Für immer im Griff der klesa?- YS 2.3

Bild: Gerd Altmann_pixabay

Mit Blick auf bzw. in das Yogasutra spiegeln die Jahre 2020/2021 die klesa besonders deutlich. Dieser Beitrag beschäftigt sich aus dieser Perspektive, gewissermaßen aus einer Metasicht, mit den Ereignissen dieser bald zwei Jahre.

In den letzten Jahrzehnten kamen die klesa in der Gesellschaft mehr und mehr an die Oberfläche, aber wir konnten ihnen noch durch vielfältige Beschäftigungen ausweichen. Mit den Lockdowns wurden uns diese Ablenkungsmöglichkeiten genommen. Alternativen wie z.B. netflix oder andere Kanäle taugen nur bedingt für diesen Zweck. Selbst unsere Kontakte wurden eingeschränkt, wodurch wir radikal auf uns selbst zurückgeworfen wurden. Wenn wir uns schon vorher mit den klesa beschäftigt haben, war es dennoch eine Herausforderung, aber nicht überraschend und überwältigend. Wer bisher sich selbst ausgewichen ist und deshalb von einem Tag auf den anderen unvorbereitet in diese Situation katapultiert wurde, war vielleicht überfordert mit dem, was sich aus dem Innersten, den klesa, zeigte. Ein Zeichen dieser inneren Überforderung ist Gewalt gegen andere (Masken-/Nichtmaskenträger, Kinder, Frauen) oder gegen sich selbst (Sucht, Depression, Suizid). Therapeuten berichten von einem starken Zulauf und das wird nur die Spitze des Eisbergs sein. Die meisten Menschen werden sich keine Hilfe holen bzw. holen können oder wollen.

Aus der Perspektive des Yogasutra leben wir in einer Situation, die uns einlädt oder sogar auffordert, uns mit unseren klesa auseinanderzusetzen, nicht mehr vor ihnen davon zu laufen oder sie nicht mehr zu verdrängen und uns so von ihnen zu befreien. Das ist ein langfristiger und intensiver Weg.

Der erste Versuch einer Überschrift über diesen Beitrag lautete: „Die Welt im Griff der klesa“ weil es ein weltweites Thema ist. Dieser Gedanke- und klesa sind Gedanken- zeigt die Funktionsweise und die Wirkung von klesa, speziell avidyā, der Täuschung und des Irrtums. Da es sich um Gedanken handelt, kann nicht „die Welt“ betroffen sein. Schon im Verhältnis zu den Myriaden von Insekten (die wir gerade erfolgreich dezimieren), Bakterien, u.a. im Boden, im Darm, auf der Haut, Viren und anderen Kleinstlebewesen, dazu den vielen Millionen anderen Tierarten und der gesamten Pflanzenwelt sind wir denkende Menschen mit unseren gerade einmal 8 Milliarden eine unbedeutende kleine Zahl auf der Welt. Alle anderen Lebewesen auf dieser Welt sind, so der aktuelle Stand der Wissenschaft, nicht zu unserer Form des Denkens fähig und damit zwangsläufig frei von den klesa.

Der zweite Versuch: „Die Menschen im Griff der klesa“ Auch das ist eine Täuschung. Es gibt Berichte von Menschen, die davon mehr oder weniger frei zu sein scheinen. Menschen, die furchtlos, altruistisch, genügsam und entspannt leben. Sie strahlen Freiheit und Würde aus unabhängig von ihrem sozialen oder materiellen Status oder ihren Lebensumständen.

Der dritte Versuch: „Für immer im Griff der klesa?“ bezieht sich darauf, dass die klesa kein neues Phänomen sind, sondern schon im Yogasutra vor 2000 Jahren und auch im noch älteren Buddhismus thematisiert wurden. Beide Quellen zeigen einen Weg aus dem Dilemma, aber er scheint so schwer zu sein, dass es bis heute nur den wenigsten gelingt. Besteht also noch Hoffnung oder müssen wir, bis auf wenige Ausnahmen, für immer im Griff der klesa leben? Unter den zu Anfang geschilderten Bedingungen scheint jetzt eine günstige Situation dafür zu sein, davon frei zu werden, zumal wir nicht von existenziellen und realen Sorgen wie Krieg oder Hungersnot bedroht sind, sondern den „Luxus“ haben, uns auf einer relativ sicheren Basis um unser Innerstes kümmern zu dürfen.

Die fünf klesa sind laut dem Yogasutra die Ursache für unser Leid, sie verwirren unseren Geist und verhindern das Erkennen der einen vollständigen Wahrheit und Realität. Sind das nicht gute Gründe, sich näher mit ihnen zu beschäftigen?


1. Die (Selbst-)Täuschung

Die Verwirrung oder Täuschung (avidyā YS 2.3-2.5 und 2.25 ) zeigt sich in Form von Problemen, Missverständnissen, Frustration, Enttäuschung, Gewalt, Wut, Ärger, Verletzungen usw. Alles das sind die Ergebnisse unserer Täuschung, die auf falschem oder fehlendem Wissen beruhen, so der Text. Lange vor den berüchtigten fake-news wurden die Menschen auch schon vor 2000 Jahren getäuscht. Allerdings war die Erkenntnis damals: Es liegt an der Funktionsweise des Geistes und nicht an der Welt. Wir täuschen uns selbst. Die gute Nachricht ist: Dann haben wir es auch in der Hand, die Täuschung aufzulösen. Genau das ist Yoga.

Eine Täuschung, die aus den klesa resultiert, wurde uns in den letzten beiden Jahren deutlich vor Augen geführt: Es gibt keine allumfassende Sicherheit. Das war eine schwere Erschütterung unseres Selbst-und Weltbildes. In dem vermeintlich sichersten Teil der Welt mit einer riesigen Wissenschafts-und Gesundheitsmaschinerie sind wir nicht sicher, weder körperlich noch wirtschaftlich. Und die Gefahr deutete sich nicht an, sondern die Sicherheit war von einem auf den anderem Tag weg.

So ist das Leben und war es schon immer. Wir wurden radikal auf uns selbst zurück geworfen und haben jetzt die Möglichkeit uns damit auseinanderzusetzen und die Tatsache nicht weiter zu verdrängen. Damit befreien wir uns in diesem einen Punkt aus den klesa. Wir sind dann innerlich für die Zukunft besser vorbereitet auf überraschende und unangenehme Situtionen. Wir gewinnen eine innere Sicherheit, Gewissheit und Klarheit und stehen stabiler im Leben.

Wir können uns auch weiter täuschen und glauben, wir können durch Masken und einen Impfstoff zu unserer vertrauten Scheinsicherheit zurückfinden oder sogar das Virus ausrotten (s. Eingangsbemerkung Myriaden von Viren). Natürlich können wir Masken tragen und uns impfen lassen-in dem Bewusstsein, wir sind trotzdem nicht sicher. Dann tun wir das aber nicht aus dem klesa avidyā, sondern aus anderen Gründen und aus einem klaren Bewusstsein.

Wir können uns jetzt weiter fragen:
-Welche anderen Täuschungen gibt es noch in meinem Leben?
-Was halte ich für unbedingt notwendig, wichtig und bringt mich damit in eine Zwangshandlung oder -haltung, die mir nicht gut tut?
-Was geringschätze ich?
-Welche Überzeugungen sind zu hinterfragen?

So können wir eine Täuschung nach der anderen entlarven. Sie kann sich nur durch Erkenntnis auflösen. Wir entfernen wie bei einer Zwiebel eine Schicht nach der anderen. Dafür brauchen wir Stille, Ruhe, Zeit und Rückzug statt darüber zu jammern, was alles nicht möglich ist. Das war und ist die Chance dieser Zeit für diejenigen, die sie erkennen und sich darauf auch einlassen wollen. „Ent-Täuschung ist etwas Positives. Sie befreit von einer Täuschung“. Das kann zum Teil erschütternd sein. Und damit gilt es umzugehen- oder in der Täuschung weiterzuleben.


2. Das Ego

Die grundlegendste Täuschung ist die Täuschung über uns selbst (asmitā YS 2.3/2.6). Um in der Welt zu kommunizieren und zu agieren, haben wir uns als Menschen ein Ego geschaffen. Wir nennen das Ego unser Ich. Dieses Ego/Ich ist nicht stabil, sondern veränderlich: Mal fühlen wir uns gut, mal schlecht, mal gesund, mal krank. Was ist dieses Ego? Es ist unser gedankliches Konstrukt über uns, bestehend aus der Summe unserer Erfahrungen, den Schlussfolgerungen und Erkenntnissen, die wir daraus gezogen haben. Sie machen unser Selbstbild aus. Vieles davon haben wir als kleines Kind erworben, sodass wir nicht mehr wissen, dass es erworben ist und wir uns damit identifizieren. Wir halten das Ich für die unumstößliche Wahrheit über uns: Wir haben nicht einen Körper, sondern sind dieser Körper, wir haben nicht einen Namen, sondern sind dieser Name,…, diese Sprache, diese Gewohnheiten, dieses Selbstbild. Unsere Identifikation mit diesen Attributen hat Konsequenzen, die sich in Form der nächsten drei klesa zeigen.

Manche Menschen allerdings fragen sich, ob das alles ist oder ob wir etwas anderes sind und nennen das Andere „Seele“. Im Gegensatz zum Ego ist die Seele unsterblich, unverletzlich und voller Weisheit. Ist das wahr? Oder nur Wunschdenken um sich der Endlichkeit des Lebens zu entziehen? Die Menschen, die nach der Antwort gesucht haben, haben sie im Yoga, in der Mystik oder auch in der Religion gefunden: Wir sind mehr als unser Ego. Es ist schwer zu beschreiben, weil die Erfahrung außerhalb unseres Ego und unseres Verstandes liegt. Manche nennen es Seele, andere „atman“ oder einfach „das Namenlose“. Was immer es ist, es ist unveränderlich, unsterblich, allwissend und deshalb weiß es um seine Unsterblichkeit. In diesem Zustand lösen sich die klesa auf, denn sie ergeben keinen Sinn mehr. Wir sind frei davon, werden nicht von ihnen beherrscht. Diese Menschen haben diesen Zustand durch Meditation oder einfach Erkenntnis erfahren. Es entspringt nicht ihrer Phantasie oder ihrem Wunschdenken.

Warum kennen wir diesen Zustand von uns nicht? Weil er verdeckt ist durch die klesa, durch die Täuschung.

Können wir etwas tun? Was können wir dann tun? Ein wichtiger Aspekt auf dem Yogaweg ist, die klesa zu reduzieren. Mit der Praxis des achtgliedrigen Pfades (astanga YS 2.28/2.29-2.45) gibt es einen Weg für uns. Wir suchen also im Yoga nicht diesen mysteriösen oder mystischen Zustand, sondern wir versuchen, die klesa zu erkennen und aufzulösen, denn dann ist unser wahres Wesen sichtbar. Wir suchen, bildlich gesprochen, nicht nach der Sonne, sondern versuchen, die Wolken aufzulösen, denn die Sonne ist schon da. Dieser Prozess dauert für uns sehr lange und ist für unseren Geist sehr schwierig zu verstehen. Das ist eine mögliche Erklärung, warum die klesa schon seit vielen tausend Jahren diese Macht über uns haben und es uns als Menschheit noch nicht gelungen ist, sie zu überwinden.


3. Das blinde, zwanghafte Festhalten oder Anhaften an den Identifikationen

Eine Konsequenz aus der Identifikation mit dem Ego ist das Festhalten an den Attributen, an unserem Selbstbild (rāga YS 2.3/2.7). Das ist die Täuschung, an der wir festhalten und uns in falscher Sicherheit wiegen (avidyā). Jedes Loslassen, jede Veränderung, etwa das Altern oder eine Krankheit, der Verlust von Arbeit und Besitz ändert ja nicht nur etwas an dem Objekt der Identifikation. Jede Veränderung mindert und bedroht die Existenz des Ego. Was ist das Ich ohne Körper oder mit Einschränkungen, ohne Arbeit und Besitz (Haus, Auto, Geld)? Die Folge: Das Ego ist dauernd besorgt, es könnte etwas verlieren und strengt sich permanent an, alles zu tun, damit der Fall nicht eintritt. Es reicht schon die Vorstellung. Der Verlust ist vielleicht nicht realistisch und tritt später oder garnicht ein, und dennoch nehmen wir dafür viel Anstrengung und sogar Nachteile auf uns: Im Beruf (Überlastung, Langeweile), in der und für die Familie (Harmonie statt Klärung, Doppelbelastung durch Pflege oder Erziehung), für das eigene Erscheinungsbild (Sport, Kleidung, Kosmetika, Operationen). Oder wer hat sich vor zwei Jahren vorstellen können, dass wir zwei Lockdowns in Kauf nehmen, wichtige Feste oder Ereignisse nicht mehr mit den liebsten Menschen verbringen, Kinder nicht draußen spielen dürfen oder in ihren Gruppen in der Kita oder Schule, wir nur noch über einen viereckigen Bildschirm kommunizieren und Menschen, das was ihrem Leben Sinn gegeben hat (Arbeit) nicht mehr tun dürfen? Auf der Ebene der klesa gaben/geben die Maßnahmen dem Ego das Gefühl von Sicherheit und Kontrolle.

Aus der Sicht des Yoga war die Zeit der Lockdowns eine Chance, die klesa im eigenen Leben zu erkennen, weil es schlichtweg nicht möglich war, an den Objekten festzuhalten. Sie wurden uns genommen. Und die Zeit wurde von vielen Menschen genutzt, um sich klar zu werden, was dem eigenen Selbst wirklich wichtig ist, was wirkliche innere Sicherheit gibt und dauerhaft glücklich macht oder was aus den klesa kommt (auch wenn sie den Begriff nicht kennen).

-Wo unterliegen wir der Täuschung, dass wir die Erfüllung unseres Sicherheitsbedürfnisses, unseres Wohlbefindens und sogar unseres Glücks in der Welt finden statt in uns selbst?
-Was bleibt, wenn sich die Umstände dramatisch verändern und das ganze Äußere nicht mehr trägt? Diese Erfahrungen durften wir machen. Dies ist ein Gewinn an Lebensqualität und hilft uns in zukünftig schwierigen Situationen.

Als die Maßnahmen reduziert wurden-was geschah? Da war für viele die Devise: So schnell wie möglich wieder zurück zum alten Zustand. Dann bin ich wieder sicher-sagt sich das Ego. Ein blindes Festhalten, zum einen um sich wieder auf sicherem Terrain zu wähnen und zum anderen, um sich selbst wieder ausweichen zu können, denn das ist einerseits kurzfristig weniger anstrengend und andererseits verschafft man sich auf gewohnte Weise wieder kurzfristig Wohlbefinden und Glücksgefühle.

Wichtig: Es gibt auch durchaus sinnvolle und notwendige Aktivitäten im Beruf, in der Familie und im Sport. Das gilt es zu unterscheiden. Aber wenn der Antrieb aus der Täuschung kommt, blind, unreflektiert, zwanghaft aus dem Festhalten oder Aufrechterhalten einer Situation, dann bekommt es einen krankhaften und schädigenden Zug- für die Person selbst und das Umfeld. Das ist und bewirkt ein klesa.

Rāga bedeutet auch Gier, immer mehr haben zu wollen, nie genug zu haben. Auch das ist in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher geworden. „Die Schere geht auseinander“ wird die Entwicklung euphemistisch von denen umschrieben, die auf der bequemen Seite der Schere sind.

Auch die Gier hat sich in dieser Zeit überdeutlich gezeigt: Angefangen vom Hamstern von Toilettenpapier und anderen Artikeln, über Betrug der Beihilfen, die Maskendeals oder der Betrug in den Testzentren, um einige Beispiele zu nennen. Hier geht es ja für die Menschen nicht ums Überleben, sondern es ist blinde Gier. Je mehr ich habe, desto sicherer und glücklicher bin ich, sagt das Ich. Es geht nicht nur um Status, denn es zieht sich durch alle soziale Schichten und nicht darum, sich für besonders clever zu halten, denn genau dann käme es nicht vor. Auch gebildete Menschen sind nicht vor der Gier gefeit. Das Gegenteil ist der Fall, weil sie noch mehr Möglichkeiten haben, ihre Gier zu befriedigen. Sie sind der Versuchung noch mehr ausgesetzt.

Rāga ist die blinde Gier. Und dahinter steht die Täuschung 1. je mehr ich habe, desto mehr ich bin 2. je mehr ich habe, desto sicherer und glücklicher bin ich. Teilweise und kurzfristig mag das sein, aber langfristig funktioniert es nicht, weil es nicht die Wirklichkeit, sondern eine Täuschung ist.

Wie ist es mit der eigenen Gier? Was glauben wir haben zu müssen für unsere Sicherheit und unser Glück über unseren Bedarf zum Leben hinaus?

Auch hier brauchen wir Unterscheidungsfähigkeit (viveka): Es geht nicht darum, sich jede Freude und Bequemlichkeit zu verbieten oder mit schlechtem Gewissen zu leben. Im Gegenteil: Wir sind zufriedener und glücklicher, weil wir uns nicht mit einem Ersatz zufrieden geben, sondern das wählen, was uns tiefgreifende Zufriedenheit bringt. Es geht darum, WARUM wir etwas zu brauchen glauben. Und was nehmen wir dafür in Kauf? Alles hat seinen Preis, nicht nur den finanziellen, sondern auch den unserer Lebenszeit, der Zeit in der Natur, mit Menschen, Zeit für Stille.


4. Das blinde, zwanghaft Ablehnen und Abwehren

So wie das Ich alles festhalten will, was seine Existenz auszumachen und zu sichern scheint, so lehnt es alles ab, was eine Bedrohung sein könnte (dvesa YS 2.3/2.8). Ob dies eine reale Bedrohung oder eine Täuschung ist wird nicht hinterfragt. Das Abwehren, das sich auch hinter Arroganz und Überheblichkeit verbergen kann, weil dann die Angst und Bedrohung nicht gefühlt werden muss, führt zu einer Trennung von anderen. Wir können nicht mehr im Kontakt sein, selbst wenn wir gerade zu jemandem sprechen. Wir sprechen dann nicht mit- oder zueinander, sondern sind in den eigenen Abwehrmechanismen gefangen. Wie weit wir uns persönlich und in der Gesellschaft voneinander entfernt und getrennt haben, tritt auch jetzt als Phänomen besonders zutage. Wir müssen sogar von einer Spaltung der Gesellschaft sprechen, quer durch Familien und Freundschaften, also persönlichen Bindungen. Die Spaltung ist nicht neu, war aber verdeckt: Bildungsnahe und -ferne Menschen, die Menschen mit Einkommen und mit sehr geringem Einkommen bis hin zu „Hartz IV“. Auch hier war einem Teil der Gesellschaft die Teilhabe am menschlichen und gesellschaftlichen Leben verwehrt. Dies sah man aber nicht. Sie haben es still akzeptiert, ihre Nische gefunden. Auch diese Millionen Menschen könnten demonstrieren und vielleicht bleibt ihnen über kurz oder lang keine andere Wahl. Jetzt wird ganz offen Menschen die Teilnahme am gesellschaftlichem Leben genommen. Eine weitere Form der Spaltung. Eine mögliche Gefahr soll abgewehrt werden ohne dass es bisher Beweise für die Wirksamkeit und die Verhältnismäßigkeit gibt. Was macht das mit uns? Mit unserem Miteinander?

Dvesa kann sich aber nicht nur gegen Menschen, sondern auch gegen Meinungen richten. Anderslautende Meinungen regen im besten Fall zum Nachdenken und Überprüfen der eigenen Position an. Im schlechten Fall werden sie vom Ego als bedrohlich empfunden und werden deshalb als Schutzmechanismus gemieden, verdrängt, geleugnet oder diffamiert. So muss man sich nicht selbst infrage stellen, denn auch mit unseren Überzeugungen sind wir identifiziert. Und jede Kritik, die nicht reflektiert wird, wird als Angriff auf das Ich interpretiert, bekannt als narzisstische Kränkung. Wieviel Leid dadurch entstehen kann sehen wir aktuell auch sehr deutlich.

Das Abwehrverhalten, dvesa, führt zu einer Trennung und damit zur Verhinderung eines echten Kontaktes und verstärkt das Leid bei sich und anderen. Gerade die gesellschaftliche Situation jetzt macht es uns leicht, unsere eigenen, unreflektierten Abwehrmuster zu erkennen und von sinnvollem und notwendigem Abwehrverhalten zu unterscheiden.


5. Die Angst

Aus einer grundlegenden Täuschung über unser wahres Selbst, unsere wahre Existenz entsteht das letzte klesa: Die Angst- abhinivesa YS 2.3/2.9. Angst löst die klesa Gier und Abwehr aus. Abhinivesa ist jede Art von Angst- ob real oder in der Vorstellung, z.B. ein Geräusch in der Dunkelheit, ob klein oder existenziell. Die Angst ist ein wichtiger Überlebensmechanismus bei realer Bedrohung ohne den unsere Vorfahren nicht lange gelebt hätten und es uns vielleicht nicht gäbe. Diese Angst meint Yoga nicht.

Abhinivesa ist jede Art von Angst vor dem was uns bedrohen könnte, z.B. Krankheit, Verlust des Einkommens, des Lebensstandards, des sozialen Status und die Angst vor dem Unvermeidlichen: unserem physischen Tod oder dem Tod von Angehörigen. Und diese Angst hat uns im Griff: Die einen haben Todesangst vor dem Virus, die anderen vor der Injektion. Zunächst ist beides eine Vorstellung und nicht real- aber ja: sowohl aus dem einen wie dem anderen Grund könnten wir sterben. Für beide Fälle gibt es tatsächliche Belege. Und wie sehen die aus? Laut einer offiziellen Statistik (28.10.2021) infizierten sich bisher weltweit 246.247.824 Menschen (=3,2%). Davon starben bisher (28.10.2021) weltweit 4.995.957 Menschen an Corona. Laut dieser Statistik beträgt die Todesrate („Letalitätsrate“) damit weltweit im Schnitt 2,02%. (Gesamtbevölkerung Mai 2020: 7.800.000.000 Menschen (Wikipedia). https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1103240/umfrage/entwicklung-der-weltweiten-todesfaelle-aufgrund-des-coronavirus/

In manchen Teilen der Welt werden viele Menschen aufgrund von Gewalt, Hunger, schlechter Bildung (=schlechte Lebensbedingungen), fehlendem Zugang zu sauberem Wasser, anderen hygienischen Bedingungen oder fehlendem Gesundheitssystem sterben. Wie würde es uns gehen, wenn wir diese „Inzidenzen“ jeden Tag lesen oder hören würden?

„Bei insgesamt 36 291 Todesbescheinigungen war im Jahr 2020 laut vorläufigen Daten der Todesursachenstatistik COVID-19 als Erkrankung vermerkt. In 30 136 Fällen war dies die Todesursache, in den anderen 6 155 Fällen war es eine Begleiterkrankung“. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Todesursachen/_inhalt.html    Die Zahlen für Deutschland für den 28.10.2021: Bisher (kumuliert) Infizierte: 4.559120, davon verstorben: 95.606, das sind 2,1% der Infizierten.

Zu den Impfungen wurden laut Sicherheitsbericht des Paul-Ehrlich-Instituts bis 31.8.2021 insgesamt 156.360 Verdachtsfälle für alle 4 Covid Impfstoffe gemeldet. Davon 4.534 Todesfälle (2,9%).  Bis zum 31.08.2021 wurden laut Angaben des Robert Koch-Instituts 101.877.124 Impfungen durchgeführt. Die Sterberate bezogen auf die Impfungen beträgt also 0,004%. https://www.pei.de/SharedDocs/Downloads/DE/newsroom/dossiers/sicherheitsberichte/sicherheitsbericht-27-12-bis-31-08-21.pdf" target="_blank?__blob=publicationFile&v=6

In Deutschland starben in 2020 an Herz-Kreislauferkrankungen 331.200 Menschen, an Krebs 231.300 und an Krankheiten des Atemsystems 67.000 Menschen.

Was würde es mit uns machen, würden wir jeden Tag die Anzahl dieser Toten erfahren? Würden wir uns dann auch ständig testen, schließlich ist die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung bis zu 10x so hoch? Wo enden wir, wenn wir uns von unserer Angst beherrschen lassen? Müssen wir dann vielleicht bei einem Bewerbungsgespräch einen Test vorlegen? Oder wenn wir eine Versicherung oder einen Kredit abschließen?

Können uns Zahlen Sicherheit geben? Wieviel Zeit lohnt es sich, dafür zu investieren? Oder sollten wir uns sinnvollerweise mit unserer Angst auseinandersetzen?

Die Angst nimmt seit März 2020 täglich einen großen Raum ein, zumindest in den Medien und auch in unseren Gedanken. Wir konnten vorher im Alltag durch unsere Geschäftigkeit das Gefühl von abhinivesa vermeiden: Arbeit, diverse Freizeitvergnügen, Urlaub. Das Sterben und den Tod verbannen wir gern aus unserer Gesellschaft und aus unserem Leben- wieviele Menschen machen aus dem Grund keine Patientenverfügung und kein Testament? Aber mit Corona wurde das Leid und der Tod sichtbar, weil es täglich von den Medien präsentiert wurde und wird. Der Lockdown und die Maßnahmen haben uns mit dem Thema unserer Vergänglichkeit konfrontiert.

Das ist eine Chance, sich mit seiner persönlichen Angst vor dem Tod auseinanderzusetzen, statt sich immer wieder mit den Zahlen zu beschäftigen. Und damit gleichzeitig mit unserer Angst vor dem Leben, denn die Angst vor dem Tod spiegelt sich in der Art und Weise wie wir leben. Zum einen vermeiden wir Risiken und verpassen damit möglicherweise Chancen, zum anderen müssten wir im Bewusstsein unserer Sterblichkeit vielleicht unsere bisherige Art und Weise zu leben infrage stellen. Beides ist für unseren Geist nicht attraktiv. Da kehren wir dann doch lieber wieder in die „Normalität“ zurück- gehen essen oder verreisen…. und lenken uns ab.

Oder wir nutzen die Chance, uns mit der eigenen Sterblichkeit und Endlichkeit auseinanderzusetzen. Das hat Konsequenzen für unser Leben. Es stellen sich Fragen wie:
-Wie will ich angesichts der Realität meiner physischen Endlichkeit leben?
-Wie will ich diese Zeit verbringen-mit welchen Menschen?
-Was will ich tun?
-Wie kann ich mich von den klesa befreien?
-Was tut mir gut?
-Was ist Zeitverschwendung?
Diese Fragen führen zu einem authentischen und freien Leben, zu einem entspannteren Leben, weil wir nicht mehr von den klesa getrieben werden und zu einem glücklicheren Leben, weil wir das tun, was uns gut tut und das andere sein lassen. Es gibt keine schnellen Antworten auf diese Fragen. Es ist vielmehr ein ständiger Prozess.


Yoga: Die klesa überwinden

Für immer im Netz der klesa? Wir haben die Wahl. Die klesa werden uns in verschiedensten Zusammenhängen präsentiert, sei es in unserer persönlichen Situation oder wenn wir uns in den Medien informieren: Täuschung, Gier, Abwehr und Angst sind oft anzutreffen. Was ist hier real und was ist ein klesa, unser eigenes oder das anderer? Einmal auf die Themen aufmerksam geworden, kann sich unser Leben nach und nach verändern. Der achtgliedrige Weg des Yoga ist ein Weg, die klesa zu überwinden.

Das Yogasutra geht darüberhinaus: Je mehr wir die klesa reduzieren, desto ruhiger wird unser Geist, denn alle Bemühungen und Anstrengungen aus den klesa hören auf. Je ruhiger unser Geist wird, desto klarer wird unser Bewusstsein. Diese Klarheit nennt das Yogasutra samādhi. In diesem Zustand handeln wir aus unserem Selbst, nicht aus unserem Ego. Und dieses Handeln, ohne die Notwendigkeit und den Zwang einer Täuschung, von Gier, Abwehr und Angst schafft allein wieder die Verbindung und die Überwindung der Spaltung.

Die Evolution hat gezeigt, dass die Wesen am besten überleben, die es verstehen, als Gemeinschaft verbunden zu denken und zu handeln. Und Yoga als ein Weg zu Verbundenheit ist wichtiger denn je.

Ein Vortrag über Angst und Menschheitsfragen von Eugen Drewermann

Zwei inspirierende Beiträge, wie ein Leben ohne klesa aussehen könnte:
Gerald Hüther, Neurobiologe und Autor:Tue nur noch das!

Thomas Metzinger und Gerd Scobel zum Thema: Bewusstsein