Bald steht das 30-jährige Jubiläum der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten an. Ein Jahr zuvor wurde die Mauer geöffnet. Sie wurde durchlässig.
Mit der Maueröffnung war wieder Kontakt und Verbindung möglich- ein tiefes menschliches Bedürfnis, wie Neurologen und Psychologen herausgefunden haben. Verbindung und Verbundenheit ist unser Ursprung. Wir entstehen aus der Verbindung von Ei und Samenzelle. Wir wachsen durch die Verbindung mit der Mutter über die Nabelschnur. Unser ganzes System hat das gespeichert. Deshalb fühlen wir uns in Kontakt wohl, sofern er auf der Grundlage des Nichtverletzens (ahimsa), der Aufrichtigkeit (satya), des liebevollen Wohlwollens (maitri), der Empathie (karunā), der Mitfreude (mudita) und des Verständnisses und der Toleranz (upeksa) beruht. Solche Kontakte geben uns das Gefühl, dass die Welt ein sicherer Ort für uns ist und schenken uns Vertrauen in das Leben vom Beginn unseres Lebens an. Umgekehrt tut uns Trennung nicht gut. Wie wichtig Verbindung und Kontakt ist hatten wir vielleicht vergessen, weil er so selbstverständlich war. Was er bedeutet, haben wir in den letzten Monaten erfahren, als er stark eingeschränkt war. Wir hätten ihn in der unbekannten und belastenden Situation besonders gebraucht.
Mit der Öffnung der Mauer 1989 wurde sowohl persönliche als auch kollektive Verbindung wieder möglich. Ein menschliches Grundbedürfnis wurde erfüllt. Im Zustand der Vollendung von Yoga, genannt samadhi, erwächst die Erkenntnis, dass alles eins ist, das es keine Trennung gibt. Die Trennung, die Grenzen und Mauern gibt es nur in unserem Geist- in den Gedanken und Gefühlen (citta).
Denn- und das ist spannend- sowohl in der jüdisch/christlichen als auch in der hinduistischen Mythologie entstand die Welt und das Leben aus Verbindung: Eine göttliche Kraft schuf Adam und Eva und auch alle anderen Lebewesen als Paar heißt es im Alten Testament. In der Samkhya-Philosophie und im Hinduismus entstand die Welt aus der Verbindung von shiva und shakti, von purusa (dem Bewusstsein) und pakriti (der Materie). Daraus kann man auch erkennen: Unterschiede kann man verbinden und daraus entsteht etwas Neues. Die Verbindung von Unterschieden ist wortwörtlich ein kreativer Schaffensakt. Leben bedeutet, dass jeden Tag aus der Verbindung von Unterschiedlichem etwas Neues entsteht. Wir sind alle unterschiedlich sofern wir nicht als eineiige Zwillinge geboren wurden. Na und?
Unser Geist macht ein Problem daraus, weil er aus Unterschieden Gegensätze macht. Das erschwert eine Verbindung, wie schon die Silbe „gegen“ sagt. Etwas Gegensätzliches hat etwas Trennendes. Das ist fühlbar. Es gibt eine Grenze und manchmal besteht diese Grenze sogar aus einer festen Mauer. Eine Mauer verhindert Kontakt und Verbindung. Wir haben viele Grenzen und Mauern in unseren Köpfen: Männer/Frauen, Alte/Junge, Besitzende/Besitzlose, Arbeitende/Arbeitslose, Wohnungsinhaber/Ob-Dach-lose, Arme/Reiche, Rechte/Linke, Katholiken/ Evangelische, Christen/Juden/Moslems/Hindus/Atheisten, Kapitalisten/Kommunisten, „Ossis“/“Wessis“, Autofahrer/Radfahrer/Fußgänger und neuerdings Klima- bzw. Corona-Leugner/Klima- bzw.Coronaktivisten, Maskenträger/Maskengegner, Impfgegner/Impfbefürworter usw. Und das werden wir, bis wir zu anderen Erkenntnissen gelangen, unser Leben lang so weiterspielen. Es tut uns nicht gut, denn unser natürliches Bedürfnis ist die Verbundenheit.
Was machen diese Grenzen mit uns? Zuerst das Positive: Das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe, meistens gehören wir sogar zu mehreren gleichzeitig, vermittelt uns ein Gefühl der Sicherheit. Zugehörigkeit war bis vor wenigen Jahrzehnten noch eine Frage des Überlebens. In unserer Zeit des Wohlstandes ist es anders, aber das Gefühl ist tief verwurzelt. Um diese Gruppe herum ziehen wir eine Grenze. Und da beginnt das Problem.
Wir nehmen äußere und Meinungsunterschiede nicht einfach als anders wahr, sondern als etwas Gegensätzliches, d.h. als etwas, dass gegen uns gerichtet ist. Um uns bzw. unser Ich oder Ego zu schützen, bauen wir eine innere Mauer. Die Mauer verhindert, dass wir das andere sehen können und sehen müssen, uns damit auseinandersetzen können, es – und noch schlimmer:uns- hinterfragen müssen. Das ist bequem und wir fühlen uns auch noch sicher. Diese Mauer bewachen wir, damit nichts durchkommt. Wir verteidigen sie, wenn jemand sie überwinden oder durchdringen möchte. Wir haben viele geistige Mauern. Unser Geist, citta, baut sie und erschafft daraus unser Ego (asmitā): Unser Ego identifiziert sich mit diesen Mauern und sagt: Ich bin Mann/Frau, Jung/Alt….. Wir müssen diese Mauern unbedingt verteidigen, weil sich andernfalls unser Ego bedroht fühlt. Dieses Verhalten wird im Yoga avidyā genannt. Das falsche Wissen, die Verwechslung, getrennt zu sein. Und daraus erschaffen wir Leid, einzeln und kollektiv.
Der nächste Schritt ist nicht weit: Wir sehen nicht mehr das Gegensätzliche und das vermeintlich Bedrohliche. Wir setzen die Gegensätzlichkeit mit dem Menschen, unserem Gegenüber gleich. Und dann ist ganz schnell der andere Mensch eine Gefahr oder eine Bedrohung für uns. Dagegen müssen wir uns verteidigen-meistens unsere Meinung, selten unseren Körper. Wir verteidigen unser Ego nicht immer gewaltfrei (ahimsa). Immer öfter gehören Anschreien, Beleidigungen, Herabsetzungen, Verunglimpfungen, Beschimpfungen, Verleumdung und manchmal wohl auch eine handgreifliche Form zum Umgangston, z.B. im Straßenverkehr, in Bus und Bahn oder im Internet. Dies ist das Ergebnis des sich-getrennt-fühlens. Wenn man sich mit jemanden verbunden fühlt, ist ein solches Verhalten undenkbar.
Wie kann es sein, dass sich dieses gewalttätige und aggressive Verhalten auszubreiten scheint? Wie kann es sein, dass wir vielleicht auch selbst immer gereizter oder ungeduldiger reagieren? Zum einen ist es die Menschenmenge bzw. -dichte im öffentlichen Raum. Der Raum für den einzelnen ist geschrumpft. Das macht uns scheinbar empfindlicher. Wenn dann noch die Angst durch eine unsichtbare Bedrohung wie das Virus dazu kommt, vor dem wir uns schützen möchten, ist die Abwehr noch stärker.
Zum anderen liegt es an der Anonymität. Mit vielen Menschen kommen wir nur flüchtig in Kontakt und es braucht viel Bewusstheit, um Verbindung wahr zu nehmen. Viele Menschen sehen wir sogar nur indirekt, wie sie von den Medien dargestellt werden oder nur deren Äußerungen auf facebook, twitter usw. Wir brauchen also mehr denn je eine Bewusstheit und Präsenz, damit unser Ego nicht sofort Gegensätze und nicht sofort eine Bedrohung durch den anderen Menschen konstruiert und eine Mauer errichtet.
Außerdem ist unser Ego leicht manipulierbar und besonders leicht durch Angst. Je mehr Situationen uns ängstigen, desto mehr versuchen wir uns abzugrenzen. Das spielt in unserer Situation eine große Rolle. Die Medien spielen damit. Sie wissen, dass sie besonders viel Aufmerksamkeit und damit Umsatz erzielen mit Themen, die dem Ego Angst machen. Sie sind kommerzielle Unternehmen, die auch einen Unterhaltungswert bieten wollen und keine „Stiftung Nachrichtentest“, die uns neutral und umfassend informieren soll. Viele Beiträge haben daher eine Tendenz zur Angstmacherei in der einen oder anderen Form. Da sie einen Urtrieb von uns ansprechen, ist es sehr schwer, nicht in Falle zu tappen.
Wir brauchen also in unserer heutigen Zeit besonders viel Achtsamkeit und Unterscheidungsfähigkeit (viveka), um genau hinzusehen und zu versuchen, kritisch sich selbst zu beobachten. Nur so können wir neue Mauern in unseren Köpfen verhindern. Eine neue Mauer entsteht viel schneller und unbewusster als wir denken und als jede Steinmauer. Nach und nach können wir auch alte Mauern abtragen, aber das ist um ein Vielfaches langwieriger und schwieriger als jede echte Mauer. Sie sind nicht sichtbar und untrennbar mit dem Ego verbunden, mehr noch, sie sind Bestandteil unseres Egos, unserer Persönlichkeit. Da hilft nur die Erkenntnis, dass sie nur Mauern sind, wir auch ohne sie leben können und dass sie ein gedankliches Konstrukt sind, nicht die Realität. Verbundenheit entsteht auf natürliche Art, wenn Trennung, wenn die innere Mauer fällt. Wenn viele sich verbinden, ist es ein Vernetzen.
Die Realität ist, dass wir alle verbunden sind und unser Leben in Verbindung geschieht. Wir sitzen alle im selben Boot. Der Klimawandel und das Virus führen uns das sehr deutlich vor Augen. Es gibt auf diesem Boot Unterschiede: Manche ackern im Maschinenraum, andere im Service, manche sonnen sich auf Deck, andere stehen auf der Kapitänsbrücke und wieder andere setzen die Segel. Und alle sind „systemrelevant“. Wo ordnen wir uns ein? Wenn wir uns mit dem großen Teil der Welt vergleichen, sieht es nach Sonnendeck aus. Damit das Schiff weiter auf Kurs bleibt und auch nicht kentert, müssen wir uns um Ausgleich bemühen, so dass jede*r an seinem/ihrem jeweiligen Platz sich verbunden fühlt, und den „Job“ im Interesse der Weltgemeinschaft gut ausführt.
Yoga gibt uns die Möglichkeit, uns mit unserem Selbst, das unabhängig vom Ego ist, zu verbinden. Und Yoga gibt uns die Möglichkeit, uns mit anderen verbunden zu fühlen, denn mit Yoga können wir die vielen erdachten, imaginären Mauern nach und nach abtragen. Nur dann können wir die anderen sehen und mit ihnen in Kontakt treten. Yoga fängt bei uns selbst an. Das kann uns niemand abnehmen. Es liegt an uns selbst, ob wir lieber als Egos durchs Leben gehen oder es uns über die Verbundenheit leichter machen.
Nun, da es die sichtbare Mauer schon lange nicht mehr gibt und Menschen sich begegnen können und Verbundenheit miteinander erleben dürfen, können wir damit weitermachen, die Mauern in unseren Köpfen zu beseitigen. Das Jubiläum ist dann nicht nur eine Rückschau auf die Vergangenheit, sondern der Start in unsere wirklich innerlich freie Zukunft.
Namasté.