Den 2. Lockdown erleben wir anders als im Frühjahr: Damals wussten wir nichts über die Verbreitung und die Gefährlichkeit des Virus. Wir sind möglichst zu Hause geblieben, haben nur die im Alltag notwendigsten Einkaufsgänge mit Mund-Nasenschutz und Einmalhandschuhen getätigt, die Hände desinfiziert, vielleicht auch die Einkäufe abgewischt oder gewaschen, weil wir nicht wussten, ob sich das Virus über Hautkontakt überträgt. Wir waren im Schockzustand aufgrund der Bilder und Nachrichten aus dem Ausland und weil von einem „Killervirus“ gesprochen wurde. Die Ziele waren, die Kurve der Infektionen abzuflachen und den R-Faktor zu senken. Mit Erreichen der Ziele wurde der Lockdown schrittweise aufgehoben.
Jetzt- mehr als ein halbes Jahr später- wissen wir vieles noch nicht, aber doch schon mehr. Es gibt Studien, die darauf hinweisen, dass sich das Virus wahrscheinlich nicht über Flächen überträgt, so dass das RKI das Desinfizieren aus dem Maßnahmenkatalog heraus genommen hat. Wir sind – notgedrungen- Teil eines großen Experiments, um herauszufinden, wie genau es sich über die Atemwege überträgt und welche unterschiedlichen Auswirkungen es haben kann.
Zu der Angst vor dem Virus hat sich für viele die Angst vor den wirtschaftlichen Folgen gesellt. So sind verschiedene Branchen mit ihrer Angst auf die Straße gegangen. Eine dritte Angst, die auch immer mehr Menschen auf die Straße treibt, ist die Angst, dauerhaft menschliche Grundrechte und die Freiheit, z.B. zu reisen oder die Berufsfreiheit, zu verlieren.
Angst ist irrational und macht den Kontakt und eine sachliche und offene Kommunikation schwierig. Eigentlich haben wir alle einfach Angst-letztendlich vor dem Tod: Tod durch Virus, Tod durch Verhungern, Tod durch Maßnahmen einer Diktatur, Tod durch Zwangsimpfung.
Dr. Daniele Ganser beschreibt in seinem Vortrag „Corona und die Angst“ das ganze Dilemma auf eine empathische Weise. Wenn wir erkennen, dass wir alle unter demselben Phänomen leiden- der Existenzangst- und es nur unterschiedliche Ausdrucksformen sind, können wir den Anderen ernst nehmen mit seinem Ausdruck von Angst und müssen ihn nicht als Bedrohung empfinden. Denn wenn wir an diesem Punkt nicht aufmerksam sind, kann es uns passieren, dass eines Tages das Virus weg ist-und unsere langjährigen, wertvollen Freundschaften und Beziehungen und unser gesellschaftliches Miteinander auch! Wollen wir, dass unsere Freundschaften und Beziehungen, die uns wichtig sind, NICHT an/mit diesem/durch dieses Virus sterben?
Wie wir merken können, wird auch das gesamtgesellschaftliche Klima noch rauher. Wenn ein kleines Kind von einem Erwachsenen unsanft weggestoßen wird, weil es dicht an ihm vorbeiläuft, ist zu erkennen, wie weit diese irrationale Angst schon fortgeschritten ist. Noch sind es Einzelfälle, aber Mitarbeiter*innen in Restaurants und Cafés und anderen Serviceberufen haben agressives Verhalten in den letzten Wochen fast täglich erleben müssen. Weitere Fälle kamen in die Presse.
„Der Mensch wird am Du zum Ich“ (Martin Buber)
Yoga bietet hier eine Möglichkeit, wie wir uns schützen können und unsere mitmenschlichen Werte erhalten. Im YS 1.33 werden die bhavana, wie sie in Sanskrit heißen, aufgezählt. In unserer Sprache trifft der Begriff „soziale Kompetenzen“ den Sinn, sie werden auch mit dem Begriff Herzens-oder Gefühlsqualitäten übersetzt:
1.Maitri- die bedingungslose Liebe, wie z.B. in der Qualität zwischen Eltern und Kindern
Das Herz ist offen, unvoreingenommen und wir sind mit dem anderen verbunden. Man kann nicht gleichzeitig ängstlich und liebevoll sein. Die Liebe schützt uns vor der irrationalen Angst und vor diffuser Aggression. Wenn wir also in einem liebevollen inneren Zustand sind, nehmen wir wahr, dass der Mensch mehr ist als das Gesicht hinter der Maske und dass er keine Bedrohung ist.
Die Masken erinnern uns immer unbewusst daran, dass wir uns schützen müssen. Wir müssen uns nur schützen, wenn wir in Gefahr sind und das wiederum aktiviert unser Stammhirn, das reflexartig mit Kampf (Wut/Aggression) oder Flucht reagiert. Diesen Reflex können wir stoppen, wenn wir auf die Ebene von maitri gehen.
Die aktuelle Situation ist eine Übungssituation für maitri-jeden Tag.
2.Karuna– das Mitgefühl
Es entsteht aus maitri, dem Zustand der bedingungslosen Liebe.
Wenn wir den anderen Menschen wirklich wahrnehmen, können wir auch seine Ängste sehen. Wir haben Mitgefühl, weil wir auch Angst kennen und wissen, wie es sich anfühlt. Wir können mit karuna verständnisvoll und damit deeskalierend sprechen und handeln. Wenn der andere Mensch sich ernst genommen fühlt, ist es leichter in ein Gespräch zu kommen. Auf jeden Fall vermeiden wir damit, „Öl ins Feuer zu gießen“. Wir sind mit karuna davor geschützt, die Gefühle des anderen zu übernehmen und selbst in die Angst zu gehen. Wir können klar bleiben.
3.Mudita
Mitfreude mit der anderen Person, die sich freut. Freude kann ansteckend sein-im positiven Sinn. Mit offenem Herzen und angstfrei können wir die Freude eines anderen Menschen teilen, der gerade etwas Positives erlebt hat. Der andere Mensch macht uns das Geschenk, Freude spüren zu können.
4.Upekşa
Einmal ist es die Fähigkeit des Vergebens und Verzeihens, dann auch die Fähigkeit zur Toleranz, großzügig über vermeintliches Fehlverhalten hinwegzusehen bzw. es nicht von vornherein abzulehnen und abzuwerten. Auch sie entsteht aus einem offenen Herzen. Denn ein offenes Herz öffnet auch unseren Geist und wir können eine andere Einsicht finden.
Wenn wir nachempfinden, welche Ängste gerade die Menschen beschäftigen und welche Auswirkungen sie haben, müssen wir in der Haltung von upeksa nicht jede Reaktion persönlich nehmen. Wir können erkennen, dass das Nervensystem dieses Menschen gerade überfordert ist. Wir können das akzeptieren- soweit wir uns nicht schützen müssen-und diesem Menschen vielleicht durch Geduld und Zuhören im Zustand von maitri, karuna und upeksa vermitteln, dass er nicht allein damit ist.
Upeksa, ebenso wie die anderen bhavana, entspannt uns und alle, mit denen wir in Kontakt kommen. Die bhavana schützen uns und die Gesellschaft vor enormen Schäden. Sie helfen uns, emotional unbeschadet durch diesen Lockdown und auch die Zeit danach kommen zu können. Es ist nicht leicht und bedarf der täglichen Übung, der Psycho-Hygiene, um uns immer wieder darauf auszurichten. Aber welche Alternative haben wir? „Meister*innen werden in der Krise gemacht“- das gilt auch auch für Yogameister*innen.
Eine weitere wichtige Wirkung der bhavana ist, dass wir uns nicht allein und getrennt fühlen, sondern verbunden mit den anderen Menschen, die mit uns „im Boot“ sitzen. Wir sind als Menschen soziale Wesen und brauchen „die Herde“. Dann fühlen wir uns sicherer. Dieses Gefühl von Sicherheit ist ein Heilmittel gegen die Angst, wie immer sie sich äußert.
Die bhavana tragen auch zu einem guten Immunsystem bei. Angst und Wut versetzen den Körper in eine Stresssituation von Kampf oder Flucht: Über Hormone werden der Blutdruck erhöht und der Atem beschleunigt, um Sauerstoff in die Muskeln zu bringen. Eiweiß in den Muskeln wird abgebaut und Zucker wird abgebaut. Muskeln brauchen für Kampf/Flucht Sauerstoff, Eiweiß und Glukose. Die gesamte Muskulatur ist angespannt. Gleichzeitig werden energiezehrende, nicht notwendige Prozesse wie Verdauung und Immunsystem, reduziert. Langandauernder Stress bringt den Körper deshalb in ein Ungleichgewicht, was zu den bekannten Stresskrankheiten führt einschließlich der Schwächung des Immunsystems. Vielleicht ist die Erfahrung bekannt: Man hat eine Stressphase (Prüfung, Projekt, Pflegefall) und der Körper funktioniert. Danach aber bekommt man einen Infekt. Das Immunsystem des Körpers ist dann nicht mehr in der Lage, eigentlich harmlose Viren oder Bakterien abzuwehren. Es ist also wichtig, sich gerade jetzt um den inneren Stress zu kümmern.
Neben den bhavana ist das Konzept von viveka hilfreich. Viveka bedeutet Unterscheidungsfähigkeit. Dazu müssen wir in einem klaren inneren Zustand sein wie es in den bhavana der Fall ist. Man kann sich z.B. Fragen wie diese stellen: Wie real ist meine Angst JETZT? Was kann ich tun? Was ist immer noch gut in meinem Leben in dieser Situation? Man kann sich auch um sachliche Informationsquellen bemühen, denn Wissen schafft Sicherheit. Als Beispiel hier ein Beitrag zum Thema Covid19 von ARTE.
Unter den Aspekten von bhavana und viveka soll hier die derzeitige Empfehlung, alle unnötigen Aktivitäten und Kontakte zu unterlassen, betrachtet werden. Die entscheidende Frage ist: Wer definiert, was unnötig ist? Kann man das überhaupt für alle pauschal bestimmen?
Um physisch zu existieren, müssen wir alle paar Sekunden atmen, alle paar Stunden trinken, alle paar Stunden schlafen und alle paar Tage essen. Also reicht es aus, wenn atmen, trinken, schlafen und essen sichergestellt sind? Das gilt aber auch für alle Tiere. Ist aber eine tierische Existenz mit einem menschlichen Leben gleichzusetzen? Was brauchen wir nicht nur für eine bloße Existenz, sondern für ein menschengerechtes Leben? In einem lange zurückliegendem Experiment mit Säuglingen hat man das herausfinden wollen und leider auch herausgefunden. Einige dieser Kinder, die nur auf diesem existenziellen Niveau versorgt wurden, aber ohne Zuwendung und Ansprache waren, sind gestorben. Was sagt uns das in unserer heutigen Situation? Man kann hinterfragen, ob jedes oberflächliche Vergnügen und auch in der dagewesenen Fülle, in einem Überfluss jetzt nötig ist. Aber auch- oder gerade jetzt- brauchen wir nährende, stärkende Erfahrungen und merken, dass ein Restaurantbesuch vielleicht mehr ist, als dass er nur den Bauch glücklich macht, dass Film, Theater oder Musik uns auf eine andere Weise nähren. Und als Menschen nähren wir uns gegenseitig im Kontakt. Ob bewusst oder unbewusst entwickeln wir uns gegenseitig, wachsen wir aneinander und geben uns Sicherheit und Zuversicht. Wie können wir in der jetzigen Situation ohne Schaden damit umgehen? Und wie lange? Da jeder Mensch andere Bedürfnisse hat, kann es nur individuelle Antworten geben.
Die Folgen von Isolation wurde anhand von Astronauten und Polarforschern untersucht und in diesem Bericht sowie in Bezug auf Senioren in der Neue Zürcher Zeitung (NZZ) aufgezeigt. Der Begriff Isolation beginnt bereits außerhalb der gängigen Vorstellung von Alleinsein und Einsamkeit. Und die Folgen sind nicht nur für Senioren maßgebend.
Teilweise wird das gesundheitliche Verhalten mit einem moralischen Verhalten verknüpft. Es wird mit der Schuld am Leid anderer argumentiert, wenn er/sie das Virus weiterträgt. Dazu muss man wissen, dass Schuld und Scham am tiefsten in unser System wirken-und damit auch in unsere Gesundheit.
Sich selbst oder jemanden anderem Schuld zu geben an der Erkrankung verbietet sich. Es verstößt gegen einen anderen Grundsatz im Yoga- der Gewaltfreiheit (ahimsa). Es ist allgemein bekannt, dass Schuld-und Schamzuweisungen Menschen am tiefsten verletzen und als unfaire Mittel der Macht und Manipulation gelten. Dessen sollten wir uns bewusst sein, wenn wir so denken und sprechen. Niemand trägt eine Schuld am Leid eines anderen Menschen, es sei denn, er hat es böswillig herbeigeführt. Das Virus ist unterwegs und wer, wann, ob und wie schwer infiziert wird, hängt von so vielen Faktoren ab, dass man niemandem mit Sicherheit eine moralische Schuld unterstellen kann.
Wenn schon bei Erwachsenen Schuldzuweisung und Scham eine tiefgreifende Verletzung verursachen, dann ist es bei ungeschützten Kinderseelen umso schwerwiegender. Das Gefühl an einer Krankheit der Eltern, Großeltern, Geschwister oder Freunde schuld zu sein, kann keine Kinderseele tragen. Wir sollten deshalb grundsätzlich, aber besonders bei Kindern, vehement eingreifen, wenn wir hören, dass jemand so etwas sagt oder wenn ein Kind selbst so etwas sagt. Das zeigt, es hat es schon übernommen. Das gilt unabhängig von der aktuellen Situation.
Nicht mit ahimsa vereinbar ist selbstverständlich das Melden vermeintlicher Verstöße gegen Maßnahmen. Denunzieren steht von Natur aus im Gegensatz zu ahimsa, denn es ist immer verletzend und schädigend.
Ich wünsche uns allen, dass wir mit Hilfe der bhavanas und viveka jeden Tag aufs Neue eine gewaltlose Form finden, unser Boot gemeinsam gut durch diese Zeit zu navigieren. Denn eines ist im Yoga auch ganz klar: Für das eigene Wohlbefinden ist jede*r selbst verantwortlich- das nimmt uns kein* Politiker*in, kein Gesetz und keine Maßnahme ab. Die Eigenverantwortung kann nicht abgegeben werden.
Durch die Vernetzung weben wir alle mit am globalen Klima- wie wir wissen. Das ist beim zwischenmenschlichen globalen Klima genauso. Die Yogapraxis von bhavana und viveka ist von großem Wert, nicht nur aktuell, aber besonders jetzt.
Als „Nachtrag“ noch ein Beitrag „Was hat Corona aus mir gemacht?“ des Philosophen Gunnar Kaiser