Im Wandel das Bleibende erkennen und das eine vom anderen unterscheiden können ist ein wichtiges Thema im 2. Kapitel des Yogasutra. In diesem Kapitel wird der Weg konkret beschrieben. Ausgangspunkt der Überlegungen ist der geistige Zustand, der zu Leid führt und von der vollkommenen Erfahrung trennt. Der Yogaweg beginnt hier, und zwar zunächst mit einer Erkundung und Analyse der möglichen Ursachen, die verhindern, dass der Geist ruhig wird und bleibt. Ein ruhiger Geist ist die Voraussetzung für die Erkenntnis (YS 1.3). Diese Ursachen werden mit dem Sammelbegriff „klesas“ (gesprochen: kleschas) bezeichnet. Der Begriff kommt von klista (gesprochen: klischta) und bezeichnet etwas, dass uns bindet, unfrei sein läßt, uns an etwas „kleben“, festhalten läßt. Wir halten auch fest, obwohl es uns nicht gut tut. Wir halten an Vorstellungen, Konzepten, Erwartungen, Erinnerungen, Überzeugungen und Bewertungen fest (YS 1.6). Hier zeigt sich wieder, dass Yoga viel mit unserem Leben und Alltag zu tun hat.
Die Wurzel, der Nährboden dieser klesas ist der geistige Zustand von avidya (YS 2.3-2.5). Im Zustand von avidya gibt es in unserem Geist zwei Irrtümer: 1. das Nichtwissen um die wahre Natur, das unveränderliche Selbst – das Bleibende 2. das falsche Wissen über das Ego, indem der Geist unser veränderliches Ego – das Wandelbare- für das unveränderliche Selbst hält.
Daraus entsteht unser Leid:
- Der erste Aspekt von avidya ist die feste Überzeugung, dass wir unseren Körper und unser Ego als unveränderlich betrachten, als das Bleibende. Die Erfahrung, die Realität aber ist, dass sich dieses vermeintlich Konstante ändert – Stimmungsschwankungen, Gesundheit-Krankheit, Schmerz- Schmerzfreiheit, Altern und letztlich Tod. Das alles verunsichert und macht Angst. Wir bauen Widerstände auf oder verdrängen diese Tatsache durch vielerlei Beschäftigungen. Wir versuchen auch, das Unvermeidliche durch viele Maßnahmen zu verhindern- z.B. Ernährung, Sport und eine gesunde Lebensweise. Alle Maßnahmen können unsere Lebensqualität sehr verbessern. Deshalb sind sie auch sinnvoll. Sie können vielleicht auch die Lebensdauer verlängern. Aber sie können das Veränderliche unserer Existenz nicht in das Bleibende verwandeln. Wir leiden nicht nur daran, dass wir uns verändern, sondern auch daran, dass unsere Anstrengungen vergebens sind.
- Unser Geist hält aber nicht nur den Körper für unveränderlich, sondern auch alles um uns herum: Wie verwundert sind wir, wenn wir Menschen nach langer Zeit wiedersehen – und feststellen, dass sie sich verändert haben und erwachsen oder älter geworden sind. Und dann freuen wir uns, wenn andere feststellen, dass wir uns garnicht verändert haben – obwohl wir es als Kompliment durchschauen. Wenn wir Orte unserer Kindheit besuchen und feststellen, wieviel sich verändert hat, wenn wir feststellen, dass sich das Klima ändert, dass die Arbeitswelt sich verändert, dass PartnerInnen und Freunde sich verändern – warum löst das Staunen und Verwunderung aus? Weil unser Geist in avidya ist – in der festen Überzeugung, es handele sich um das Bleibende.
- Der zweite Aspekt von avidya ist, dass unser Geist nicht in der Lage ist, das Unveränderliche, das Bleibende zu erkennen. Was auch immer sich verändert in unserem Körper und unserem Geist- was ist das, was immer da ist? Was ist das, was bleibt? Zu diesem Bleibenden vorzudringen ist das Ziel von Yoga.
Heute ist die Herbst-Tagundnachtgleiche in unseren Breiten. Wir konnten in den letzten Wochen erfahren, dass die Dauer der Helligkeit ab- und die Dunkelheit zunimmt. Heute ist das Verhältnis in Balance- ab morgen kippt es zur Dunkelheit hin. Es verändert sich. Was ist das Bleibende? Das Licht selbst. Die Sonne ist immer da -24 Stunden- und voraussichtlich noch 8 Milliarden Jahre bevor sie verglüht. Unsere Sinne und unser Geist können nur die Veränderung wahrnehmen- mehr oder weniger Licht – aber nicht die Quelle, das Bleibende.
In den nächsten Wochen werden wir auch mehr und mehr den Rückzug, das Sterben in der Natur wahrnehmen. Was ist das, was bleibt? Daraus werden in einigen Monaten neue Pflanzen aus dem Boden sprießen, neue Blätter und Blüten wachsen. Was ist die Quelle? Was ist das Bleibende? Wir Menschen sind auch eine Form von Natur und Leben. Warum sollte es ausgerechnet in uns Menschen nichts Bleibendes geben? Warum sollten wir eine Ausnahme sein? Die Meditierenden und Suchenden haben das Bleibende erfahren. Und sie haben uns damit gezeigt, dass es eine Fähigkeit des Menschen ist, diesen Zustand der Erkenntnis zu erlangen. Mit Yoga haben wir auch einen möglichen Weg aufgezeigt bekommen, der zu diesem Ziel führt.
Dieser Weg führt zu der Unterscheidungsfähigkeit (viveka) und einer Idee davon, dass unser Ego und unsere Vorstellung von der Welt nicht das Bleibende sind und wir diese Verwechselung, dieses falsche Wissen mehr und mehr ablegen können. Dies kann uns von der vergeblichen Anstrengung, von dem Zwang und Druck alles festhalten zu müssen, befreien. Wir können freier, weniger egozentriert in der Welt und mit unserer Umgebung agieren.
Wenn wir viveka entwickelt haben, kann das wirkliche Wissen, das Bleibende auftauchen. Aus diesem Wissen heraus gibt es kein avidya und damit auch kein Leid mehr.