Der Begriff steya (gesprochen: s-teja) klingt ähnlich wie die deutsche Übersetzung: Stehlen. Das ist nicht verwunderlich, denn Sanskrit ist die Ursprache der indogermanischen Sprachen. »A« steht wie bei ahimsa für das Gegenteil. Asteya bedeutet »nicht stehlen«. Der Zusammenhang zu den beiden ersten yama ist offensichtlich: Stehlen ist eine Form von Gewalt und Unehrlichkeit. Asteya ist demnach eine Form von Gewaltlosigkeit (ahimsa) und Ehrlichkeit (satya). Wer diese ersten beiden yama verinnerlicht hat, kann nicht stehlen bzw. wer stiehlt oder betrügt, kann auch nicht in ahimsa und satya sein mit allen den daraus folgenden Ergebnissen. Die Beiträge Yama: 1.ahimsa und Yama:2. satya behandeln diese ersten beiden yama.
Für asteya gilt wie für alle anderen yama, dass sich die Bedeutung nur im Zusammenhang mit dem ganzen Text des Yogasutra erschließt, wie im Beitrag Die yama als innerer Kompass beschrieben.
Folgende Aspekte werden in diesem Text beleuchtet:
- Asteya als Übungsweg im Yoga
- Was bedeutet asteya im Alltag ?
- Wie kann ich asteya entwickeln?
- Die Auswirkungen von asteya nach dem Yogasutra
Asteya als Übungsweg im Yoga
Das Ziel von yoga ist nur mit einem stillen, geklärten Geist erreichbar. Diesem Ziel dienen alle yama. Dass die yama gleichzeitig auch universellen, ethischen Prinzipien entsprechen, sich z.B. auch in den christlichen Geboten finden, ist ein anderes Thema. Für jemanden auf dem Yogaweg geht es nicht um eine Wirkung nach außen oder in die Zukunft, sondern darum, im Hier und Jetzt den inneren Zustand eines ruhigen Geistes (YS 1.2) zu erlangen und darin zu bleiben.
Asteya könnte man auf den ersten Blick nur auf das Handeln beziehen. Im erweiterten Sinne ist es ein Zustand frei von Wünschen. Sie sind die Ursache unseres unruhigen und unzufriedenen Geistes. Asteya ist die Entwicklung von einem selbstbezogenen Geist zu unserem wahren, freien Ich. In diesem Zusammenhang ist das yama asteya zu betrachten. Das Yogasutra stellt den yamas viele Aspekte über die Funktionsweise unseres Geistes voraus, damit wir die Bedeutung der yamas erkennen können.
Was hat asteya, nicht zu stehlen, mit dem inneren Zustand zu tun? Alles, was wir tun, hinterläßt einen Eindruck (samskāra) in unserem Geist. Wenn wir uns etwas aneignen im Sinne von stehlen, bleibt ein Gefühl von Unrechtmäßigkeit, ein mehr oder minder schlechtes Gewissen, das wir mit „vernünftigen“ Gründen zu beruhigen versuchen. Es läßt sich aber nicht täuschen. Es bleibt eine subtile Unruhe und es gibt immer wieder Momente, z.B. etwas oder jemand erinnert uns daran oder der Geist ist auf der Yogamatte oder am Wochenende nicht abgelenkt, wenn die Erinnerung (smrti) als Gedanke und Gefühl auftaucht. Der Geist kommt nie wirklich zur Ruhe, weil er mit solchen Themen beschäftigt ist.
Das Problem mit asteya beginnt jedoch vor jeder Aktivität. Das Stehlen bzw. Betrügen steht am Ende, es ist das Ergebnis. Die Ursache ist ein selbstbezogener Geist und die Art und Weise, wie er funktioniert. Die innere Unruhe beginnt mit einem Gefühl von Unzufriedenheit oder Unglücklichsein und einem Mangelgefühl. Wir glauben, wir fühlen uns besser, wenn wir dieses oder jenes besitzen. Oder wir glauben, wir sind noch unvollständig und wir sind nur mit diesem Etwas vollständig. Oder wir brauchen etwas, um uns sicher zu fühlen. Diese Täuschung nennt man avidyā, das Begehren rāga. Beide gehören zu den klesa (YS 2.3 ff). Auch Neid und Eifersucht können den Wunsch wecken, etwas haben zu wollen, was uns nicht zusteht oder gehört. Wenn wir also einen Wunsch verspüren, gilt es, dessen Grund zu erforschen. Warum wollen wir dieses unbedingt haben? Fühlen wir uns unvollständig, unglücklich, unsicher? Wenn das Gefühl aus den klesa kommt, ist die Wirkung nur von kurzer Dauer und es wird uns nicht das gewünschte Ergebnis eines dauerhaft ruhigen Geistes bringen. Die Konsequenz im Alltag ist, dass wir permanent damit beschäftigt sind, etwas zu bekommen. Der Geist kommt nicht zur Ruhe. Die Lösung liegt jedoch nicht in äußeren Dingen, sondern in einem klaren und freien Geist jenseits unseres Ego.
Im Zustand von asteya erkennen wir, dass nichts uns dauerhaft ein Gefühl von Sicherheit, Glück oder Vollständigkeit vermitteln kann. Dorthin will uns der Yogaweg führen und alles andere sind Ablenkungen. Sie gehören zu unserem Menschsein, aber wir sollten immer besser mit ihnen umgehen können, wenn wir den Bewusstseinszustand von innerer Freiheit (kaivalya) und Glück anstreben.
Was bedeutet asteya im Alltag ?
- Materielle Ebene
Bei Stehlen denken wir wahrscheinlich zuerst an Gegenstände oder Geld ohne die Erlaubnis des Besitzenden. Wie verbreitet das ist, sieht man daran, dass Kaufhäuser und Geschäfte einen Teil ihres Preises für Diebstähle einplanen und welche kostspielige Sicherungen sie verwenden bis hin zum Detektiv. Vom Lippenstift über Kleidung bis zu elektronischen Geräten wird alles „mitgenommen“. Dazu gehört schon kriminelle Energie.
Aber wie ist es mit Handtüchern und anderen Gegenständen aus Hotelzimmern, die gern als „Souvenir“ mitgenommen, streng genommen, gestohlen werden? Stehlen bedeutet, mir etwas anzueignen, was mir nicht gehört, ob es käuflich ist oder nicht. Warum sind diese Dinge so wichtig? Warum glaube ich, ein Recht darauf zu haben? Und bin ich umgekehrt so großzügig, dass ich meinen Gästen erlaube, Dinge, die ihnen gefallen, ungefragt aus meinem Besitz mitzunehmen? Und selbst wenn, kann ich das umgekehrt voraussetzen?
Ein aktuelles Beispiel sind die staatlichen (also unser aller) „Corona-Hilfen“. Es ist das Geld, das wir alle erwirtschaften und Steuern genannt wird. Hier ist es mit krimineller Energie zu großen Betrugsfällen gekommen. Aber auch im Kleinen hat es an asteya gemangelt. Diese finanziellen Hilfen sind „für die Menschen gedacht, die schwimmen, nicht für die, die im Boot sitzen“ – sagte ein Berater der IBB Berlin im Vorfeld der Anträge im März. Für viele war diese Hilfe existenziell wichtig um die Miete, Strom und andere Kosten zu decken. Sie hätten sonst große Schwierigkeiten bekommen. Aber andere haben diese Hilfe beantragt, die, vielleicht mit Einschränkungen, auch selbständig die Zeit des Lockdowns hätten bewältigen können. Ihr Geist hat ihnen rationale Rechtfertigungen geliefert, warum es ihnen zusteht, aber ihr Gerechtigkeitsempfinden läßt sich nicht täuschen. Auch wenn der Antrag formal korrekt sein mag, bleibt das Gefühl, sich unberechtigt etwas angeeignet zu haben, was ihnen nicht zusteht. Sie sind dauerhaft in einem inneren Konflikt. Der Preis ist der innere (Un-)Frieden und ein (un-)ruhiger Geist.
In den Medien erfahren wir jeden Tag von Betrug- Cum-Ex-Geschäfte, Geldwäsche, Wirecard, Lobbyismus, Abgas-skandal, um einige aktuelle zu nennen. Wahrscheinlich ist diesen Menschen asteya nicht bekannt, geschweige denn dessen Bedeutung. Wir sollten uns von diesen Beispielen nicht beeinflussen lassen und weder Betrug für den Normalfall halten noch über das Verhalten urteilen. Einen ruhigen, stabilen Geist erreichen wir nur in der Haltung von asteya.
Im Alltag heißt asteya, ich nehme mir das, was mir zusteht, nicht im formalen Sinne, sondern in angemessener Weise. Es ist das Gegenteil von Gier. Ein Beispiel für asteya: Ein sehr nachgefragter Yoga-Lehrer hat seine Bekanntheit und seinen Erfolg nicht dazu benutzt, seine Seminarpreise gemäß Angebot und Nachfrage zu erhöhen. Die Einnahmen sichern seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie und mehr als das empfindet er als unangemessen. Darin liegt auch ein großes Vertrauen, dass immer genug da sein wird. Und dieses Vertrauen gründet auf asteya, wie weiter unten beschrieben wird. Asteya schenkt die innere Ruhe.
Asteya führt zu Unbestechlichkeit und Integrität. Ein solcher Mensch ist nicht käuflich, denn sein Wert hängt nicht von den Dingen ab und er nimmt nichts, was ihm nicht zusteht.
In Bezug auf die Erde und alle Lebewesen gilt es, nichts zu stehlen, sondern nur das zu nehmen, was uns zusteht. Da wir das seit Jahrzehnten nicht beherzigt haben, haben wir jetzt und die zukünftigen Generationen mit den Folgen zu kämpfen. Wir nehmen immer noch mehr, als uns zusteht. Um dann- wie in den letzten Monaten vieles davon zu entsorgen. Wir haben mehr als wir brauchen und uns von der Erde und den Lebewesen zusteht. Asteya ist ein aktuelles und wichtiges Thema, wenn es um Klimaschutz geht.
- Immaterielle Ebene
Asteya umfasst neben der dinglichen, materiellen Ebene auch die immaterielle, geistige Ebene.
Auf der immateriellen Ebene können Rechte, z.B. Urheberrechte oder Patente gestohlen werden. Es gibt sehr viele Plagiate, die sich die geistige Leistung anderer auf betrügerische Art aneignen. Wer diese Plagiate kauft und weiß, dass es Plagiate sind oder vieles daraufhin deutet, beteiligt sich an diesem Betrug. Das passt nicht zu asteya.
Seit der Digitalisierung ist asteya eine Herausforderung. Obwohl es viele kostenlose Angebote im Internet gibt, werden Filme oder Musik illegal herunter geladen und (noch) Raubkopien von CDs angefertigt. Die Anonymität erleichtert diesen Diebstahl und die Gefahr eines Erwischtwerdens ist gering. Aber es bleibt ein Diebstahl. Daran ändert auch nichts, dass es „alle“ machen.
Diebstahl kann auch sein, sich Titel zuzulegen, um das Image und den Status zu erhöhen, ohne sie rechtmäßig erworben zu haben. Oder jemand verbucht ein Projekt oder einen Erfolg für sich, der anderen oder mehreren zusteht. Auch wenn man es nicht wahrhaben möchte, hat man auch einen Konflikt mit (dem anderen yama) satya. Und man verletzt die Würde- die eigene und die anderer- und hat einen Konflikt mit ahimsa.
Wie kann ich asteya entwickeln?
Wenn jemand sich für ein Leben mit asteya entschieden hat und den Zustand entwickeln will, woher weiß er/sie was ihm/ihr angemessen ist bzw. zusteht?
Die Maßstäbe können sehr unterschiedlich sein. Je nach Ego wird der Rahmen eher groß oder bescheiden sein. Beides kann in die Irre leiten. Die Maßstäbe sollten zunächst bewusst werden und sind dann zu überprüfen (svadhyaya YS 2.1) indem man darüber reflektiert. Die Reflektion kann in Form einer Meditation, mit Hilfe von Büchern, Texten oder Menschen, die asteya gemeistert haben geschehen. Dann entsteht die Unterscheidungsfähigkeit (viveka), aus der heraus wir erkennen, ob ein Bedürfnis unserem Ego entspringt oder unserem eigentlichen Selbst (drasta). Wir erkennen, wenn die Erfüllung eines Wunsches uns nicht dauerhaft zu einem ruhigen und stabilen inneren Zustand führt, sondern uns davon ablenkt. Dann entsteht asteya.
Wir benötigen diese Unterscheidungsfähigkeit auch, um zu erkennen, ob wir etwas wirklich nicht brauchen oder den Wunsch unterdrücken oder verdrängen, weil wir gern in dem Zustand von asteya wären. Es ist zunächst wichtig, sich alle Wünsche zu erlauben, auch wenn sie nicht oder nicht in der gewünschten Art und Weise umzusetzen sind. Nicht jeder Wunsch ist für uns und andere wirklich sinnvoll. Den Wunsch an sich sollten wir jedoch anerkennen, denn jegliches Unterdrücken stärkt ihn. Asteya hat nichts mit Unterdrücken oder sich einzureden, man wolle etwas nicht, zu tun. Asteya entsteht aus svadhyaya, viveka, ahimsa und satya.
Die Auswirkungen von asteya nach dem Yogasutra- YS 2.37: Wer tief im Zustand des Nichtstehlens ist, dem werden alle Schätze zu teil.
Im Sutra 2.37 heißt es über asteya, dass jemand im Zustand von asteya alles bekommt, was er/sie braucht. In diesem Vertrauen kann der oben erwähnte Lehrer handeln. Es steht im Gegensatz zu unserer üblichen Denkweise. Sie besagt, dass wir nur dann das bekommen, was wir uns wünschen, wenn wir uns dafür anstrengen, darum kämpfen. Sollten wir also einfach abwarten und werden für unser Nichtstun dann auch noch belohnt? Wenn man das sutra isoliert betrachtet, könnte man diesen Schluss ziehen. Das ist jedoch avidya, ein Trug-schluss.
Es gibt einen Dreiklang:
- Wir sollen in unserem Leben handeln (kriya yoga YS 2.1), mit Beharrlichkeit (abhyāsa, YS 1.12/1.15) im inneren Zustand von Liebe (maitrī), Mitgefühl (karunā), Mitfreude (mudita) und Großherzigkeit/Verständnis, Vergebung (upeksa)(YS 1.33)
- mit einer Unterscheidungsfähigkeit (viveka YS 4.26), was uns dauerhaft oder nur vorübergehend glücklich macht, und was unserem innersten Wesen (īsvarapranidhana YS 2.1), nicht der selbstbezogenen Funktionsweise (klesa YS 1.24, 2.2.ff.) unseres Denkens entspringt (citta YS 1.4) und dieses loslassen (vairāgya YS 1.12/1.15)
- im Vertrauen (shraddha YS 1.20), dass uns alles zuteil wird, was uns zusteht und das wertzuschätzen, was sich zeigt.
Es kommt dann alles zu uns nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung (karma). Wenn wir die Gier loslassen und großzügig teilen mit der Welt statt nur nehmen zu wollen, fällt es auf uns zurück. In diesem Fall im positiven Sinne. Das ist asteya.