Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen…

Foto: MelSi_pixabay
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(Am Ende des Textes gibt es eine Audiodatei mit den Sanskritbegriffen)

…heißt das Gedicht, das Rilke am 20.9.1899 in Berlin-Schmargendorf verfasste. Das Leben vollzieht sich in Zyklen, unter anderem wird uns dies an den Wochen von Montag bis Sonntag, an den Jahreszeiten vom Frühling bis zum Winter, an den Festtagen wie Weihnachten, Ostern, Geburtstagen oder anderen persönlichen Jahrestagen bewusst. Auch unser Atem vollzieht sich zyklisch als Aus-und Einatem, ebenso der Herzschlag und der Tag-und Nachtrhythmus.

Was bedeutet es zyklisch zu leben?

  • Ein Leben „in wachsenden Ringen“ ist nicht im Zickzack, nicht im heillosen Durcheinander. Das Neue wächst aus dem Alten. Es ist ein organisches Wachstum, d.h. alles entwickelt sich in und zu seiner Zeit.
  • Es sind keine langweiligen Wiederholungen mit der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Das wäre Stillstand statt Wachstum. Jeder Ring muss anders sein. Ringe müssen wachsen.
  • Andererseits kommen wir in jedem Zyklus immer wieder an ähnliche Rahmenbedingungen, so dass sich das Leben zu wiederholen scheint. Da wir an einem anderen Punkt sind, haben wir die Möglichkeit, in ähnlichen Situationen aufgrund unserer Entwicklung und Erkenntnisse neue Verhaltensweisen auszuprobieren und neue Erfahrungen zu machen. Diese führen wiederum zu neuen Erkenntnissen, die einen neuen Ring bilden. So ähnlich ist es ja auch im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Durch die Wiederholung, aber mit neuen Vorzeichen, können alte Verletzungen heilen.
  • Die Gewissheit, wenn wir meinen, eine Chance vertan zu haben, dass es neue Chancen geben wird.
  • Das Leben lebt sich immer nur vorwärts. Und indem man vorwärts geht, kommt immer etwas dazu. Wir kommen mit unserem Selbst auf die Welt als unbeschriebene Blätter und lernen, was die Welt bedeutet. Dieses Selbst will Erfahrungen machen heißt es in alten indischen Texten.
  • Wie der Baum, so hat auch das Leben eine Mitte. Diese Mitte nennt das Yogasutra das Selbst oder drstu (YS 1.3). Um diese Mitte herum wächst das Leben. Diese innere Mitte gibt uns die Stabilität für unser Wachstum, weil sie stabil und unveränderlich ist. Wenn wir aus dieser Mitte Entscheidungen treffen führen sie uns zu weiterem Wachstum. Weil wir unser Wissen um diese Mitte und damit den Kontakt zu ihr verloren haben, versuchen wir unsere Ringe von außen zu bilden. Wir versuchen durch äußere Dinge oder Menschen zu wachsen, z.B. durch Erfolg, Geld, Status. Was immer wir auch von Außen hinzufügen ist veränderlich und nicht stabil. Wir können es verlieren und müssen daher viel kämpfen und fühlen uns abhängig. Dann handeln wir aus diesen klesa, wie im Yogasutra unsere Ängste, Anhaftungen, Verblendungen und Ignoranz genannt wird. Wenn wir aus unserer eigenen Mitte wachsen fühlen wir uns stabil und sicher. Sie ist unabhängig vom Außen immer bedingungslos da. Alles ist in uns, wir müssen es nur erkennen.
  • Wir leben das Leben von innen nach außen. Es zeigt sich mit jedem Schritt, mit jedem neuen Augenblick, von einer neuen, grösseren Breite, Es öffnet seine Tore, lässt den Blick weiter werden. Was wir heute auf die eine Art sehen, kommt uns morgen anders vor. Nicht weil es sich verändert hat, sondern weil wir uns verändert haben.

Würdigung und Wertschätzung unserer Entwicklung

Wir können auf viele Jahresringe unseres Lebens zurückblicken. Jedes Jahr hat seine Spuren hinterlassen: Manches einen breiten Ring, mancher Jahresring ist eher mager, da ging nicht so recht etwas vorwärts.
Unsere Jahresringe bilden wir nicht allein: Andere Menschen prägen unser Jahr mit. Sie motivieren uns oder engen uns ein, helfen uns weiter oder stehen zu uns in Konkurrenz. Ziel des Lebens kann es nicht sein, kreisrund, geschliffen und glänzend, aber dafür auch alleine dazustehen. Andere Menschen dürfen ihre Spuren hinterlassen.

Wie der Jahresring der Bäume so ist auch nicht jeder Lebensring gleich. Jedes Jahr prägt uns auf eine andere Art und Weise. So wie die Jahresringe der Bäume unterschiedlich dick und dünn und nicht kreisrund sind, sind auch unsere Jahresringe unterschiedlich. Hatten wir gute Wachstumsbedingungen ist unser Lebensring kräftig. Vielleicht ist er an manchen Stellen dicker, dort wo wir mehr Möglichkeiten hatten und an anderen Stellen schmaler, wo wir eingeschränkt waren. Diese Ausformung wird für jeden Menschen ganz individuell sein- je nach Standort und Lebensbedingungen.

Bald schließt sich kalendarisch der Ring 2021. Wie sieht unser persönlicher Jahresring 2021 aus? Wir sind am Jahresende nicht mehr derselbe Mensch wie am Jahresanfang.

Im Sinne von svadhyāya (Selbststudiun YS 2.1) können wir auf unsere Entwicklung blicken und resümieren, wo wir am Ende dieses Zyklus stehen. Dies sollten wir mit der nötigen Sorgfalt tun, um die Hintergründe dieser Bewertung und die Wirkung der klesa (YS 2.3) zu erkennen. Dafür ist das sutra 1.33 der bhāvana eine wertvolle Hilfe. In der Haltung der vier Herzqualitäten sind wir frei von den klesa und schauen nicht mit dem Blick des messerscharfen, verurteilenden, abwertenden inneren Kritikers auf unsere Entwicklung, sondern mit freundlichem Wohlwollen und Verständnis. Die vier bhāvana sind:

  • maitrī- die allumfassende bedingungslose Liebe, die unsere Entwicklung anerkennt und wertschätzt- ohne „wenn und aber“
  • karunā- Das Mitgefühl für die Entwicklung so wie sie war- mit allen Fort-und Rückschritten, dem Stillstand, dem Zweifel, der Angst, den Schwierigkeiten- und dem Mitgefühl, dass wir unser Bestes gegeben haben, zu dem wir fähig waren
  • mudita- der (Mit-)Freude über jeden noch so kleinen Schritt, über das Schöne und Leichte, über schöne Begegnungen und Erfahrungen
  • upeksa- Das Verständnis für das was innere oder äußere Kritiker als unsere Fehler und Schwächen bezeichnen und die auch zu uns wie zu jedem Menschen gehören. Die Vergebung für diese Fehler, denn dass wir sie jetzt als Fehler erkennen, bedeutet nicht weniger, als dass wir uns weiter entwickelt haben und nicht dabei stehen geblieben sind.

Was bedeutet Wachstum persönlich?

  • In welchem Lebensbereich- Beruf, soziales Umfeld, körperliche, mentale, psychische Gesundheit/Stärke, Selbstbewusstheit, Klarheit, Yogaweg- gab es eine Entwicklung?
  • Welches war der eigene Beitrag zu dieser Entwicklung?
  • Wo gab es innere Blockaden, Stagnation, Rückschritte?
  • Welche äußeren „Katalysatoren“ gab es für die innere Entwicklung? Menschen, Ereignisse, Erlebnisse?

Wie wird sich unser Jahresring 2022 entwickeln?

Jeder Ring ist neu. Er ist nicht eine Kopie des vorherigen Ringes. So ist jedes Jahr auch neu und nicht einfach eine Wiederholung des Vorjahres. Oder wie eine Metapher sagt: „Wir steigen nie zweimal in denselben Fluss.“

Jedes Jahr hat seinen Rhythmus: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Blätter werden gebildet und fallen, Blüten gehen auf und bilden Früchte, jedes Jahr der gleiche Ablauf. Und doch hinterlässt jedes Jahr einen ganz eigenen Ring.

  • Welche neue, noch nie dagewesene Blüten werden sich zeigen? Welche Chancen?
  • Welche neuen Früchte werden wir ernten?
  • Wie gesund und kräftig wird sich unser Jahresring entwickeln?
  • Was können wir selbst dazu beitragen- körperlich, mental und psychisch?
  • Haben wir fruchtbaren Boden unter unseren Füßen der uns nährt?
  • Was brauchen wir, was uns wachsen und gedeihen läßt?
  • Was liegt nicht in unserer Macht? Was können wir nicht erzwingen oder kontrollieren?

Wir brauchen für den neuen Jahresring Vertrauen (shraddha YS 1.20) und klare Unterscheidungsfähigkeit (viveka YS2.26 /3.54/4.26). Wir brauchen Vertrauen, weil wir nicht wissen, was kommt. Wir brauchen das Vertrauen, dass, was immer auch kommt, für uns und andere zu unserem Besten geschieht. Wir brauchen Vertrauen in das Leben. Dieses Vertrauen ist kein blindes, naives Vertrauen, dass schon alles gut wird und wir die Hände in den Schoß legen können. Es ist vielmehr ein Vertrauen, dass alles was notwendig ist, um zu wachsen, uns zu entwickeln, gut für uns und andere zu sorgen und unser Leben selbstbestimmt und verantwortungsvoll zu leben, zur gegebenen Zeit zur Verfügung stehen wird.

Wir brauchen auch klare Unterscheidungsfähigkeit, um das Richtige zu tun und dort loszulassen, was wir nicht beeinflussen können. Wir können unser Leben und das Leben insgesamt nicht kontrollieren. Der Jahresring wird sich auf eigene Art entwickeln.

Und so wachsen wir Tag für Tag, lernen dazu, gehen in eine neue Runde, sehen neue Welten, neue Aspekte, lernen neue Ängste kennen, die aus neu erkannten Gefahren, Unsicherheiten wachsen. Alles wächst, alles spriesst, nichts bleibt. An etwas festzuklammern würde Stillstand bedeuten. Im ersten Augenblick würde es nach Sicherheit aussehen, im zweiten nach Tod. Sind wir in Kontakt mit unserer Mitte und lassen wir uns von unserem Selbst leiten, gehen wir Ring für Ring durchs Leben immmer im Willen und Wunsch, den letzten Ring zu vollenden.

Datei mit der Aussprache der Sanskritbegriffe