„Aus Zufriedenheit geht unvergleichliches Glück hervor“ – Yogasutra 2.42*
Um zum Ziel von Yoga, der inneren Freiheit (samadhi), die uns unvergleichliches Glück (ananda) beschert, zu gelangen, bietet uns das Yogasutra eine alles umfassende Beschreibung der Methoden, der Fähigkeiten und notwendigen Voraussetzungen an. Im zweiten Kapitel – samadhi pada – dem Pfad oder Weg zur inneren Freiheit wird es sehr konkret.
Welche inneren Haltungen oder Geisteszustände sind Voraussetzung für die vollkommene innere Freiheit? Sie werden im ersten Kapitel im Sutra 1.33 als die vier bhavana bezeichnet. Die vier bhavana stehen im Zusammenhang mit der konkreten Aufzählung von zehn Eigenschaften des Geistes im zweiten Kapitel, Sutra 2.32-2.45.
Die Sutren 2.32 und 2.42 handeln von santosa**. Der Begriff bedeutet Zufriedenheit und auch Dankbarkeit, die Fähigkeit sich zu freuen, Fröhlichkeit*. In diesem Zustand kommt der Geist zur Ruhe. Warum? Er ist einverstanden mit dem was ist, war oder sein wird. In diesem Zustand können wir glücklich sein. Im dem Wort „zufrieden“ steckt der Friede. Wir empfinden Frieden.
Zufriedenheit läßt uns entspannen: Die Muskelspannung fällt ab, der Körper fühlt sich nicht mehr so eng an, der Atem wird ruhiger, das Herz schlägt langsamer, die Gesichtsmuskeln entspannen; die Gedanken werden freundlicher, heller, kreativer, offener; die Gefühle sind optimistischer, toleranter, liebevoller (anderen und sich selbst gegenüber). So kann es sich anfühlen nach einem Essen, das nicht nur satt, sondern auch zufrieden macht, wenn eine Aufgabe mit dem gewünschten Ergebnis erledigt ist, wenn das Konzert oder der Urlaub dem Wunsch und Bedürfnis entsprechen. Wir kennen Zufriedenheit und Glück also als Ergebnis und in Abhängigkeit von Abläufen oder Situationen in und mit der Welt. Und das ist die große Täuschung (avidya) und das Haupthindernis für Zufriedenheit, Dankbarkeit, Freude und Glück. Wir glauben und täuschen uns damit selbst, dass wir etwas (erreicht) haben müssen (raga), um glücklich sein zu können: Wenn ich DEN Abschluss habe, DEN Beruf, DAS Vermögen, DEN Status, DAS Haus, DIE Reise, DIE Schuhe, DIE Zeit, Die Rente – dann bin ich glücklich. Oder umgekehrt glauben wir, wenn erstmal etwas weg ist (dvesa), bin ich zufrieden: Das Arbeitsleben vorbei, die Kinder aus dem Haus, das Haus abbezahlt, 5 Kilo abgenommen. Solange wir den Blick auf diese beiden Themen – Mangel und Ablehnung – halten, können wir nicht zufrieden sein. Weil wir nicht zufrieden sind, erkennen wir nicht, welches Glück wir schon haben. Wieviele der aktuell 7,7 Milliarden Menschen auf dieser Welt würden wohl alles dafür geben, könnten sie nur einen Tag mit uns tauschen? Sauberes Trinkwasser, ein Dach über dem Kopf, genügend Nahrung, Schutz von Leib und Leben- die Grundbedürfnisse, geschweige unser Luxus. Es geht nicht darum, ein schlechtes Gewissen zu bekommen, sondern sich freuen zu können über alle die Geschenke des Lebens, immer wieder dankbar sein zu können. Freude und Dankbarkeit sind die Quellen des Glücks.
Wenn wir zufrieden sind, sind wir im Einklang mit dem was ist und hadern nicht mit der Realität. Wir begehren nichts, haben keinen Widerstand, wollen nichts ändern. Das ist eine innere Einstellung, die für samadhi Voraussetzung ist.
Wenn wir jetzt glauben, es sei gerade in der heutigen Zeit schwer, zufrieden zu sein, können wir uns bewusst machen, dass dieser Text mehr als 2000 Jahre alt ist. Auch ohne die uns jetzt permanent umgebenden Reize der Werbung, ob analog oder digital, war es für Menschen offensichtlich nicht selbstverständlich, zufrieden zu sein. Denn andernfalls hätte das Yogasutra santosa nicht erwähnt.
Nun hat ja unsere Unzufriedenheit auch eine wichtige Funktion: Sie ist der Motor für Veränderungen. Wären unsere Vorfahren mit allem zufrieden gewesen, wie würden wir heute wohl leben? Santosa meint nicht, einfach passiv zu sein und alles gleichgültig hinzunehmen. Vielmehr ist santosa eine bewusste und reflektierte Haltung auf der Basis unserer Unterscheidungsfähigkeit (viveka). Es geht also um eine „intelligente“ Zufriedenheit. Das heißt, wenn wir etwas verändern können, um Leid und Unglück zu verhindern oder etwas verbessern können, dann sollen wir das nach dem Yogasutra tun. Dies ergibt sich aus anderen Sutren (z.B. YS 2.16).
In den nächsten Tagen geht das Jahr 2019 zu Ende und es endet wieder ein Zyklus. Für den einen oder anderen ist das ein Grund zum Rückblick. Bei allem, was in diesem Jahr nicht wunschgemäß verlaufen ist, im persönlichen Bereich oder in der großen Politik: Wofür können wir dankbar sein? Worüber dürfen wir uns freuen und fröhlich in das Jahr 2020 gehen? Und uns mit einem immer ruhigeren und klareren Geist ein Stück weiter auf dem Weg zu samadhi- zu inneren Freiheit und unbeschreiblichem Glück – entwickeln.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein zufriedenes 2019 und viele Momente der Zufriedenheit, des inneren Friedens und des Glücks in 2020! Möge die Zufriedenheit unsere Begleiterin durch das neue Jahr sein.
* Übersetzung R.Sriram, Patanjali Das Yogasutra, 2006 Theseus-Verlag Stuttgart, 2.Auflage 2003, S.126
**Aussprache: santoscha