Das Ergebnis von Yoga ist die völlige innere Freiheit. Sie ist unabhängig von den äußeren Umständen. Selbst jemand, der eingesperrt ist, kann diese völlige innere Freiheit erfahren. Der buddhistische Lehrer Thich Nhat Hanh hat dies in einem kleinen Buch „Frei sein wo immer du bist“ beschrieben. Andererseits kann jemand, der äußerlich völlig frei ist und tun kann, was immer er/sie möchte, innerlich gefangen sein.
Der Zustand der absoluten inneren Freiheit heißt im Yogasutra (3.10) „prasanta vahita citta“ (gesprochen: praschanta vahita tschitta): Der innere Zustand mit einem tiefen stillen/friedlichen, fließenden Geist führt zur inneren Freiheit.
Die gute Nachricht: Grundsätzlich ist dieser innere Zustand, das Yogasutra verwendet dafür auch den Begriff samadhi, immer da. Unser Geist hat die angeborene Fähigkeit, still, friedlich und fließend – oder präsent – zu sein. Weder erwerben wir eine neue Fähigkeit noch müssen wir etwas lernen, um frei zu sein.
Die Frage ist: Was hält uns davon ab, im inneren Zustand von prasanta vahita citta zu sein und wie kommen wir dahin? Der Kommentator des Yogasutra – Vyasa – hat es folgendermaßen beschrieben:
Der erste Schritt:
Wir erkennen den Zustand von vyutthita citta. Das ist der gestörte, unorganisierte Geist. Er kann entweder im Zustand von ksipta oder mudha sein.
Ksipta (gesprochen: kschipta): In diesem Zustand ist der Geist sehr unruhig, ungeduldig, sprunghaft. Die Aufmerksamkeitsspanne ist kurz, die Konzentrationsfähigkeit ist eingeschränkt. Als Folge sind wir in Eile, planen schon das Übernächste, wollen alles schnell erledigen, schnell beenden, können nicht richtig zuhören, weil wir zu ungeduldig sind. Auch auf der Yogamatte wollen wir schnell sein, sind ungeduldig und planen, was wir danach machen wollen.
Hier ist es wichtig herauszufinden, woher diese Unruhe kommt (z.B. mithilfe von Meditation) und wie wir damit umgehen können (z.B. Yogaübungen, den Atem oder Änderungen im Alltag). Denn in diesem Zustand ist eine innere Veränderung nicht möglich. Die Ursache kann in alten Gewohnheiten, Erinnerungen und Erfahrungen (samskara) liegen. Sie beeinflussen den inneren Zustand. Gleichzeitig erzeugen wir in dem Zustand des unruhigen, unorganisierten Geistes wieder neue ungünstige Prägungen.
Mudha: In diesem Zustand ist der Geist dumpf, schwer, gefangen in Gefühlen und Leidenschaften z.B. Frust, Neid, Leid. Er wird davon hinweggetragen, es gibt kein Zentrum. Er dreht sich immer um dasselbe, ist gefangen in etwas und es gibt keine Bewegung. In diesem Zustand ist der Geist nicht aufnahmefähig und nicht offen für einen Kontakt. Ein solcher Mensch hört nicht zu. Die Konzentration fällt schwer. Auch auf der Yogamatte fällt die Konzentration schwer.
Diese beiden Zustände kommen manchmal vor, z.B. auch in einer emotionalen Krise, wie z.B. Tod, Trennung, Arbeitsplatzverlust. Sie sind glücklicherweise (normalerweise) nicht von Dauer.
Der zweite Schritt:
Viksipta (gesprochen:wi-kschipta): Das ist der bei vielen Menschen in der Regel vorhandene innere Zustand. Die Aufmerksamkeitsspanne dehnt sich aus, es ist möglich, sich für eine bestimmte Zeit zu konzentrieren. Es ist aber noch nicht möglich, sich lange zu konzentrieren und der Geist läßt sich schnell ablenken. Die Gefühle von Unruhe, Zerstreutheit, Dumpfheit oder Trägheit kommen zwar auch vor, sie sind aber beherrschbar und es ist möglich, mit ihnen umzugehen. Die Aufmerksamkeit reicht aus, um im Alltag zu handeln und zu entscheiden. Dieser Zustand reicht nicht aus, um in einen freien inneren Zustand von samadhi zu gelangen. Die Konditionierungen und Prägungen werden immer wieder aktiv und steuern die Aufmerksamkeit.
Der dritte Schritt:
Ekagra : Von dem zerstreuten, unorganisierten Zustand muss der Geist die Fähigkeit entwickeln, die Aufmerksamkeit auf einen Punkt, ein Thema auszurichten und dabei zu bleiben, ohne sich schnell wieder ablenken zu lassen. In diesem Zustand kann die Konzentration lange auf ein Thema ausgerichtet sein, z.B. den Atem oder den jeweiligen Moment. Der Geist ist frei von alten Gedanken und Mustern. In dieser inneren Stille sind neue Erkenntnisse möglich.
Der vierte Schritt:
Samahita: Die Aufmerksamkeit ist ungestört. Der Geist ist nicht mehr zertreut, sondern gesammelt. Die Aufmerksamkeit kann gezielt und bewusst ausgerichtet werden und zwar wohin, wie und wie lange es gewünscht ist. Gleichzeitig ist es weiterhin möglich, alles zu erfassen und zu handeln. Es sind noch Gedanken da, aber sie stören nicht mehr die Konzentrationsfähigkeit, sie sind nicht mehr die „Herrscher“, sondern die Werkzeuge. Das ist jedoch nicht willentlich möglich. Man kann es sich nicht vornehmen. Vielmehr ist der Geist aus sich heraus fähig, ruhig und konzentriert zu sein. Diese Fähigkeit wird auf dem Yogaweg buchstäblich ent-wickelt, indem dasjenige in das wir vorher ver-wickelt waren, aufgelöst wird.
Der fünfte Schritt:
prasanta vahita citta: Der Geist ist völlig frei von allem. Die Gedanken sind vollkommen still. Der innere Zustand ist friedlich, ruhig (prasanta). Es gibt keine Ablenkung mehr. Die alten samskara (Erfahrungen), karma (Handlungen) und klesa (Störungen im Geist) wirken nicht mehr. Der Geist ist jeden Moment im Hier und Jetzt und kann ohne die Störung durch alte Gedanken alles wahrnehmen. Er fließt von Moment zu Moment (vahita).
Diese Schritte werden im Yogasutra als parinama/Transformation bezeichnet: Die innere Transformation von einem 1.gestörten, unorganisierten zu einem 2.zerstreuten, 3.gesammelten,4.ungestörten und schließlich 5.zu einem vollkommen ruhigen und freien Geist.
Es ist die innere Transformation von einem Zustand der inneren Unfreiheit und des Leids zu einer vollen inneren Freiheit, Stille und Harmonie. Die konkreten Mittel und Werkzeuge für diese Transformation finden wir im Yoga und Yogasutra.