Auch nach dem längsten Sommer kommen unweigerlich Herbst und Winter. Das Leben verlagert sich wieder mehr von draußen nach drinnen, in die „warme Stube“. Der Rückzug in die eigenen vier Wände reduziert die äußeren Reize. Wenn wir diese jetzt nicht durch Fernsehen und Internet ersetzen, entstehen freie Zeiträume, um auch innerlich zur Ruhe zu kommen.
Der Rückzug der Sinne heißt im Yogasutra pratyahara. Pratyahara ist das fünfte Glied von acht des Yogaweges, wie er im Yogasutra von Patanjali beschrieben wird (YS 2.29). Es ist die Fähigkeit, die Sinne nach innen zu lenken, obwohl die Reize der Umgebung, z.B. Geräusche und Gerüche, weiter da sind. Sie werden wahrgenommen, aber sie lenken nicht mehr ab. Man ist von diesen Eindrücken unabhängig und muss nicht immer reagieren. Wenn etwas die Aufmerksamkeit fesselt, z.B. ein Buch, ein Gespräch oder Musik, sind wir unbewusst in diesem Zustand und so, dass wir die Umwelt ausblenden. Wir sind getrennt von der Außenwelt. Pratyahara bedeutet eine bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit nach innen und sich gleichzeitig der Sinneseindrücke bewusst zu bleiben. Sie binden jedoch keine Aufmerksamkeit mehr. Es handelt sich um einen Zustand des Bewusstseins, in dem wir mit der Welt verbunden bleiben. Dieser Zustand ist sehr verschieden von unserem Alltagsbewusstsein: Entweder ist die Aufmerksamkeit sehr leicht ablenkbar oder sie ist so fokussiert, dass nichts anderes mehr wahrgenommen wird, manchmal nicht mal der eigene Körper.
Pratyahara ist die Voraussetzung für Meditation. Auch wenn es von außen betrachtet so wirken mag, als ob der oder die Meditierende völlig in sich versunken ist, bleibt er oder sie in Kontakt mit der Außenwelt, allerdings ohne reagieren zu müssen. Wenn diese Fähigkeit vorhanden ist, z.B. sich nicht durch Geräusche, Gerüche oder eine Fliege stören zu lassen, ist eine tiefere Meditation und Erkenntnis möglich.
In der Yogastunde wird pratyahara praktiziert, indem die Aufmerksamkeit auf die Bewegung oder den Atem gerichtet wird. Um dies zu unterstützen, können die Augen geschlossen sein. Im Yogasutra werden die asana und pranayama, wie die Sanskritbegriffe dafür lauten, vor pratyahara genannt. Die Sinne von den äußeren Reizen zu lösen ist leichter, wenn die Gedanken und Gefühle ein neues Objekt bekommen und beschäftigt sind. Wenn die Gedanken und Gefühle in dieser Praxis zur Ruhe gekommen sind, ist es einfacher, den Fokus auch in der Meditation ohne Ablenkung von außen zu halten.
Diese Jahreszeit bietet in besonderem Maße die Möglichkeit, die Sinne zurück zu ziehen. So können wir in Kontakt zu uns selbst kommen. Dieser innere Kontakt ermöglicht eine Reflektion über den eigenen Weg, die Ziele und ob dieser Weg zu den Zielen führt oder davon weg, ob die Ziele noch stimmen oder sich geändert haben und was wesentlich ist. Wenn das nicht klar ist, ziehen uns die äußeren Bedingungen mal hierhin, mal dorthin. Wir vergeuden unsere Energie und Lebenszeit, werden immer unzufriedener, ohne zu wissen warum und sind manipulierbar.
Für den inneren Frieden ist es also wichtig, von Zeit zu Zeit inne zu halten, nichts zu tun und den inneren Zustand wahr zu nehmen. Nicht immer sind es fremdbestimmte Termine, sondern innere Widerstände, die uns davon abhalten bzw. uns beschäftigt halten. Es kann die Angst sein, etwas zu erkennen, was unangenehm ist oder Fehler gemacht zu haben oder dass es besser wäre, etwas aufzugeben, was man nicht loslassen möchte oder etwas zu tun, was man sich nicht zutraut – mit anderen Worten: Etwas, das nicht zum Selbstbild passt.
Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder weitermachen wie bisher und was daraus folgt zu akzeptieren. Dann kann man eine Gelegenheit verpassen, sich weiter zu entwickeln und fest zu stellen, was schon alles erreicht wurde. Oder man stellt sich den inneren Hindernissen, überprüft diese auf ihren Wahrheitsgehalt und überwindet sie. Der Lohn sind neue Erkenntnisse und mittel- und langfristig innerer Frieden und Glück. Und das wiederum sind Kraftquellen, aus denen wir schöpfen können in unserem Alltag (YS 2.54).
Erklärung: YS= Yogasutra / 2=Kapitel / letzte Ziffer=Sutra