian Assange.Wenn wir uns mit satya beschäftigen, kann das nicht unser Maßstab sein. Es geht bei satya, wie grundsätzlich im Yogasutra, immer ganz konkret um unsere eigene Situation und nicht um theoretische Gedankenspiele. Aber wir können uns fragen, haben diese Menschen eine ungewöhnliche menschliche Stärke oder sind sie Beispiele dafür, wieviel Stärke satya einem Menschen verleihen kann? Vielleicht verleiht satya uns in unserem weniger spektakulären Alltag auch eine Kraft, die wir nicht erahnen?

Die persönliche Frage oder Reflektion lautet: Wenn ich die Wahrheit ausspreche oder im Sinne der Wahrheit handele- bin ich bereit und vor allem in der Lage, die Konsequenzen, die daraus folgen oder folgen könnten, für mich selbst oder was ich anderen damit zumute, zu tragen? Habe ich die innere Kraft dazu? Das ist etwas anderes, als aus Bequemlichkeit die Wahrheit zu meiden.


Das „Wie“ im Yogasutra – „Man sollte dem anderen die Wahrheit wie einen Mantel hinhalten, dass er hineinschlüpfen kann, und sie ihm nicht wie einen nassen Lappen um die Ohren schlagen.“ (Max Frisch)

Wahrhaftigkeit leben wir, wenn unser Agieren und Reagieren im Sprechen und Handeln mit unserer inneren Überzeugung von Wahrheit (Werten) übereinstimmt. Das „wie“ ist genauso wichtig. Dazu gibt das Yogasutra Auskunft. Die Wahrheit sollte gewaltfrei, also ohne die Absicht zu verletzen und möglichst mit Feingefühl, ausgesprochen werden. Weitere Ausführungen dazu im Beitrag „ahimsa„. Es ist hilfreich, die eigenen Motive für das Sprechen und Handeln zu hinterfragen (svadhyaya YS 2.1), die in der Art und Weise mitschwingen. Die innere Haltung der bhāvana (YS 1.30), Liebe, Mitgefühl, Mitfreude, Verständnis/Vergebung sind erforderlich, denn sonst kann die Wahrheit ein scharfes Schwert sein. Besonders wenn Menschen in einer offenen, vertrauensvollen oder verletzbaren Situation sind, z.B. in der Yogagruppe, beim Arzt oder Therapeuten, bei Krankheit, Trennung, Trauer und anderen schwierigen Lebenslagen, muss die Wahrheit auf eine verkraftbare Weise ausgeprochen werden.

Das eine ist, eine „eigene Wahrheit“ zu haben, das andere ist, sie zu verteidigen und durchzusetzen. Fanatiker sind auf ihre Wahrheit fokussiert, halten sie für die einzig richtige und setzen sie ggf. auch mit Gewalt durch. In der Geschichte und in der Gegenwart gibt es zahlreiche Beispiele für Terrorakte, Anschläge und Kriege um der vermeintlichen höchsten und einzigen Wahrheit willen. Natürlich brauchen wir Entschlossenheit, die Wahrheit zu leben. Die Beispiele zeigen, was passiert, wenn wir unsere anderen Werte für diesen einen Wert opfern. Es müssen alle Aspekte stimmen, um inneren und äußeren Frieden zu erleben. Die Wahrheit ist verwoben mit der Gewaltfreiheit, Liebe, Mitgefühl, Verständnis, wenn wir nicht neue Unfreiheit schaffen wollen.


Satya und innere Konflikte „Man muss nicht alles sagen, was wahr ist -aber alles, was man sagt, muss wahr sein“ (Quelle unbekannt)

Manchmal ist es nicht aus egoistischen Motiven schwierig mit der Wahrheit, sondern aus Gründen der Rücksichtnahme, Loyalität oder Höflichkeit.

Rücksichtnahme oder Mitgefühl haben und gleichzeitig ehrlich und authentisch sein, kann in einen inneren Konflikt führen. Denn auch die beste Art und Weise des Übermittelns kann den Schmerz nicht immer verhindern. Man erfährt z.B., dass ein Kollege/eine Kollegin gemobbt oder ein Freund/eine Freundin hintergangen wird. Würde man ihnen davon erzählen, könnten sie sich wehren oder schützen. Gleichzeitig würde die Wahrheit Leid und Schmerz bei ihnen auslösen. Können sie mit der Wahrheit umgehen? Wollen sie die Wahrheit wissen? Welche Folgen hätte es für alle Beteiligten? Oder ist es angebracht, zu schweigen? Widerspricht das Schweigen dann der Wahrhaftigkeit?

Auch Loyalität und Wahrhaftigkeit können im Widerspruch stehen. Im beruflichen Umfeld kann jemand in diese innere „Zwickmühle“ geraten, wenn er/sie ihrem Arbeitgeber gegenüber loyal sein will und es erwartet wird, aber Aufgaben oder Dinge seinem/ihrem Wert von Wahrheit widersprechen. Wie ist es wohl den Mitarbeitern der Autokonzerne ergangen, die wider besseren Wissens die Abgaswerte manipuliert haben? Hatten sie einen inneren Konflikt mit satya? Oder wenn von  Verkäufer*innen oder Berater*innen erwartet wird, eine Statistik zu erfüllen, auch wenn klar ist, dass Kunden/innen übervorteilt werden? Edward Snowden, der bei der CIA arbeitete, hat sich für die Wahrheit und gegen die Loyalität entschieden und persönlich einen hohen Preis bezahlt. Manche Menschen werden krank oder süchtig, weil sie diesen inneren Konflikt nicht lösen können.

Wie verhält man sich, wenn Freunde oder Menschen in der Familie sich verletzend verhalten, anderen Schaden zufügen oder Unrechtes tun? Soll man loyal zu ihnen stehen oder ehrlich sein? Wie löst man einen solchen Konflikt? Möglicherweise führt Ehrlichkeit zu einer ernsthaften Konsequenz für diesen nahestehenden Menschen, zu einer Strafe oder Trennung. Wenn wir nicht ehrlich sind, z.B. indem wir schweigen, kommt jemand anderes zu schaden. Es bedarf in einer solchen Situation einer gründlichen Erforschung der Konsequenzen, aller Umstände, der Berücksichtigung von Gewaltfreiheit, Mitgefühl und Verständnis. Und dann findet sich, mit oder trotz Mitgefühl und Verständnis, wenn notwendig mit Unterstützung durch andere, Experten oder Ratgeber, ein Weg, der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen.

Höflichkeit ist ein ungeschriebenes Gesetz in vielen Kulturen. „Das Gesicht zu wahren“ – das eigene oder das eines/einer Anderen ist  wichtig. Das beginnt mit dem Lächeln, das nicht von Herzen kommt. Dazu gehört auch ein „Guten Tag“, wenn es nicht auch so gemeint ist oder ein „Wie geht es Dir/Ihnen?“, wenn es eine Floskel ist. Wir haben uns so daran gewöhnt, dass wir es nicht einmal mehr merken, wenn wir nicht ehrlich sind. Wieviele Begegnungen im Alltag sind auf diese Art unehrlich? Die Höflichkeit macht das Leben zwar leichter, aber auch oberflächlicher und stellt letztendlich eine Verletzung unserer Würde da. Wir merken sehr genau, ob Freundlichkeit von Herzen kommt und so gemeint ist oder Formsache. Wir tun nur so, als merken wir es nicht. Auch das verletzt.


Ist die „reine Form“ von satya für Menschen im Alltag möglich?

Wenn wir unseren komplexen Alltag mit den vielen Interaktionen komplexen menschlichen Erlebens und den gesellschaftlichen „Spielregeln“ betrachten, ist satya jeden Tag eine neue Aufgabe. Je mehr und öfter es uns gelingt, aus dieser inneren Haltung zu handeln, desto friedlicher wird es in uns, werden unsere Beziehungen und wird unsere menschliche Gemeinschaft. Wir stärken das notwendige Vertrauen, die Glaubwürdigkeit, die Würde und den Respekt auf eine ganz praktische Art.

Satya in Reinform setzt ein hohes Maß an Bewusstsein und Entwicklung voraus. Je weiter wir unser Bewusstsein entwickeln, desto klarer wird der Umgang damit. Je mehr wir innerlich in uns aufgeräumt haben, desto weniger innere Konflikte gibt es innerhalb unserer Werte. Unser Umgang mit satya ist ein Spiegel für unseren momentanen Zustand und zeigt uns, wo wir stehen. Damit ehrlich umzugehen ist ein weiterer Schritt in Richtung Wahrhaftigkeit und Authentizität- und damit in Richtung von Ruhe im Geist (YS 1.2) und dem Zustand unserer innersten Wahrheit (YS 1.3). Es ist ein Weg. Es ist ein Prozess.


Die Geschichte von den drei Sieben des Sokrates

Einst wandelte Sokrates durch die Straßen von Athen. Da kam ein Mann auf ihn zugerannt und war voller Aufregung: „Sokrates, hast du gehört, was dein Freund getan hat? Das muss ich dir gleich erzählen.“ – „Moment mal“, unterbrach ihn der Weise. „hast du das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe gesiebt?“ – „Drei Siebe?“ fragte der Andere voller Verwunderung. – „Ja, mein Lieber, drei Siebe. Lass sehen, ob das, was du mir zu sagen hast, durch die drei Siebe hindurchgeht.“

Wahrheit – „Das erste Sieb ist die Wahrheit. Hast du alles, was du mir erzählen willst, geprüft, ob es wahr ist?“ – „Nein, ich hörte es irgendwo und . . .“

Güte – „So, so! Aber sicher hast du es mit dem zweiten Sieb geprüft. Es ist das Sieb der Güte. Ist das, was du mir erzählen willst – wenn es schon nicht als wahr erwiesen ist -, so doch wenigstens gut?“ – Zögernd sagte der andere: „Nein, das nicht, im Gegenteil …“

Notwendigkeit – „Aha!“ unterbrach Sokrates. „So lass uns auch das dritte Sieb noch anwenden und lass uns fragen, ob es notwendig ist, mir das zu erzählen, was dich erregt?“ – „Notwendig nun gerade nicht …“

„Also“, lächelte der Weise, „wenn das, was du mir da erzählen willst, weder erwiesenermaßen wahr, noch gut, noch notwendig ist, so lass es begraben sein und belaste dich und mich nicht damit!“