Eine aktuelle Frage lautet: Wie wollen wir nach den Erfahrungen mit dem Lockdown weiterleben? Was möchten oder müssen wir ändern? Yoga und das Yogasutra, im besonderen die yama können uns führen und leiten. Das gilt für das Leben im allgemeinen und besonders in Phasen wie diesen.
Die yama im Yogasutra:
Yama (YS 2.29-2.31, 2.35-2.39) ist ein vielschichtiges Konzept im Yogasutra. Es kann nur unzulänglich und oberflächlich mit einem Wort übersetzt werden. Und es losgelöst vom Konzept zu betrachten führt zu unzutreffenden Interpretationen. Auch könnten die yama, isoliert betrachtet, missbräuchlich verwendet werden und Schaden anrichten. Deshalb wird der Begriff an dieser Stelle von vielen Seiten beleuchtet und mit dem Konzept von Yoga vernetzt. So wird zunächst der Boden bereitet für eine angemessene Betrachtung des jeweiligen yama.
Grundsätzliches:
Yama besteht aus fünf Begriffen, die ihrerseits jeweils komplex sind. Auf den ersten Blick erscheinen sie wie Verhaltensregeln im Umgang mit allen Wesen, der Natur und der Welt. Zusammen mit den fünf niyama werden sie manchmal mit den zehn christlichen Geboten verglichen, mit denen es Gemeinsamkeiten gibt. Auch im Buddhismus gibt es sehr ähnliche Begriffe. Ihre Funktion ist aber davon verschieden, wie im folgenden erläutert wird.
Sie sind in die jeweilige Zeit und Gesellschaft zu „übersetzen“. Ihr Kern bleibt, aber die Hülle passt sich an, sonst machen sie keinen Sinn. Die wörtliche Übersetzung ist eine Sache, aber ihren Sinn zu be-greifen und zu er-fassen ist das wesentliche.
Die yama heute:
Wenn es darum geht, unsere eigenen Werte in unserer Gesellschaft zu hinterfragen, wie z.B. zum jetzigen Zeitpunkt, lohnt es sich, auf die yama zu schauen. Sie geben uns inneren Halt und Orientierung. Je stabiler wir selbst sind, desto mehr wirken wir stabilisierend auf unsere Mitwelt.
Die yama sprechen auch Menschen an, die dem Yoga nicht nahestehen, weil es sich um grundsätzliche, kulturübergreifende, zeitlose, ethische menschliche Werte handelt.
Die fünf yama sind: 1.ahimsā (Gewaltlosigkeit/Nicht verletzen) 2.satya (Wahrhaftigkeit) 3.asteya (Nicht stehlen) 4.brahmacarya (Enthaltsamkeit) 5.aparigraha (Anspruchslosigkeit).
Wofür sind yama wichtig?
Um yama zu verstehen, muss man sie in den Zusammenhang des ganzen Konzepts des Yogasutra stellen. Das Ziel von Yoga ist ein Bewusstseinszustand, der die Grenzen unseres Verstandes überschreitet. Alles, was in diesem alten Text vermittelt wird, dient dem Erreichen dieses einen Ziels.
Warum ist es erstrebenswert, unseren brillianten Verstand zu überschreiten? Die Erfahrungen, die wir mittels unseres Verstandes machen, sind durch seine Prägungen und Fähigkeiten begrenzt. Unser Geist ist die Summe unserer bisherigen Erfahrungen. Daraus resultiert seine Subjektivität und Beschränktheit. Dieser Geisteszustand führt dazu, dass wir am Leben, an Situationen und an uns selbst leiden und dass wir uns über die Wirklichkeit täuschen. Das Yogasutra erläutert dies sehr ausführlich im ersten und zweiten Kapitel. Es gab bzw. gibt Menschen, die einen inneren Zustand, ein anderes Bewusstsein erlebt haben, das unbegrenzt ist, die Realität erfassen kann und frei von Leid ist (YS 1.3). Jeder Mensch ist in der Lage, dieses Bewusstsein zu erlangen, wenn er bestimmte Voraussetzungen dafür schafft:
1. Die Gedanken und Gefühle kommen zur Ruhe. Das ist entscheidend, denn es ist unmöglich, diesen Zustand zu erreichen, wenn unser Geist permanent mit unseren Gedanken und Gefühlen beschäftigt ist.
2. Der Geist muss geklärt sein von sogenannten Störungen, den klesa (YS 2.2) und Hindernissen, antarāya (YS 1.30 ff). Sie lenken uns ab und halten den Geist ständig in Bewegung (vritti). Er muss ungestört sein.
Zusammengefasst: Wir brauchen einen stillen und ungestörten Geist für das unbegrenzte Bewusstsein. Die fünf yama tragen dazu bei, unseren Geist zur Ruhe kommen zu lassen. Und zwar in jedem Moment, im hier und jetzt. Sie sind nicht auf eine ferne und ungewisse Zukunft ausgerichtet.
Es geht hier nicht um Regeln im herkömmlichen Sinne. Deshalb bedarf es einer anderen Herangehensweise. Gegen Regeln kann man verstoßen oder sie nicht einhalten mit der Konsequenz, dann getadelt oder bestraft zu werden, im schlimmsten Fall (jedenfalls für Christen) mit der Hölle oder dem Fegefeuer. Diese negativen Konsequenzen gibt es bei den yama nicht. Das Befolgen oder Einhalten von Regeln bringt hingegen üblicherweise Belohnung, entweder im Diesseits oder im Jenseits – im Himmel oder Nirwana. Diese positiven Konsequenzen erfolgen bei den yama ebenso wenig wie die negativen. Es ist nicht die Aufgabe der yama uns geistig, moralisch oder emotional zu disziplinieren, damit wir bestimmten Erwartungen entsprechen. Ob oder in welcher Form wir im Yoga und in unserem Leben die yama integrieren, bleibt immer unsere eigene Entscheidung.
Für wen sind die yama wichtig?
Das Yogasutra richtet sich an uns Menschen mit unseren alltäglichen Problemen und Schwierigkeiten, die uns nicht zur Ruhe kommen lassen. Es bietet uns als Alternative den leidfreien Bewusstseinszustand, drasta, samadhi, kaivalya und einen Weg dorthin. Es gibt uns Werkzeuge an die Hand, die uns dazu befähigen.
Der achtgliedrige Pfad (YS 2.26 ff.) und die yama:
Das alles schickt das Yogasutra vorweg, bevor es in der Mitte des zweiten Kapitels zum achtgliedrigen Pfad und den yama kommt. Der Weg in den anderen Bewusstseinszustand wird der achtgliedrige Pfad, astanga (as=acht, anga=Glieder) genannt. Der Mensch wird auf diesem Weg auf allen Ebenen von den Störungen und Hindernissen befreit: Körper, Geist und Psyche. Wenn es auf einer der Ebenen noch eine Störung gibt, wirkt das auf die anderen Ebenen. Es ist dann nicht möglich, in den Zustand von innerer Ruhe zu kommen und den anderen Bewusstseinszustand zu erfahren.
Dieser achtgliedrige Weg beginnt, auf den ersten Blick vielleicht erstaunlich, nicht mit den āsana und auch nicht mit Meditation, den uns bekanntesten Gliedern. Er beginnt mit den yama. Zusammen mit den niyama sind sie der Boden für die anderen Glieder.
Indem wir die yama mehr und mehr in uns kultivieren, verändern wir unseren bisherigen inneren unruhigen und gestörten Zustand in Richtung des neuen Zustandes. Je mehr uns die yama „in Fleisch und Blut“ übergehen, desto stiller und ungestörter wird unser Geist, desto mehr bewegen wir uns hin zu dem unbegrenzten Bewusstseinszustand. Wir erleben die yama dann nicht als Einschränkung sondern als Befreiung von alten Mustern.
Ein nur rationaler Umgang mit den yama reicht nicht. Die yama sollen uns helfen und dienen, nicht wir ihnen, indem wir uns formal nach ihnen verhalten. Die yama sind nicht einfache Regeln um der Regeln willen.Es geht nicht um den äußeren Schein, sondern die innere Haltung. Erst wenn sie zu unserer tiefsten Überzeugung geworden sind, entfalten sie ihre Wirkung. Andernfalls können wir uns und anderen auch schaden.
Wie können wir uns den yama nähern?
Da der Yogaweg ein Weg der Selbstentwicklung ist, geht es um unseren persönlichen, individuellen Umgang mit den yama. Natürlich können wir uns auch die yama in der Welt anschauen, aber wir sollten nicht in die Falle tappen, andere mit den Maßstäben der yama zu beurteilen oder sie sogar einfordern.
Eine einfache Methode dieser Selbsterforschung sind die āsana und Meditation. Wir können z.B. ein yama zum Thema unserer Yogapraxis machen. Wie kann eine gewaltfreie/-lose Yogapraxis aussehen?
Auf der Matte können wir uns selbst beobachten, wie wir mit ahimsa umgehen: Übe ich gewaltfrei oder zwinge ich meinen Körper und meinen Atem in eine Form, die ihm schadet? Achte ich auf Schmerz und akzeptiere ich die Grenzen? Achte ich auf eine gesunde Ausführung bzgl. der Gelenke, Wirbelsäule, Muskeln? Das kann ein Spiegel sein, wie wir auch im Alltag mit uns, bewusst oder unbewusst, und möglicherweise auch mit anderen, umgehen.
In der Meditation können wir über ein yama meditieren und/oder unsere Gedanken und Gefühle beobachten, ob wir gerade wohlwollend oder verletzend, übergriffig, tolerant, großzügig, genügsam oder zufrieden sind.
Der innere Zustand ist für die Qualität der Körperpraxis (āsana) als auch der Meditation entscheidend. Es ist daher nachvollziehbar, dass die yama vor diesen anderen Gliedern thematisiert werden. Ihre Position macht deutlich, dass der innere Zustand eine Körperpraxis zu einer Yogapraxis macht. Darin liegt der Unterschied zum Sport.
Mit den yama beginnt die innere Transformation. Sie sind nicht dessen Ende. D.h. wir müssen nicht von Anfang an „perfekt“ darin sein. Sie sind hohe Ideale zu denen wir uns hin entwickeln. Wir dürfen uns deshalb nicht überfordern. Wir sollten mit abhyāsa, Geduld und dem beharrlichen Bemühen und vairāgya (YS 1.12ff), also ohne Verbissenheit, mit ihnen umgehen. Das schützt uns vor falschen Schlüssen und Resignation. Das ist ein Beispiel dafür, wie wichtig es ist, die yama im Zusammenhang und nicht isoliert zu betrachten.
Die yama sind in verschiedener Hinsicht wertvoll:
1.Sie können uns ein Geländer sein, an dem wir uns auf dem Weg entlang hangeln können. Sie bieten uns Halt und Orientierung.
2.Indem wir uns darum bemühen, die yama immer mehr als inneren Zustand zu festigen, werden wir eine größere innere Ruhe und Zufriedenheit spüren.
3.Indem wir unsere generelle innere Haltung und aktuelle Befindlichkeit anhand der yama überprüfen, können wir erkennen, wo wir gerade auf unserem Weg sind, ob wir noch auf Kurs sind und was wir ggf. noch verändern sollten.
4.In unserer Zeit mit gravierenden Veränderungen, Umbrüchen und Neuorientierung können uns die Werte in Form der yama eine stabile innere Ausrichtung geben, uns innerlich zur Ruhe kommen und einen guten Weg finden lassen.
Sie können unser innerer Kompass sein.
Für eine erfolgreiche Verankerung der yama in uns ist das Grundverständnis über ihre Natur, ihre Aufgabe und ihre Einbindung in das ganze Konzept von Yoga wichtig. Auf der Basis dieses Grundverständnisses können wir uns in unserem Alltag, auf der Matte, in der Meditation und in den folgenden Beiträgen mit ahimsā (Gewaltlosigkeit), satya (Wahrhaftigkeit), asteya (Nicht stehlen), brahmacarya (Enthaltsamkeit) und aparigraha (Anspruchslosigkeit) beschäftigen.