Mythos Sonnengruß – surya namaskar

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  1. Der Sonnengruß in der heutigen Yogapraxis

Der Sonnengruß ist eine Abfolge von auch einzeln bekannten asana. In einigen Yogastilen ist diese Abfolge fester Bestandteil der Yogapraxis, in anderen nicht. Wenn er fester Bestandteil ist, dient er als Aufwärmen für die Yogapraxis. Das Aufwärmen ist in diesen meist körperlich fordernden Stilen durchaus sinnvoll. Ob der Sonnengruß dazu wirklich geeignet ist, hängt von der Konstitution und der Erfahrung der Person ab. Der Sonnengruß enthält nämlich an sich schon anspruchsvolle Haltungen, die ihrerseits einer Vorbereitung bedürfen können. Deshalb sollte jeweils genau geschaut werden, ob der Sonnengruß für die jeweilige Person passt. Mal davon abgesehen, sollte eine Yogapraxis so aufgebaut sein, dass es kein Aufwärmen braucht. Eine Übung bereitet jeweils die nächsten vor.

Es gibt nicht DEN einen Sonnengruß, sondern verschiedene Varianten je nach Yogastil. Im Internet findet man auch Anleitungen zu Sonnengrüßen für Anfänger, die bei gesunden Menschen kein Risiko enthalten. Unter dem folgenden Link wird explizit auf die richtige Ausführung und auf Fehler hingewiesen, die man vermeiden sollte, um sich nicht zu schaden: https://www.yogabasics.de/13561/yoga-sonnengruss-anleitung-fuer-yoga-anfaenger/#1

Manchmal findet man den Sonnengruß als Empfehlung für ein workout. Wer Yoga immer noch als workout begreift, sollte besser in ein Fitness-Studio gehen.

2. Die Geschichte des Sonnengrußes

Der Sonnengruß wird gern als „klassische“ Yogaübung bezeichnet, wobei der Begriff „klassisch“ nicht definiert wird. Vielleicht will man damit die sportlichen, gymnastischen Bewegungen aufwerten oder als Yogapraxis legitimieren. Vielleicht will man damit ausdrücken, dass der Sonnengruß schon tausende Jahre alt ist. Man findet in den traditionellen alten Texten aber erst im 19.Jh. einen Hinweis auf den Sonnengruß.

Tatsächlich wurde der Sonnengruß in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts populär. Er ist also im Vergleich zum schätzungsweise 4000 Jahre alten Yoga gerade mal 100 Jahre „jung“. Das ändert nichts am Wert und Nutzen des Sonnengrußes, zu dem wir noch kommen werden, aber muss diese Übung in dieser Form verfälscht werden? Ich habe im Internet nicht eine Seite gefunden- mit Ausnahme von wikipedia- die darauf hinweist. Vielmehr wird die vermeintlich alte Tradition erzählt. ( Für YogakennerInnen: Der Grund ist entweder avidya oder vielleicht auch ein Mangel an satya).

In den 1920ern entwickelte der indische Gelehrte und Yogalehrer der Familie des Maharadschas von Mysore, T.K.V. Krishnamacharya, aus alten Übungen indischer Kämpfer eine Serie, die er um einige Positionen zum später bekannten Sonnengruß ergänzte. Manche Quellen nennen die gymnastischen Übungen der Engländer als Vorbilder, die seinerzeit als modern galten. Seine Schüler waren damals Kinder und Jugendliche, die beweglich waren und Bewegung und Herausforderung brauchten. Zudem galt alles „Indische“ und somit auch Yoga als überholt. Die englische Gymnastik galt als chic. Um Yoga wieder populär zu machen, waren die Übungen also gut geeignet. Krishnamacharya gilt als „Vater des modernen Yoga.“
Seine Schüler Pattabhi Jois (astanga vinyasa yoga) und B.K.S. Iyengar (Iyengar-Yoga) brachten dann die asana-Folge als „Sonnengruß“ in die westliche Welt.

3. Wie kam es zu dem Mythos Sonnengruß?

Folgende Zitate stammen aus den Rigveda, alten Weisheitstexten, vermutlich ca. 1500 v. Chr.:
„Hoch oben dieser allweise leuchtende Gott,
seine Lichtstrahlen weisen den Weg,
damit jeder die Sonne sehen kann.

O Sonne, du ziehst über die Weite des Himmels,
mit Strahlen die Tage begrüßend,
und du siehst die Generationen vorüberziehen.“

„Die Tilgerin der Schwachheit,
Heilerin aller Krankheit,
Herrin über alles, das geht und steht.
Sie erschlägt die Dämonen
und behütet die Verehrer.“

„Wir meditieren in der anbetungswürdigen Herrlichkeit der strahlenden Sonne. Möge sie unseren Geist erleuchten.“
(Quelle: Surya Namaskara Visualisierung durch den Gruß an die Sonne, Swami Satyananda Saraswati, Ananda Verlag, Köln, 2.Auflage 2006, S. 5)

In der indischen Kultur gibt es wie in vielen anderen, z.B. in der ägyptischen, der Maya oder unserer germanischen Kultur eine Verehrung der Sonne. Die Bedeutung der Sonne für die Menschen und alle Natur erlebten die Menschen hautnah. Ist es nicht auch ein Wunder, dass die Sonne die Erde seit 4,6 Milliarden Jahren mit lebenswichtiger Energie versorgt und dies nach derzeitigem Wissenstand noch weitere 7,7 Milliarden Jahre* tun wird bevor sie erkaltet? Und ist es nicht ebenfalls ein Wunder, dass die Erde sich seit Milliarden Jahren im exakt gleichen Abstand um die Sonne dreht, so dass das Leben auf der Erde nicht verglüht und gleichzeitig genug Licht und Wärme für Leben ankommt? Das konnten die Menschen in den frühen Zeiten der Veden (ab ca. 1200 v.Chr.), auf die der Sonnengruß zurück geführt wird, nicht wissen. Sie gaben diesen Naturphänomenen den Status von Göttern. Götter kann man anbeten, bitten, verehren, versuchen sie durch Opfer und Rituale gnädig zu stimmen und ihnen sowohl menschliche als auch übernatürliche Kräfte zuschreiben. Die Menschen hatten damit eine Erklärung und fühlten sich möglicherweise den Naturgewalten nicht mehr so ausgeliefert und hilflos. In dieser Zeit sind Rituale und Gebete (Mantren) entstanden, die dem damaligen Menschen-und Weltbild entsprachen und diesem Zweck dienten. Es gibt aber keinen Bezug zum Yoga. Sie gehören zum Hinduismus. Ein bekanntes Mantra für die Sonne ist das gayatrimantra.

Es gibt keinen Hatha Yoga Text, der den Sonnengruß erwähnt. Die Vertreter des „klassischen“ Sonnengrußes beziehen sich auf die alten vedischen Texte. Sie sind als Inder mit dem Hinduismus vertraut und viele von ihnen gläubige Hindus. So heißt es bei astangayoga, dass jede Praxis mit diesem “ Gruß an den Gott der Sonne“ beginnt. Im Sivananda-Yoga wird jede der 12 Haltungen mit einem Mantra an eine andere Eigenschaft des Sonnengottes ausgeführt, weil es in den Veden 12 verschiedene Begriffe für Sonne gibt, „surya“ ist einer davon. Für Sivananda war der Sonnengruß ein Heilmittel durch Sonnenlicht.
Ein anderer Aspekt ist, mit dem Sonnengruß die „innere Sonne“ im Bereich des Solar- (wie der Name schon sagt)Plexus zu grüßen. Dies hängt wiederum mit dem damaligen Menschenbild und Körperwissen zusammen, dass „mechanischer Natur“ war. Daraus kann man eine Verbindung zum Yoga herleiten, in dem davon ausgegangen wird, dass wir eine innere Essenz oder eine innere Instanz jenseits unseres Ego haben. Die innere Instanz wird im Yogasutra nicht einer bestimmten Körperregion zugeordnet. Mit dem Sonnengruß kann man den Geist jedoch dort fokussieren, sich der inneren Sonne, des inneren Lichts erinnern. Das ist eine mögliche Ausrichtung im Sonnengruß.

Immer wieder wird mit dem Sonnengruß die Zahl „108“ verbunden. Sie wird als „heilige“ Zahl bezeichnet- was immer das dann auch für magische Auswirkungen haben soll, wird nicht gesagt. Scheinbar reicht es schon, dass sie heilig sein soll. Diese Zahl ist eine besondere Zahl für Hinduisten, Jainisten und Buddhisten. Für sie haben 108 Runden Sonnengruß möglicherweise eine religiöse Bedeutung. Die Zahl taucht im Yogasutra und in anderen Texten nicht auf. Wer den Sonnengruß kennt, weiß was 108 Runden bedeuten – wenn man sie überhaupt am Stück schafft. Außerhalb des religiösen Kontexts spielt die Zahl keine Rolle.

* aus: Hoffnung Mensch von Michael Schmidt-Salomon, Piper Verlag München 2014, S. 16ff

4.„Risiken und Nebenwirkungen“ des Sonnengrußes?

Der Sonnengruß ist mit seinen 8-12 Haltungen eine sportliche und geistige Angelegenheit.

Zuerst die (Neben-)Wirkungen, soweit sie beobachtbar und unstrittig sind:
Der Sonnengruß fördert Kraft, Beweglichkeit, Dehnung, Koordination von Muskeln und Atem, Flexibilität des Kreislaufes, Gleichgewicht, Knochenbildung und Konzentration:

  • Viele Körperbereiche werden angesprochen und der Körper insgesamt gut durchblutet, gekräftigt und entspannt, was der Gesundheit zuträglich ist und nach derzeitigem Wissen das Immunsystem stärkt
  • Die Koordination und das Gleichgewicht werden gestärkt mit einer insgesamt gesünderen Körperhaltung, besserem Körperbewusstsein und gesünderen Bewegungsabläufen
  • Der Ablauf erfordert Konzentration hinsichtlich der Reihenfolge, der jeweils „richtigen“ Ausführung der einzelnen Haltung und der „richtigen“ Atmung. Der Geist richtet sich auf den Sonnengruß aus und schweift nicht mehr so leicht ab wie in einer Meditation. Nach dem Sonnengruß ist es für manche leichter, sich zu entspannen und zu meditieren. Nachteil: Wenn der Geist unruhig bleibt, die Bewegungen „mechanisch“, also unbewusst und ungenau ausgeführt werden, kann man sich schaden
  • Die wiederkehrenden Ebenenwechsel vom Stand in die Vorbeuge, in die Aufrichtung oder Umkehrhaltung fordert den Kreislauf und kann ihn flexibler machen
  • Er stimuliert das Nervensystem in den Muskeln und im Zusammenspiel (intra-und intermuskulär)
  • Als weitere Vorteile werden Gewichtsabnahme und eine Zunahme der geistigen Fähigkeiten genannt a) das Ziel von Yoga kann nicht allein das Abnehmen sein -im Gegenteil, das würde das Ego stärken und ein paar Sonnengrüße allein werden nicht zum Erfolg führen b) es gibt viele Möglichkeiten die geistigen Fähigkeiten zu fördern. Wie hat mal jemand geschrieben: Wenn man den Geist trainieren will, hilft es nicht, sich auf den Kopf zu stellen, sondern ihn zu benutzen

Die Risiken:

  • Die verschiedenen Haltungen im Sonnengruß sind keine anderen asana, als sie auch einzeln im Yoga geübt werden. Sie stellen jeweils besondere Anforderungen an unterschiedliche Körperbereiche. Wenn diese Anforderungen nicht zu erfüllen sind, aber der Sonnengruß wiederholt ausgeführt wird, kann man sich schaden
  • Die jeweiligen Haltungen und ihre gesunde Ausführung muss bekannt und möglich sein, um den Ablauf flüssig ausführen zu können
  • Am Beginn einer Stunde oder als Aufwärmübung wegen der Anforderungen nicht für alle Menschen geeignet
  • Der rasche Wechsel ist für den Kreislauf herausfordernd. Wenn der Kreislauf gestört ist, z.B. Bluthochdruck, auch wenn er eingestellt ist oder das Kreislaufsystem sich nicht schnell genug anpassen kann, kann es zu gesundheitlichen Problemen führen
  • Die Umkehrhaltungen sind bei erhöhtem Augeninnendruck kontraindiziert
  • Der Atemrhythmus muss sich anpassen können und zu den Übungen passen, was in einer Gruppe mit unterschiedlichen „Atemtypen“ mit einer Ansage nicht möglich ist. Ein gestörter Atem ist ebenfalls gesundheitschädlich
  • Die Konzentrationsfähigkeit muss soweit vorhanden sein, dass das Geschehen wahrgenommen wird und mögliche „falsche“ Bewegungen vermieden werden.

Um die Wirkungen des Sonnengrußes zu genießen, sollte man

  • die passende Variante wählen
  • zunächst die einzelnen Haltungen dahingehend gut kennen, was möglich ist und wo man aufpassen muss und gegebenenfalls den Ablauf anpassen
  • den Körper vorbereiten

Ich wünsche Ihnen ein Leben auf der Sonnenseite!