Mit dem Ungleichgewicht im Gleichgewicht sein

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In unseren Breiten wiederholt sich jedes Jahr an zwei Tagen die Tag-und-Nachtgleiche: Licht und Dunkelheit sind gleich lang bzw. im Gleichgewicht. An 362 bzw 363 Tagen ist es im Ungleichgewicht. Die Natur macht es uns vor: Gleichgewicht ist selten.

Wer wünscht sich nicht inneres Gleichgewicht, den Zustand, indem die innere Unruhe, die Sorgen, Bedenken, Hektik aufhören und an deren Stelle Gelassenheit und innerer Frieden und Freude einkehren? Dieser Wunsch ist die Sehnsucht nach unserem innersten Selbst, das wir schon sind. Vielleicht erinnern wir uns unbewusst daran? Wie können wir uns etwas wünschen, das wir nicht kennen? Deshalb ist es das Ziel des Yogaweges, das innere Selbst zu erfahren.

Gleichgewicht erscheint uns als statischer, unbewegter, ruhiger, stabiler Zustand. Für einen kurzen Moment können wir das erleben. Grundsätzlich sind wir und ist alles in Bewegung. Der Künstler auf dem Bild ist es oder wir sind es, wenn wir stehen oder gehen. Wären wir länger unbeweglich, würden wir umfallen bzw. der Künstler vom Seil herunter fallen. Was zeigt uns das? Um im Gleichgewicht zu sein, braucht es Bewegung. Manchmal reichen kleine, äußerlich kaum zu bemerkende Muskelaktivitäten. Das sieht von außen betrachtet wie Stillstand aus.

Auf der Yogamatte geht es in allen Standhaltungen auch um das Gleichgewicht. Es gibt auch besondere Gleichgewichtshaltungen, z.B.:

  • die „Krähe“ bei der im Vierfüßer beide Beine angehoben sind und der Körper auf den Armen ruht
  • im Vierfüßer die diagonale Streckung von Bein und Arm und das Gleichgewicht nur noch auf einem Bein und einer Hand ruht
  • Standübungen auf den Fußballen
  • alle Heldenhaltungen
  • der Baum
  • alle Umkehrhaltungen, besonders Schulter- und Kopfstand

Gleichgewichtsübungen fordern Koordination, Konzentration und Muskelkraft. Die Haltung wirkt dann stabil und ruhig (sthiram und sukham), wenn diese drei Fähigkeiten vorhanden sind. Gleichzeitig werden sie durch die Wiederholungen aufgebaut und gestärkt, wenn sie fehlen. Wichtig ist dann, die Übungen so anzupassen, das am Anfang keine Überforderung entsteht um dann Schritt für Schritt die Fähigkeiten aufzubauen. Ehrgeiz und Perfektionismus werden in diesen Haltungen schnell sichtbar. Sie verhindern die Entwicklung.

Koordination und Konzentration sind geistige Fähigkeiten. Die Gleichgewichtsübungen sind im Yoga sehr hilfreich, weil wir über den Körper den Geist erreichen, der im Yoga im Mittelpunkt steht. Wir bedienen uns des Körpers und des Atems, um den Geist immer wieder in ein Gleichgewicht zu bringen – oder „zur Ruhe“ nirodha – wie es im Yogasutra heißt. Der Geist bewegt sich zwischen zwei Polen: der Trägheit/Dumpfheit, Stabilität, Ruhe (tamas) und der Bewegung, Dynamik, Unruhe, Aktivität (rajas). An den extremen Enden befinden wir uns selten. Wir sind irgendwo dazwischen. Die absolute Balance (sattva) erleben wir kaum.

Dieses Modell der drei Energien, guna genannt, findet sich im Yogasutra, ist aber viel älter und als Samkhya-Philosophie bekannt. Mithilfe dieses Modells läßt sich alles Veränderliche, also alle Materie erklären: Die Erde und Steine als tamas-Energie, alles sich Bewegende als rajas-Energie.  Unser Geist zählt auch zur Materie und für ihn gelten diese Prinzipien auch.

Die drei guna sind immer in Bewegung, weshalb auch alle Materie dem Prinzip der Bewegung und damit auch der Veränderung unterliegt. Die Energien werden wie folgt beschrieben. Sie können sowohl in positiver als auch in negativer Weise sichtbar werden bzw. sich manifestieren:

  1. Tamas kann sich z.B. als Erdung, Stabilität, Ruhe zeigen, aber auch in Form von Schwere, Trägheit, Lustlosigkeit oder Pessimismus
  2. Rajas zeigt sich z.B. als Aktivität, Bewegung oder Kreativität.                                                    Unruhe, Langeweile, Agressivität, Opportunismus sind ebenfalls diese Energie.
  3. Sattva zeigt sich z.B. als Ausgeglichenheit, Klarheit, Weisheit oder Wahrhaftigkeit. Es heißt, dieser Zustand ist gegeben, wenn tamas und rajas im Gleichgewicht sind.

In einem Zustand von tamas brauchen wir andere Übungen (asanas) und Atemtechniken (pranayama) als in rajas. In der Gruppe werden die Stunden so gestaltet, dass beide Energien berücksichtigt werden und alle Übenden profitieren. Im reinen Zustand von sattva brauchen wir keine Übungen mehr.

Welche Energie aktiv ist, wirkt sich im Alltag aus:
1. Solange unser Geist im Zustand von tamas oder rajas ist, nehmen wir uns selbst und die Welt mit dieser Energie wahr. Sind wir z.B. selbst geistig träge und müde (tamas), kann uns die Umgebung eher betriebsam vorkommen. Wollen wir uns regenerieren oder entspannen, hilft sie uns sogar.
Sind wir gerade selbst unruhig und hektisch (rajas), erleben wir unser Umfeld vielleicht als langsam und träge. Andererseits benötigen wir die Energie, wenn wir aktiv sein wollen oder müssen. Es kommt jeweils auf die Intensität der Energie an, nicht zu viel, nicht zu wenig.

2.Unsere Wahrnehmung ist nicht neutral. Je extremer unser innerer Zustand, desto verzerrter unser Blick, d.h. unsere Gedanken, Worte und Handlungen. Unser Alltagsbewusstsein befindet sich mal mehr auf der einen, mal mehr auf der anderen Seite der Skala zwischen tamas und rajas. Nur im Zustand von sattva haben wir eine objektive Wahrnehmung. Dann ist unsere Wahrnehmung nicht mehr durch unsere Gefühle, Erfahrungen und momentane Befindlichkeit gefärbt, sondern wir erkennen aus unserem Selbst heraus.  Im Zustand von sattva sind die Gedanken und Gefühle vollständig ruhig und wir nehmen nur wahr – ohne zu bewerten, analysieren, erinnern oder uns etwas vorzustellen. Diesen Zustand kennen wir vielleicht aus einigen Momenten unseres Lebens.

Wir können durch Yoga und Meditation erreichen, dass der Ausschlag des Pendels weniger wird und wir mehr um die Mitte / sattva kreisen. Auch wenn die guna immer aktiv sind, mal schwächer, mal stärker und wir sie auch nicht „weg-meditieren“ können, sind wir ihnen nicht ausgeliefert. Wir können auf sie einwirken und sie in eine von uns gewünschte Richtung lenken.

Der 21. März zeigt uns, dass wir im Einklang mit der Natur und mit uns selbst sind, auch wenn wir innerlich meistens im Ungleichgewicht sind. Das Ungleichgewicht kann sich im Körper zeigen, z.B. als Beschwerde, Schmerz oder Krankheit. Es kann sich auf mental-emotionaler Ebene ausdrücken als Nervösität, Angst, Schlaf- oder Rastlosigkeit oder Depression. Wir brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben und meinen, es liegt an uns, wenn wir trotz langer und regelmäßiger Yogapraxis immer noch nicht „weit genug“ sind, weil wir nicht gelassen oder entspannt reagieren.

Dieses innere Ungleichgewicht ist der Ausgangspunkt im Yogasutra. Das Yogasutra bietet uns verschiedene Werkzeuge und Methoden, um mit den guna besser umzugehen und so mehr und mehr zur Gelassenheit und innerem Frieden zu finden. Der erste Schritt ist, mit unserem Ungleichgewicht ins Gleichgewicht zu kommen.