Warum brahmacharya/Enthaltsamkeit im Yogasutra an dieser Stelle steht, ist auf den ersten Blick nicht schlüssig. Nach ahimsa/Gewaltlosigkeit, satya/Wahrhaftigkeit und asteya/Nichtstehlen könnte logischerweise aparigraha/Anspruchslosigkeit folgen. Von der Thematik her könnte brahmacharya/Enthaltsamkeit ebenso gut zu den niyama gehören. Aber Patanjali, der mutmaßliche Autor des Textes, hat brahmacharya an diese Stelle gesetzt.
Für brahmacharya gilt wie für alle anderen yama, dass sich die Bedeutung nur im Zusammenhang mit dem ganzen Text des Yogasutra erschließt. An dieser Stelle einige wichtige Stichworte zur Einführung. Ausführlich finden Sie die Erläuterung in dem Beitrag Die yama als innerer Kompass
- Ziel von yoga und damit der yama ist die Entwicklung von innerer Ruhe (nirodha, YS 1.2) und Klarheit im Geist (viveka, YS 2.26/3.54/4.26)
- Dieser ruhige geistige Zustand ist notwendig, um den Bewusstseinszustand von samadhi, kaivalya, yoga (YS 1.46, 2.25), wie das allumfassende Bewusstsein und die innere Freiheit in Sanskrit heißt, erfahren zu können
- Yoga und yama sind keine Werkzeuge/Methoden/Mittel zur Veränderung der Welt oder der Mitmenschen
- Die yama erheben keinen moralischen Anspruch
- Die yama beschreiben jeweils einen inneren Zustand des Menschen, der über die kognitive Ebene hinausgeht und die psychologische Ebene mit einschließt
- Der Ausdruck im Handeln ist das Ergebnis der inneren Haltung, nichts „Aufgesetztes“, d.h. die Handlung ist authentisch. Sonst ist es kein yama
- Die yama stellen keine Einschränkungen dar sondern befreien von inneren Begrenzungen
Folgende Aspekte werden in diesem Text beleuchtet:
- Der Begriff brahmacharya im Yoga
- Brahmacharya und die yama
- Erweiterter Begriff von brahmacharya
- Was bedeutet brahmacharya im Alltag ?
- Wie kann man brahmacharya entwickeln?
- Die Auswirkungen von brahmacharya nach dem Yogasutra
- Der Begriff brahmacharya im Yoga
Der Sanskritbegriff brahmacharya bedeutet wörtlich übersetzt die Lebensweise (charya) eines Menschen, der nach dem höchsten Bewusstsein (brahma) strebt oder bereits in diesem Bewusstsein ist. (www.wiki.yoga-vidya.de/Brahmacharya). Ursprünglich stammt der Begriff brahman aus dem Hinduismus. Dieses brahman steht nach hinduistischer Überlieferung hinter dem gesamten Universum als das letzte Eine, das selbst keine Ursache hat, aus dem aber alles entstanden ist – das Geistige ebenso wie das Materielle. Danach ist brahman in allen Dingen und allen Lebewesen. Brahman wird deshalb auch mit Seele bzw. Weltenseele übersetzt. „Brahman“ ist die Bezeichnung für das unwandelbare, unsterbliche Absolute, das Höchste. Es ist das, „was die Welt im innersten zusammenhält“.
Was aber ist eine Lebensweise im höchsten Bewusstsein des Unendlichen? Wie sieht ein Alltag in diesem Zustand aus? Wie kann man diesen Zustand erreichen? Dazu existieren zahlreiche Kommentare. Allen gemeinsam ist die Schwierigkeit mit den Worten unseres begrenzten Geistes einen Zustand zu beschreiben, der nach der Erfahrung der Menschen, die ihn erlebt haben, unbeschreiblich ist. Platon hat dieses Problem in dem Höhlengleichnis versinnbildlicht.
- Enthaltsamkeit/Keuschheit
Oft wird brahmacharya auf die sexuelle Enthaltsamkeit oder Keuschheit beschränkt. Die sexuelle Energie ist als Energie, aus der Leben entsteht, eine sehr machtvolle Energie. Der Yogaweg ist lang und verlangt viel Energie. Wenn die Energie, die der Sexualität zugrunde liegt, für den Yogaweg genutzt wird, ist sie eine wertvolle Kraft für den Menschen. Sexuelle Aktivität führt nach diesem Verständnis zu einer Verschwendung von (Lebens-) Energie. Es geht um den Umgang mit den eigenen Ressourcen, in diesem Fall der sexuellen Kraft. Deshalb passt das Thema nach meiner Meinung auch zu den niyama.
Der Ursprungsgedanke dieser „Keuschheit“ hat nichts mit Moral zu tun. Brahmacharya oder auch das Zölibat haben im Laufe der Zeit einen Bedeutungswandel erlebt und wurden/werden zur Unterdrückung von Menschen genutzt, indem sie zur Moral erhoben wurden. Es geht/ging nicht mehr um die Energie und ihre Kraft, weshalb die Art und Weise wie es gelebt wurde und wird, viel Leid hervorruft. Wüßten die Menschen um die zugrunde liegende Kraft, würden sie sich nicht verurteilen, wenn sie am Zölibat oder an der Keuschheit scheitern. Jede Energie kann, wenn sie nicht beherrscht wird, für sich selbst und für andere zur Gefahr werden. Ist die Kraft dieser machtvollen Energien bewusst, werden Menschen vielleicht respektvoller mit der Energie umgehen und sich selbst und andere mehr schützen können.
Die Ursache für das mit der Sexualität verbundene Leid ist, dass der Fokus falsch gesetzt wird. Nur auf das Handeln zu fokussieren und ein kraftvolles Bedürfnis zu unterdrücken obwohl die mentalen und psychologischen Voraussetzungen nicht gegeben sind, schadet Menschen und schafft neue Probleme. Davon war in den vergangenen Jahren in den Medien viel zu lesen, als das Tabu aufgelöst wurde. Yoga will aber Leid vermeiden. Der Ansatz für brahmacharya muss daher im Geist liegen.
Der bekannte Kommentator Vyasa (5./6.Jh.) des Yogasutra hat deshalb den Fokus auf den mentalen und psychologischen Aspekt, Geist genannt, gelegt. Natürliche Bedürfnisse sind natürlich und wenn ein natürliches Bedürfnis befriedigt ist, ist es vorüber. Aber wenn der Geist ständig damit beschäftigt und davon besessen ist, ist es nicht mehr natürlich. Der Geist kommt nicht zur Ruhe obwohl jemand enthaltsam oder keusch lebt. Im Zustand von brahmacharya aber ist der Geist frei von der (ständigen) Beschäftigung mit der Sexualität.
Im übrigen gab es auch zu Zeiten von Vyasa schon viele „Yogis“, die als „Haushälter“ eine Familie gegründet haben. Auch in früheren Zeiten war brahmacharya nicht nur auf die sexuelle Enthaltsamkeit begrenzt. Gleichwohl gibt es heute noch Traditionen, in denen sexuelle Enthaltsamkeit praktiziert wird. Von einem Mönch wird sie erwartet.
- Brahmacharya und die yama
Bei brahmacharya geht es um den Umgang mit der sexuellen Kraft, nicht um deren Unterdrückung. Das ergibt sich aus dem vorhergehenden ersten yama ahimsa/Gewaltlosigkeit. Unterdrückung ist eine Form von Gewalt, in diesem Fall gegen sich selbst. Ein sexuelles Fehlverhalten ist Gewalt gegen andere. In Zeiten von „MeToo“ ein aktuelles Thema. Eine gewaltlose Sexualität umfasst Gedanken, Blicke, Worte und Berührungen nur mit Zustimmung des Gegenüber. Auch Untreue ist ein Fehlverhalten, wenn sie die andere Person verletzt.
Unter dem Aspekt von satya/ Wahrhaftigkeit geht es um Ehrlichkeit sich selbst gegenüber und im Umgang mit dem anderen Menschen. Das kann bedeuten, sich ehrlich zu verhalten, die andere Person nicht zu hintergehen oder Gefühle nicht vorzuspielen, nur um Sex haben zu können. Das wäre außerdem asteya, sich etwas zu nehmen/sich etwas zu stehlen.
Entscheidend bei brahmacharya wie bei allen yama ist der innere Zustand: Der Geist, die Gedanken und Gefühle. Das Verhalten ist das Resultat des Umgangs mit dieser Kraft. Sie kann den Geist dauernd beschäftigen, ihn beherrschen und fesseln, zu einem Zwang werden. Das verhindert dann das Zur-Ruhe-Kommen des Geistes (nirodha; YS 1.2) und damit den Weg zur vollkommenen Erkenntnis, dem Zustand von Yoga. Hier setzt Yoga an und achtet nicht nur auf das Verhalten.
- Erweiterter Begriff von brahmacharya
Noch weiter als Vyasa fasste der Weise Shankaracharya ( ca. 800 n.Chr.) den Begriff brahmacharya: In dem Bewusstseinszustand von brahman zu leben oder leben zu wollen, bedeutet frei zu sein von allen sinnlichen Zwängen, nicht nur der Sexualität. Die natürlichen Bedürfnisse und sinnlichen Erfahrungen durch Hören, Sehen, Schmecken, Riechen, Fühlen lenken den Geist ebenfalls ab und können ihn fesseln. Sie sind deshalb zu kanalisieren und regulieren. Ein permanent von Bedürfnissen und Sinneserfahrungen besetzter Geist läßt sich leicht vom eigentlichen Ziel ablenken und zerstreut die Energie. Er schwächt und erschöpft uns. Eine solche Funktionsweise treibt uns ständig an und wir kommen nicht zur Ruhe- nicht in den Zustand von nirodha und letztlich können wir nicht das Ziel von Yoga, den Bewusstseinszustand von völliger innerer Freiheit und Erkenntnis- samadhi- erreichen.
- Was bedeutet brahmacharya im Alltag ?
Brahmacharya heißt zunächst, das rechte Maß oder eine gute Mitte zwischen unseren natürlichen Bedürfnissen, den Wünschen und den Leidenschaften zu finden.
Die Umwelt spielt eine Rolle. Je mehr Reizen wir ausgesetzt sind, die bewusst unsere natürlichen Bedürfnisse für ihre -meist kommerziellen- Ziele nutzen, desto größer die Ablenkung. Und bekannt ist: Sex sells. Selbst die Models auf den Yogazeitschriften spielen mit diesem Bedürfnis. Unter dem Begriff „foodporn“, der nichts mit Sexualität zu tun hat, werden Lebensmittel und Gerichte visuell besonders schmackhaft präsentiert, so dass den Betrachtern „das Wasser im Mund zusammenläuft“ und sie zum Kaufen animiert werden. Unser Geist ist dann damit beschäftigt, dieses oder jenes essen zu wollen, obwohl wir keinen Hunger haben. Er stellt sich vor, wie es riecht und schmeckt und wie wir es am schnellsten bekommen.
Je weniger Außenreize, desto einfacher ist brahmacharya könnte man deshalb meinen. Aber wie die Kommentare zum Yogasutra deutlich machen, ist der Schlüssel dazu unser Geist. Selbst wenn wir in einem dunklen und stillen Raum sind, kann unser Geist Wünsche und Bedürfnisse produzieren. Wer meditiert kennt das: Einfach sitzen, es gibt nichts zu tun, zu planen, zu organisieren und schon beginnt der Geist mit seinem Automatismus und holt samskara (Erinnerungen) ins Bewusstsein, die wiederum Bedürfnisse erzeugen können. Die äußere Welt ist weder in der Meditation noch im Alltag das Problem.
Außerdem leben wir nun mal in einer Welt mit vielen Eindrücken und äußeren Reizen. In dieser Realität gilt es die Bedürfnisse zu handhaben. Sie zu verdrängen oder zu unterdrücken verstärkt das Problem und schafft neue.
Es ist hilfreich, die bisherigen Gewohnheiten zu überprüfen, ob man sich selbst, z.B. über die Medien, neben den ohnehin im öffentlichen Raum vorhandenen Reizen, selbstinitiiert Reizen aussetzen möchte. Wozu braucht man ständig Musik, Filme, Nachrichten, Werbung, whatsapp-nachrichten? Kann der Geist davon frei sein? Wenn sich nichts ändert, wird auch der Geist sich nicht ändern.
- Wie kann man brahmacharya entwickeln?
Bedürfnisse werden in den alten Texten als natürliche anerkannt. Sie haben ihre Aufgabe, denn wir wollen nicht verhungern, verdursten, aussterben usw. Es gilt, mit ihnen bewusst umzugehen und sie zu kanalisieren und zu regulieren. Dann reduzieren wir die Gefahr, von ihnen beherrscht und getrieben zu werden.
Dazu müssen wir uns zuerst ihrer bewusst werden:
- Welches sinnlichen Bedürfnis/welche Bedürfnisse fesseln meinen Geist immer wieder-bis hin zur Sucht?
- Welche ziehen meine Energie und meine Zeit immer wieder auf sich und in eine unerwünschte Richtung?
- Wo verschwende ich Energie?
- Wo ist das natürliche Maß überschritten und zum Zwang geworden? Wo gehe ich nicht mehr gut mit meinen Ressourcen um?
Die Ursache dieses Verhaltens erforschen:
- Warum brauche ich das Übermaß, das ständige mental und aktiv damit beschäftigt sein?
- Was will ich damit ersetzen, verdecken, welche Leere füllen oder welches tiefe alte Bedürfnis, das seinerzeit nicht erfüllt wurde und eine Wunde hinterlassen hat, nachnähren und heilen?
Im Yogasutra wird die Ursache avidya (YS 2.3.ff) genannt. Es ist ein falsches Wissen oder eine Verwechslung des vermeintlichen Bedürfnisses mit dem wirklichen Bedürfnis. Das natürliche Bedürfnis ist daran zu erkennen, das es endet, wenn es befriedigt wurde. Wenn das Bedürfnis aber über das natürliche Maß hinausgeht und uns gefangen hält, ist es etwas anderes:
1. Wir glauben, dass wir nur glücklich, sicher oder zufrieden sind, wenn wir dieses Bedürfnis erfüllt bekommen.
2. Wir meinen dann, dass wir davon abhängig sind, etwas zu bekommen,sei es Besitz, Menschen, Prestige, Macht, Status.
3. Wir übersehen, dass unser inneres Glück und unser innerer Frieden vom Zustand unseres Geistes abhängt, nicht von äußeren Dingen.
Die Folge ist, dass wir abhängig sind und ständig damit beschäftigt, uns unsere Bedürfnisse zu erfüllen. Wir verwenden viel Energie darauf, die uns an anderen Stellen fehlt. Und wir kommen nicht zur Ruhe. Verhalten, das zu Brahman führt ist nicht von Konsum und Besitz abhängig.
Alles, was wir zu sehr begehren und meinen, es unbedingt „haben zu wollen“ oder gar „haben zu müssen“ kann auf Dauer zu Problemen führen. Natürlich gilt es hier, zwischen gesunden und ungesunden „Gewohnheiten“ zu unterscheiden, aber selbst Sport oder Yoga kann zu einer Sucht werden.
Das Yogasutra bietet einen Weg und verschiedene Methoden, Mittel (YS 2.26, upāya), die yama zu entwickeln:
- Das Körperbewusstsein schulen und die Energie lenken durch die āsana
- Energie durch bewusstes Atmen und spezielle Atemtechniken – prānāyāma – lenken
- Den Geist – citta- d.h. die Gedanken und Gefühle mit Hilfe von prānāyāma zur Ruhe kommen lassen, wodurch unsere Bedürfnisse und unsere Bedürfnislosigkeit uns bewusst werden
- Meditation (dhāranā und dhyāna) über die Bedürfnisse, Ursachen und unser falsches Wissen oder die Verwechslung darüber, wo wir wirklich unser Glück und unsere Freiheit finden (avidyā)
- Die Auswirkungen von brahmacharya nach dem Yogasutra: “Handlung im Bewusstsein des Absoluten bringt Lebenskraft.”
Das Yogasutra besagt, dass jemand, der stabil im Zustand von brahmacharya lebt, einen Zugewinn an Energie erlebt. Die Anstrengungen, die aus den Bedürfnissen resultieren, können reduziert werden. Die Energie wird gebündelt und zielgerichtet eingesetzt. Und weil er so in der Lage ist, sie dorthin zu lenken, wo er sie nutzen möchte, erlebt der Mensch einen Energieschub. Alles was jemand in diesem gesammelten Zustand sagt oder tut, entfaltet eine große, kraftvolle Wirkung.