Yoga und Corona- Wie hilft Yoga jetzt?

   Bild: Patrice Schoefold/pexels

1. Viveka durch svadhyaya: Viveka bedeutet Unterscheidungsfähigkeit. Die Fähigkeit, zu unterscheiden führt zu Klarheit und Klarheit wiederum zu gezielterem Handeln. Gezielteres Handeln führt zu einem besseren Resultat und dieses dann zu Kraft und Ruhe. Um zu unterscheiden, müssen wir innehalten-und dazu werden die meisten von uns jetzt Zeit haben. Beides ist ungewohnt, wenn es nicht vorher geübt wurde- die Zeit dafür zu haben und die Reflektion/svadhyaya an sich.

Und hier beginnt schon die Unterscheidungsfähigkeit: Womit habe ich es gerade in meiner Situation zu tun- mit dem Virus selbst oder mit den Auswirkungen durch die Maßnahmen? Wenn das klar ist, können wir uns zielgerichtet um das eine oder/und um das andere kümmern und verzetteln uns nicht. Wir sind innerlich aufgeräumter und ruhiger. Und das ist momentan nicht nur für uns selbst, sondern auch für die Menschen um uns herum wohltuend.

Im „analogen“ wie im „digitalen“ Leben brauchen wir jetzt viel Unterscheidungsfähigkeit, Klarheit, innere Stabilität und Ruhe. Wir brauchen neben der körperlichen auch eine mentale oder psychische Hygiene. Wir sollten darüber nachdenken, wieviele und welche Information wir uns in den Medien verschaffen und mit welchen Textquellen wir uns stärken. Dieser Newsletter enthält verschiedene unterstützende und stärkende Quellen. Und jede/r hat ganz individuelle Quellen.

Nicht die Medien sind das Problem, sondern unser Umgang mit den Informationen. Auch können wir darauf achten, dass wir in unseren Gesprächen nicht in dramatische Szenarien verfallen, sondern uns und andere auch ausdrücklich stoppen. Die eigene Sensationslust sollte man dabei besonders im Auge behalten. Sie macht uns für derartige Nachrichten und Gespräche verführbar. Dazu die Geschichte von den 2 Wölfen: Welchen Wolf wollen wir in den kommenden Tagen und Wochen füttern?

Wenn das nicht funktioniert, können wir im uns im Extremfall vorübergehend auch von Menschen isolieren, die uns mit ihrer einseitigen negativen Sichtweise anstecken können. Sich dafür zur Verfügung zu stellen ist ganz sicher falsch verstandene Solidarität und hilft weder den anderen noch uns. Wir kämen ja auch nie auf die Idee, uns aus Solidarität mit dem Virus anstecken zu lassen.


2. Svadhyaya und Orientierungsphase: Unser Alltag ist in einem sehr großen Ausmaß von Routinen geprägt: Die morgendliche Routine, Arbeit, Aufgaben, regelmäßige Termine. Das wird uns oftmals erst dann bewusst, wenn sie fehlen. Diese Routinen spulen wir jahre- teilweise unser ganzes Leben lang ab, denn Menschen lieben Routinen. Wir lieben nicht jede Routine, z.B. nicht die tägliche Fahrt im Stau oder in der vollen Bahn, sondern wir lieben die Routinen an sich. Sie geben uns ein Gefühl der Sicherheit „Es ist alles so wie immer, es ist alles in Ordnung“. Deshalb kommt ein Gefühl der Unsicherheit auf, wenn eine Routine entfällt.

Das trifft nicht nur uns Erwachsene, sondern verstärkt auch die Kinder. Kinder können die Zusammenhänge und Gründe nicht begreifen, weshalb es sie, je jünger um so mehr, besonders verunsichert. Deshalb brauchen sie gerade jetzt neue Routinen bzw. die Sicherheit durch ihre Bezugspersonen. Sicherheit ist für Kinder ein existenzielles Bedürfnis, denn sie können sich noch nicht körperlich und emotional versorgen.

In einem Artikel über den Alltag formuliert es Norbert Blüm sogar so:„Die normalen Verhältnisse bieten ein Potenzial an Lust, das wir erst zu schätzen wissen, wenn wir es verloren haben“. Der frühere Bundesminister verdankt diese Erkenntnis der Tatsache, dass er seit einem Jahr an Armen und Beinen gelähmt ist. Der ganze Artikel mit bemerkenswerten Aussagen ist hier nachzulesen:https://rp-online.de/politik/deutschland/norbert-bluem-ex-politiker-berichtet-von-laehmung-nach-blutvergiftung_aid-49504809

Wenn unsere selbstverständlichen Routinen unvermittelt entfallen, kann Unsicherheit und Leere entstehen. Und dieses Gefühl zu spüren, anzuerkennen und nicht zu überspielen ist wichtig. Das ist svadhyaya: Reflektion, nicht nur mental, sondern auch durch das Fühlen. Das schafft innere Klarheit.

Jede Veränderung hat verschiedene Phasen. Wir befinden uns gerade in der Orientierungsphase. Unsere tägliche Routine ist deutlich gestört.  Wir haben jetzt plötzlich unverplante, freie Zeit. Wenn wir einen Urlaub oder ein Wochenende planen, können wir uns auf diese freie Zeit einstellen. Das ist jetzt nur sehr eingeschränkt möglich und kann sich anfühlen als sei man in einem falschen Film. Und nicht nur die Arbeitszeit ist nun frei, auch viele Freizeitaktivitäten sind nicht möglich. Das heißt, wir können diese freie Zeit nicht so einfach durch Freizeitroutine füllen.

Dadurch können unangenehme Gefühle von Unsicherheit, Angst, Ausgeliefertsein, Ohnmacht, Langeweile und Einsamkeit (trotz aller sozialen Medien inkl. Telefon) auftauchen. Diese Gefühle werden im normalen Alltag durch Aktivität verdeckt.

Sie sind in der Orientierungsphase völlig normal. Mit uns ist also alles in Ordnung. An diese Gefühle der Orientierungsphase erinnern sich Menschen aus der ehemaligen DDR sicher noch gut. Aber auch alle anderen kennen Orientierungsphasen in ihrem Leben. Jetzt besteht die Möglichkeit, sich dieser Situation bewusst zu stellen und so mit den Gefühlen umzugehen, dass die innere Stabilität und Kraft nicht erschüttert, sondern vielmehr gestärkt wird.

Wenn wir uns die Zeit der Orientierung erlauben und nicht durch Hektik stören, sucht sich unser Geist einen neuen Sinn. Weil uns die alten, vernünftigen Aufgaben nicht bedrängen, haben wir die Erlaubnis, Dinge zu tun, die bisher „in der zweiten oder dritten Reihe“ standen, wie es jemand formulierte. Es sind vielleicht Dinge, die uns am Herzen liegen, aber die „vernünftigen“ Aufgaben haben uns ganz beansprucht und es gab keine Erlaubnis dafür.

Die alte To-Do-Liste hat ihren Sinn verloren und kann in den Papierkorb entsorgt werden. Das schafft Platz für Neues. Vielleicht ist es auch einfach mal Zeit für Nichtstun. Schließlich haben wir gerade Fastenzeit. Und wir können ein „Aktionsfasten“ probieren.

Dazu ein inspirierender Audiobeitrag: Potcast: Miteinander?-Wie verändert Corona Ihr Denken? 

Es gibt einen Reflex, der uns einen Teil der verlorenen Sicherheit wieder geben oder uns vor dem Fühlen schützen soll:Schuldzuweisung. Wir glauben, wenn wir einen Schuldigen gefunden haben hilft uns das. Zuerst waren es- in den Medien wohlgemerkt! -die Chinesen („Wuhan-Virus“) oder die Europäer für den US-Präsidenten, bei uns sind es jetzt die Tiroler und die leichtsinnigen jungen Menschen, die die älteren Menschen gefährden.

Auf der einen Seite wird also Solidarität eingefordert und auf der anderen Seite werden Feindbilder produziert und wird die Gesellschaft wieder gespalten! Da brauchen wir viel svadhyaya und innere Klarheit, nicht auf diesen Reflex hereinzufallen. Wird es durch Schuldzuweisungen einen Infizierten weniger geben? Wohl kaum.

Ursachenforschung ist etwas anderes und sinnvoll- zu gegebener Zeit. Jetzt brauchen wir unsere persönlichen Ressourcen für andere Aufgaben. Das ist ein Beispiel wie Energie verschwendet wird, weil es an innerer Klarheit-viveka- fehlt.

Der vermeintliche Gewinn kann nur darin bestehen, dass man von sich selbst und den eigenen Gefühlen ablenkt. Das funktioniert nur kurzfristig. So wie eine Schmerztablette zwar kurzfristig wirkt, aber die Ursache nicht behandelt. Und die Ursache ist in diesem Fall unser inneres Gefühl und es sind nicht die Mitmenschen.


3. Abhyasa: Das bedeutet Disziplin, beharrliches Dranbleiben oder eine bewusste Routine.

Es kann einen fließenden Übergang geben von der anfänglichen Unsicherheit zu einer neuen Sicherheit. Wir können zunächst bemerken, was noch „wie immer“ ist und uns eine gewisse Sicherheit vermittelt: Die warmen Sonnenstrahlen, das Vogelgezwitscher, die aufblühende Natur, das Klappern der Mülltonnen und andere vertraute Geräusche. Und es bleiben auch die täglichen Aufgaben der Hygiene und der Nahrungsaufnahme. Sie zeigen uns: Das Leben geht weiter. Wir bleiben leichter in Balance und „kippen“ nicht in einen Zustand der Perspektivlosigkeit. Wir erleben den Alltag vielleicht bewusster und können ihn wertschätzen, wie auch Norbert Blüm.

Wie man trotz eingeschränkter Freiheit so mit sich umgehen kann, dass man innerlich stabil und gesund bleibt, beschreibt Nelson Mandela in seiner Biographie. Er verbrachte 27 Jahre seines Lebens ohne Unterbrechung im Gefängnis. Er schreibt: „Wenn man im Gefängnis überleben will, muss man Wege finden, um sich im täglichen Leben Zufriedenheit zu verschaffen. Man kann sich ausgefüllt fühlen, wenn man seine Kleidung so wäscht, dass sie besonders sauber ist, wenn man den Korridor völlig von Staub befreit oder indem man seine Zelle so einrichtet, dass sie möglichst viel Platz bietet. Den gleichen Stolz, den man außerhalb des Gefängnisses bei folgenreicheren Tätigkeiten empfindet, kann man sich drinnen verschaffen, indem man kleine Dinge tut.“*

Er hatte außerdem die Erlaubnis, einen Garten anzulegen und hat viel Zufriedenheit in dem Anbau von allerlei Gemüse gefunden, das dann den anderen Gefangenen und auch den Wärtern zugute kam.

Selbst im Gefängnis hat er Wege gefunden, sich mit anderen politischen Gefangenen weiterhin für die Befreiungsbewegung einzusetzen. Sie haben weiterhin Pläne geschmiedet und die Hoffnung nie aufgegeben. Gerade das wird im Yogasutra unter abhyasa verstanden: Das Ziel nicht aus den Augen verlieren.

Und auch ein ordentliches Sportprogramm gehörte für ihn dazu, denn „Ich merkte, dass ich in einem guten körperlichen Zustand besser arbeiten und klarer denken konnte….Im Gefängnis war es unbedingt notwendig, dass man ein Ventil für Frustrationen hat.**. Nach seinen Angaben ist er in Isolationshaft 45 Minuten in der Zelle auf der Stelle gelaufen, später hat er im Hof Dauerlauf und Muskelübungen praktiziert: u.a. 100 Liegestütze auf den Fingerspitzen, 50 tiefe Kniebeugen.

Wir können uns von ihm inspirieren lassen, was abhyasa bewirken kann: Wir bewahren uns mentale und körperliche Stärke durch bewusste selbstgeschaffene Routinen auch unter schwierigen Bedingungen. Der Begriff für diese Stärke ist Resilienz.

Dazu kann die Yogapraxis dieses Newsletters die Grundlage sein. Sie beinhaltet viele Übungen zur Balance. Denn über das Gegenteil-nämlich das Ungleichgewicht- erfahren und stärken wir unser Gleichgewicht.

*Nelson Mandela Der lange Weg zur Freiheit, Autobiographie, Spiegel-Verlag 2006/2007;S. 615

** ebenda, S. 617


Bild: Peter H/pixabay

4. vairagya- Loslassen

Wir können noch so sehr Experten befragen, spekulieren, analysieren, vermuten, befürchten, hoffen- die Zukunft ist auf die Themen Virus und Wirtschaft bezogen momentan sehr ungewiss. Wir wissen nicht wie die Entwicklung sein wird. Niemand weiß es. Wir sollten diese Vorstellungen (vikalpa im Yoga) loslassen.

Stattdessen können wir unsere Gedanken ausrichten auf das, was wir wissen, nämlich was heute getan werden kann/sollte/muss. Und das jeden Tag neu. Sich auf das Heute zu fokussieren, stärkt uns. Alles andere schwächt uns.

Beppo“ aus dem Buch Momo von Michael Ende kann uns ein Vorbild sein, indem er sich auf das fokussiert, was gerade zu tun ist und ansteht. Immer den nächsten Besenstrich, den nächsten Atemzug-übertragen auf uns: Immer diesen einen Tag im Blick zu haben. Das gibt uns Kraft für unseren Alltag und um durchzuhalten. Wir geraten nicht außer Atem. Das gibt uns auch die innere Sicherheit, die uns momentan außen fehlt! Denn wir merken, wir können etwas tun, wir sind nicht ohnmächtig. Und diese Sicherheit gibt uns mehr innere Klarheit und Ruhe. Auch das ist Resilienz.

„I cross that bridge when I come to it“ heißt es auf englisch. Ein schönes Bild.


5. Shraddha- Vertrauen
„Vertrauen ist gut-Kontrolle ist besser“ist ein geflügeltes Wort. Aber was ist, wenn trotz aller Maßnahmen keine vollständige Kontrolle möglich ist? Woher dann das Vertrauen nehmen?Zum einen kann durch jeden Tag, den wir gemeistert haben, das Vertrauen wachsen, dass wir auch den nächsten Tag bewältigen können.Zum anderen kann die gewonnene Lebenserfahrung uns Vertrauen schenken. Wir haben ganz verschiedene schwierige Situationen bestanden und unsere Fähigkeit, auf Schwierigkeiten reagieren zu können, erprobt.Diese Fähigkeit ist in uns vorhanden, denn wir kommen damit auf diese Welt. Sie gehört zu unserer Grundausstattung. Niemand muss sie uns geben oder kann sie uns nehmen. Wenn wir das verinnerlicht haben, können wir vertrauen. Das ist auch Urvertrauen, Vertrauen ins Leben. Diese Art von Vertrauen können wir jeden Tag aufs Neue üben. Denn natürlich gibt es immer wieder Momente von Angst. Wir haben beide Wölfe in uns. Wir können uns jedes Mal neu entscheiden: Für das Vertrauen oder für die Angst.Im Yoga kommt shraddha aus unserem tiefsten Wissen und Wesen, deshalb ist es nicht immer präsent. Es ist da. Und wenn wir dieses Vertrauen „anzapfen“, beunruhigt uns das Unbekannte weniger oder sogar garnicht. Dieses shraddha ist die Basis für das Loslassen, die innere Klarheit und den inneren Frieden.

Nelson Mandela, der übrigens am 11.2.1990, also vor genau 30 Jahren, aus dem Gefängnis frei kam, ist ein Beispiel für dieses unerschütterliche Vertrauen.