Stabil und mühelos – auf der Matte und im Alltag -Fortschritt in den Yogahaltungen im Sinne des Quellentexts „Yogasutra“

pexels-photo Luis Enrique Carvajal

Nicht länger ausharren oder tiefer beugen oder länger dehnen können bedeuten Fortschritt in der Yogapraxis im ursprünglichen Sinn, sondern immer stabiler und müheloser in der Haltung sein oder sich bewegen. Das wünschen wir uns doch auch in unserem Alltag, oder?

Was heisst das konkret?

Schauen wir uns zunächst das Thema Stabilität an: Stabil („sthira“) sollte die Haltung sein.

Warum sollte dies erstrebenswert sein?

1. Weil die Muskeln im stabilen Stand am wenigsten Energie verbrauchen: Wir ermüden nicht so schnell, bleiben länger leistungsfähig.

2. Alle Knochen und Muskeln spielen optimal zusammen: Verspannungen und deren Beschwerden werden vermieden.

3. Knie- und Hüftgelenke und die Wirbelsäule werden geschont.

Der stabilste Stand beinhaltet einige Punkte, die für die meisten Menschen gelten, aber da jeder Körper ganz einzigartig ist, gibt es keine „Musterlösung“. Die individuelle stabile Haltung  kann nur jede/r für sich herausfinden. Probieren Sie mal folgende Übung:

Sie stehen in Ihrer Lieblingshaltung. Wo fühlt sich die Haltung stabil und mühelos an? Wo anstrengend, angespannt? Wie lange könnten Sie so stehen? Sind Sie zufrieden? Fühlen Sie sich gut?

Wenn Sie mit „Ja“ antworten, kann es bedeuten, dass Sie eine stabile Haltung haben. Leider ist bei Gewohnheiten das Gefühl nicht immer der richtige Ratgeber. Wir fühlen uns zunächst in unserer Gewohnheit wohler als in einer neuen Haltung. Die neue Haltung ist zunächst anstrengender, bis die Muskeln sich daran gewöhnt haben und kann sich sogar falsch anfühlen. Das gilt übrigens auch für neue Gedanken und Gefühle.

Der wirklich stabile und mühelose Stand- nicht nur – im Yoga:

Sind die Füße – das Fundament, das den Körper trägt – gleichmäßig belastet? Wie fühlt es sich an, wenn die Füße parallel stehen (kann je nach Hüftgelenk unterschiedlich aussehen!)  und unterhalb der Hüfte, d.h. etwa eine Faustbreite auseinander („Faustregel“ – auch individuell unterschiedlich!)? Trägt der ganze Fuß den Körper, d.h. das Fußgewölbe der Sohle ist zu spüren? Dann sind die Fußgelenke „aufgerichtet“ und kippen nicht nach innen. Die Aussenseiten der Fersen, der Klein-und der Großzehenballen haben Kontakt mit dem Boden. Probieren Sie ruhig einmal eine kleine Bewegung der Gelenke aus.
Stehen Sie über der Fußmitte? Pendeln Sie langsam in alle Richtungen und spüren, wann die Muskeln der Oberschenkel fest sind. Wenn die Muskeln eher weich sind, stehen Sie über Ihrer Fußmitte. Dieser Stand ist mühelos.

Spüren Sie auch eine Stabilität in den Kniegelenken von den Füßen ausgehend, wenn Ihr Fundament stabil ausgebildet ist? Am Anfang ist es vielleicht nicht der Fall, machen Sie sich keine Sorgen, es ist trotzdem alles in Ordnung.

Diese Stabilität des Fundaments setzt sich bis in das Becken fort. Es sollte aufgerichtet sein, d.h. stellen Sie sich Ihr Becken wie eine mit Wasser gefüllte Schale vor, aus der kein Tropfen überläuft. In dieser Haltung ist das Steißbein automatisch Richtung Boden gerichtet. Die Fuß-. Knie- und Hüftgelenke sind in einer Linie.

Dann nehmen Sie Ihre obere Wirbelsäule wahr und spüren, ob das Brustbein sanft aufgerichetet ist.  Der Nacken sollte dabei lang sein (der Kopf ist nicht in den Nacken gelegt) und aufgerichtet, so dass der Scheitelpunkt des Kopfes nach oben strebt. Jetzt können die Schultern und der Nacken entspannen, denn die Kraft für die aufrechte Haltung kommt von der Basis.

Wie fließt Ihr Atem jetzt? Die Haltung ist für Sie anstrengend und angespannt? Das ist für den Moment in Ordnung, denn es bedeutet, dass bestimmte Muskeln gekräftigt werden sollten und dass die Haltung ungewohnt ist.

Mühelosigkeit (sukham, „süß“):

Die Mühelosigkeit erwächst aus der Stabilität. Wird der Stand immer müheloser, so ist das ein Hinweis, dass die Muskulatur an Kraft gewonnen hat und der Körper mehr und mehr in seiner natürlichen Statik oder buchstäblich „im Lot“ ist. Mühelosigkeit ist das Ergebnis von Stabilität. Das ist die gute Nachricht, denn wir müssen uns nicht darum be-mühen, sie entsteht einfach.

Der Alltag bietet uns viele Gelegenheiten zum Üben – wenn wir auf jemanden warten, oder auf Bus oder Bahn, am Kopierer, an der roten Ampel, am Kaffeeautomaten, an der Kasse…..Sich für einige Augenblicke in diese Haltung zu begeben ist schon ein Muskeltraining – und ein Gehirntraining, denn es müssen neue Verschaltungen erfolgen….

Die „Belohnung“:

Wenn der Körper stabil und mühelos in der Aufrichtung steht – oder auch sitzt – dann kommt das Empfinden von Ruhe, Wachheit und Klarheit. Dann kommen wir dem Ziel der Yogapraxis – einem beruhigten Geist – näher. Das ist Fortschritt im Sinne des Ursprungs von Yoga – von außen unspektakulär und kaum zu bemerken.

Und noch ein wenig Sanskrit zum Nachlesen: „sthira-sukham asanam“ (YS 2.46) – äußerlich wie innerlich wünsche ich uns allen immer mehr davon!

Namasté

Ihre Helga Brinkmann