(Am Ende des Textes gibt es eine Audiodatei mit den Sanskritbegriffen)
Der Sanskritbegriff samtosa wird mit Zufriedenheit übersetzt. Gerade jetzt, da sich eine allgemeine Unzufriedenheit ausbreitet, ist es eine Herausforderung, sich einen inneren Zustand von Zufriedenheit zu bewahren. Ist es überhaupt möglich, in der derzeitigen Situation zufrieden zu sein?
Zufriedenheit ist ein Zustand, den wir mit allem was wir tun anstreben. Wir fühlen uns dann wohl und innerlich friedlich. Dennoch sind wir auch immer mal wieder mit diesem und jenem unzufrieden. Gehört das nicht zu unserem Menschsein dazu? Und hat die Unzufriedenheit nicht auch ihre Berechtigung? Wir verändern uns oder eine Situation nur, wenn wir unzufrieden sind. Ist Unzufriedenheit nicht der notwendige Motor für Veränderung und Entwicklung, die ja immer mit Anstrengung verbunden ist?
Kann eine (vermeintliche) Zufriedenheit nicht auch Ausdruck von Selbstgefälligkeit, Bequemlichkeit, Gleichgültigkeit oder Resignation sein? Diese Haltungen meint Yoga nicht. Das ergibt sich aus dem Kontext des Yogasutra. Aber wie ist samtosa dann zu verstehen?
Für samtosa gilt wie für alle anderen niyama, dass sich die Bedeutung nur im Zusammenhang mit dem ganzen Text des Yogasutra erschließt. An dieser Stelle einige wichtige Stichworte zur Einführung. Ausführlich finden Sie die Erläuterung in dem Beitrag Die niyama:
- Ziel von yoga und damit der niyama ist die Entwicklung von innerer Ruhe (nirodha, YS 1.2) und Klarheit im Geist (viveka, YS 2.26/3.54/4.26)
- Dieser ruhige geistige Zustand ist notwendig, um den Bewusstseinszustand von samadhi, kaivalya, yoga (YS 1.46, 2.25), wie das allumfassende Bewusstsein und die innere Freiheit in Sanskrit heißt, erfahren zu können
- Die niyama beschreiben jeweils einen Aspekt eines inneren Zustands des ganzen Menschen: körperlich, kognitiv und psychologisch
- Der Ausdruck im Handeln ist das Ergebnis der inneren Haltung, nichts „Aufgesetztes“, d.h. die Handlung ist authentisch. Sonst ist es kein niyama
- Die niyama sind keine Einschränkungen sondern befreien von inneren Begrenzungen
- Die niyama sind Teil des praktischen Übungsweges (sādhana pāda), keine Theorien oder moralischen Vorschriften
Samtosa im Yogasutra
Im Yogasutra findet sich der Begriff im sutra 2.42 und wird mit dem inneren Zustand von Zufriedenheit übersetzt. In dem Wort Zufriedenheit steckt das Wort Frieden. Samtosa ist das Gefühl von innerem Frieden und innerer Ruhe.
Aber Zufriedenheit ist noch nicht alles. Vielmehr verspricht uns diese Zufriedenheit einen Gewinn (lābha): Sie bringt uns das allerhöchste (anuttama) Glück (sukha)! Das, wonach wir uns sehnen, was wir uns wünschen, wofür wir alles tun und uns anstrengen, haben wir schon in uns. Das ist die Botschaft dieses sutra.
In einem älteren hinduistischem Text, Yoga vasista 2.13.6 (ca. 8.Jh.n.Chr.) wird der Zustand von samtosa folgendermaßen poetisch beschrieben: “ Wenn der Geist die Begierde verliert, kann er die Süße des Friedens fühlen und Glückseligkeit regnet auf ihn herab, als ob der herrliche Mond in den Himmeln sei.“*
Die Begierde, ihre Ursachen und wie es gelingen kann, sie loszulassen wird im ersten und zweiten Kapitel des Yogasutra detailliert dargelegt. Dieser Weg ist ein Prozess, der eine tiefe innere Veränderung und Entwicklung mit sich bringt. Der Unterschied zu unseren üblichen Veränderungsbemühungen ist, dass das Ziel und das Ergebnis a) eine völlig andere Ausgangsbasis haben und b) wenn das Ziel, samtosa, erreicht ist, es keiner weiteren Veränderung bedarf. Was wollen wir mehr als höchstes Glück?
Natürlich handeln wir weiterhin aus diesem Zustand heraus in der Welt und lehnen uns nicht zurück. Unser Handeln wird dann für uns und alle zu guten Ergebnissen führen, weil es nicht mehr aus unserem egozentrierten Geist kommt. Weil wir nicht mehr mit unserer Unzufriedenheit und der Jagd nach Glück beschäftigt sind, haben wir einen klaren Blick auf die Welt. Wir können unterscheiden, wo unser Handeln nötig ist und wo es etwas zu akzeptieren gilt.
Die Funktionsweise unseres Geistes als Ursache für Unzufriedenheit-die klesa (YS 2.3 ff)
Am Beginn des Weges stehen folgende Fragen: Was bringt uns immer wieder in einen Zustand von Unzufriedenheit? Was läßt uns immer wieder neue Anstrengungen unternehmen, die uns nur zu einer kurzen, vorübergehenden Zufriedenheit führen? Warum fühlen wir uns immer wieder von neuem getrieben?
Zunächst benennt das Yogasutra die Ursache für unsere Unzufriedenheit: Unsere Sinne (indriya) sind beständig mit der Außenwelt verbunden, nehmen immer wieder Neues wahr und füttern den Geist (citta) mit immer neuen Reizen. Sie sind von ihrer Natur her unstet. Unser Geist reagiert ständig auf diese Reize- entweder mit Habenwollen (rāga) oder Ablehnung (dvesa). Diese Reaktionen kommen nicht aus einer Klarheit und aus Wissen, sondern aus unserem Ego (asmitā). Das Ego wiederum definiert sich über das „ich bin…., mein…. mir… mich“. Das ist eine Täuschung (avidyā), hat aber zur Folge, dass der Verlust dieses „ich bin…., mein…. mir… mich“ Angst auslöst (abhinivesa), weil es dann von Auflösung oder Vernichtung bedroht ist. Das wird auch „Gebundenheit“ oder „Anhaftung“ unseres Geistes an die äußere Welt und an die Objekte genannt.
Aus dieser Angst heraus kann das Ego nie zufrieden sein, es kann nie genug sein. Es braucht immer mehr. Denn je mehr das Ego hat, womit es sich identifizieren kann (ich bin mein Beruf, mein Besitz, mein Status, meine Familie, mein*e Partner*in), desto sicherer fühlt es sich. Deshalb heißt rāga auch Gier. Sie kann zur Sucht werden. Das Wort Sucht und suchen haben einen gemeinsamen Wortstamm. Obwohl wir instinktiv wissen, dass alles vergänglich ist und uns weder wirkliche Sicherheit bringen, noch die Angst verhindern und uns nicht vor dem Tod bewahren kann, ist der Trieb so stark, dass wir das Spiel mitspielen. Wir klammern uns an unsere Illusion (avidyā) von der Abhängigkeit von äußeren Dingen. Und die Sinne (indriya) liefern dem Ego immer wieder neue Gelegenheiten, sich noch mehr anzueignen.
Andererseits muss das Ego alles abwehren und bekämpfen, was die Sinne als Bedrohung seiner Identifikationen (dvesa) wahrnehmen. Ein solches Ego ist daher selten entspannt und zufrieden.
Diese Funktionsweise des Ego wird in der Sprache des Yoga als klesa, „Unreinheiten“ (asuddhi, YS 2.28, 2.43) des Geistes bezeichnet. Davon unterscheiden sich die natürlichen Bedürfnisse des Menschen nach Nahrung, Wasser, Schutz, Geborgenheit usw. die dem Leben dienen. Denn wenn sie versorgt sind, ist es erstmal genug, sind wir zufrieden. Die klesa hingegen haben nie genug. Wenn wir also samtosa erreichen wollen, müssen wir diese Unreinheiten beseitigen. Solange wir aus den klesa handeln, wird auch kurzfristiges Glück langfristig uns nicht glücklich, sondern sogar unglücklich machen (YS 2.14/2.15), denn alles äußere Glück ist vergänglich. Ein Kommentator des Yogasutra, Vyasa, beschreibt den Zustand von samtosa auf poetische Weise als „Das Schwinden des Durstes nach äußerem Glück“. Eben nicht die ständige Erfüllung der Wünsche, sondern die Bindung an Wünsche aufzulösen- also vairāgya- ist die Lösung. Dann haben die Sinne und Reize keine Wirkung mehr und auch die Bindung an die Objekte entfällt.
Was bleibt dann? Wenn der Geist sich nicht mehr von den Sinnen zu immer mehr Wünschen verleiten läßt, wird er still. In diesem Zustand, genannt nirodha (YS 1.2), erlangen wir einen Bewusstseinszustand, in dem wir unser wahres Selbst erkennen. Dieses Selbst, so wird es beschrieben, ist ohne Leid und unsterblich und verfügt über die vollkommene Erkenntnis. Die klesa haben keine Wirkung mehr.
Neben den fünf klesa, den geistig-emotionale Blockaden, zählen die neun antarāya, körperliche und psychisch-mentale Störungen (YS 1.30) auch zu den geistigen Unreinheiten, die wir mit Yoga reduzieren. Die klesa und antaraya zu reduzieren, wird Reinigungsprozess genannt.
Der Reinigungsprozess: astanga yoga (YS 2.29 ff)
Das Yogasutra beschreibt diesen Prozess der Reduzierung bzw. Beseitigung der geistigen Unreinheiten mit acht Aspekten. Unser Ego (asmitā) wird von den klesa und den indriya zu Verhaltensweisen verleitet, die im Gegensatz zu samtosa stehen. So wird unser Ego irre geleitet und hindert uns sogar daran, wirkliche Zufriedenheit zu finden. Der Yogaweg sādhana pāda wie im zweiten Kapitel beschrieben führt uns zu samtosa und dem höchsten Glück- anuttama sukha.
Der Weg oder die Mittel der Reinigung um den Geist von den „Unreinheiten“ (asuddhis) zu befreien ist kriyā yoga (YS 2.1) mit dem achtgliedrigen Pfad (astanga YS 2.29), zu dem auch samtosa gehört. Er beginnt mit den yama und dem niyama sauca. Alle diese sind Bedingung für einen zufriedenen Geist und inneren Frieden. Samtosa ist das Ergebnis, wenn die yama gemeistert sind.
Das erste niyama sauca (YS 2.40/2.41):
Die niyama thematisieren den Umgang mit uns selbst und den inneren Zustand, der Voraussetzung ist, um den Zustand von Yoga zu erreichen. Sauca bezeichnet den Reinigungsprozess oder den reinen, geklärten Geist als Voraussetzung für innere Zufriedenheit. Durch den Prozess der Reinigung gewinnen wir Abstand zu uns und unseren Neigungen, Wünschen, Bedürfnissen, Konditionierungen (klesa) und sind ihnen nicht mehr ausgeliefert. Nur solch ein klarer und ungestörter Geist kann Zufriedenheit entwickeln. Ohne den Reinigungsprozess gibt es keine Zufriedenheit. Und so beginnen die niyama mit sauca als Grundlage für samtosa.
Zuvor werden die yama (YS 2.29ff.) erläutert. Die yama beschreiben eine Beziehung zur Welt, die frei von der Art und Weise des Verhaltens ist, das den klesa entspringt. Indem wir mehr und mehr diese Verhaltensweisen der yama integrieren können, reinigen wir den Geist. Yama und niyama sind eng miteinander verbunden und nur zusammen wirksam.
Und so führen uns die yama zu samtosa: Das erste yama ahimsā ist Nichtverletzen/Gewaltlosigkeit: Nur im Zustand der Freiheit von Wut, Aggression und Hass in Gedanken, Worten und Taten, kann der Geist ruhig werden. Gewalt und ein friedlicher Zustand schließen sich aus. Solange wir noch nicht im Zustand von ahimsā sind, wird der Geist immer wieder gestört und kann nicht zufrieden bleiben. Umgekehrt gilt, je öfter und länger es uns gelingt, im Zustand von ahimsā zu sein, desto länger können wir inneren Frieden erfahren.
Das zweite yama satya, Wahrhaftigkeit/Ehrlichkeit/Integrität: Das Bewusstsein, nach bestem Gewissen wahrhaftig zu leben, stabilisiert den Geist. Jede Unaufrichtigkeit führt zu Anspannung, zu einer Verletzung und stört den Geist. „Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen“ heißt es im Volksmund.
Das dritte yama ist asteya, das Nichtstehlen: Wenn wir uns etwas aneignen, was uns nicht zusteht, so ist das eine Form von Gewalt. Und wir wissen, dass wir uns „mit falschen Federn schmücken“, wenn wir uns Erfolge zuschreiben, die nicht wir (allein) erreicht haben oder uns auf ungerechte Weise Besitz aneignen. Es ist ein Ausdruck von Gier (rāga). Da wir dafür sorgen müssen, dass die Bereicherung unentdeckt bleibt leben wir in Anspannung und Angst. Das verhindert inneren Frieden.
Das vierte yama ist brahmacharya, die Enthaltsamkeit: Dies ist eine direkte Verbindung zur Zufriedenheit. Brahmacharya bedeutet zu erkennen, welches die natürlichen Grundbedürfnisse sind, die erfüllt werden müssen. Dies fördert unsere Zufriedenheit. Z.B. merken wir das deutlich, wenn wir unseren Hunger gestillt haben. Wenn es jedoch nie genug ist von allem (Nahrung, Geld, Besitz, Arbeit, Sex, Spaß) dann sind wir ständig auf der Suche nach der Befriedigung dieser Bedürfnisse. Im Zustand von brahmacharya sind wir frei von dieser Unersättlichkeit und Gier. Das führt uns in Richtung samtosa.
Das fünfte yama aparigraha (YS 2.39) ergibt sich aus dem vorherigen und führt direkt zu samtosa. Aparigraha bedeutet Genügsamkeit. Wir sind frei von den Bedürfnissen und Wünschen, sind nicht besitzergreifend, neidisch usw. und können teilen. Wir müssen nichts festhalten. Es läßt uns zufrieden sein. Und da wir nichts wünschen, sind wir glücklich.
Die Yama sind die Überwindung der klesa und ein Loslassen von Bindungen an Äußerlichkeiten. So führen uns die yama zur inneren Zufriedenheit (samtosa) und Glück (sukha).
Gleichzeitig erkennen wir an den yama, an welchem Punkt wir auf dem Weg zu samtosa stehen und welches von ihnen noch mehr Aufmerksamkeit braucht.
Samtosa im Alltag
Zufriedenheit und Glück ist eine innere Qualität, die viel damit zu tun hat, wie wir mit uns selbst und anderen umgehen. Wenn wir unzufrieden sind, sind wir weder für uns selbst noch für andere ein hilfreicher Umgang.
Unzufriedenheit kann sich sowohl als Trägheit oder sich gelähmt fühlen (tamas=schwer, dumpf) als auch durch Rastlosigkeit und Unruhe (rajas=getrieben sein) zeigen. Ausgelöst wird die Unzufriedenheit durch ein Gefühl, dass es nie genug oder gut genug ist, wie es gerade ist. Dieser Zustand kann entweder aus inneren Aktivitäten des Geistes (vrttis) oder durch äußere Reize auf unsere Sinnesorgane (indriya) entstehen.
Eine geistige Aktivität ist zum Beispiel das Erinnern (smrti). In der Form, dass wir uns an Termine, Verabredungen oder Fähigkeiten wie Radfahren und Zähneputzern erinnern, ist das Erinnerungsvermögen wichtig und notwendig. Die Erinnerungen, die aber ein Verlangen auslösen, können Unzufriedenheit schaffen. Wir erinnern uns an schöne Erlebnisse, z.B. Urlaub, Kino, Restaurantbesuche und es entsteht das Verlangen danach. Können wir das Verlangen nicht erfüllen, sind wir mit der jetzigen Situation unzufrieden. So entgeht uns, dass unsere Situation eigentlich im Moment zufriedenstellend ist und es uns gut geht.
Oder wir vergleichen uns mit anderen, die nach unserer Meinung besser, reicher, klüger, schöner, erfolgreicher sind. Daraus entstehen Gefühle wie Neid oder Eifersucht, Stolz, Überlegenheit einerseits oder Schuldgefühle, versagt zu haben, z.B. nicht gut genug zu sein, nicht schlau genug, nicht durchsetzungsfähig, nicht entschlossen genug, Selbstvorwürfe („Die anderen schaffen es doch auch, warum ich nicht?“) und Selbstentwertung andererseits. Wir wertschätzen uns und unsere Situation nicht, sind durch solche Gedanken und Gefühle aber gleichzeitig blockiert und nicht in der Lage, Veränderungen vorzunehmen. Wenn wir uns so fühlen, stecken wir fest in unserer Unzufriedenheit.
Und wenn uns Vergleiche zu Veränderungen anspornen? Das verschafft uns Zufriedenheit und Akzeptanz unserer selbst. Vielleicht haben wir in den anderen auch unser eigenes Potenzial erkannt. Dann bringt uns das Vergleichen in unserer Entwicklung weiter und führt zu mehr Zufriedenheit. Wenn wir uns aber nur um der Konkurrenz und der klesa willen anstrengen, treiben diese uns vor sich her. Das macht über kurz oder lang erneut unzufrieden. Mit Yoga entwickeln wir weiter unsere Unterscheidungsfähigkeit und können die Motive unterscheiden.
Ein anderer Grund sind bestimmte Erwartungen und gewünschte Ergebnisse, die wenn sie sich nicht erfüllen, zur Enttäuschung und zu Unzufriedenheit führen. Wir haften dann an unserer Vorstellung, wie wir es gern gehabt hätten. Es gibt aber kein garantiertes Ergebnis, weil wir nie alle Faktoren kennen können, die Einfluss auf einen Ablauf oder Ergebnis haben. Wir können eine Reise planen, aber wir wissen nicht, ob es Verspätungen gibt, die wir nicht in der Hand haben, ob es im Hotel laut ist oder uns das Essen schmeckt, wie das Wetter sein wird. Alles das kann dann die Ursache für die Enttäuschung unserer Vorstellung und Unzufriedenheit sein. Das Schöne im Urlaub können wir nicht mehr genießen. Deshalb ist das Loslassen-vairāgya- ein wichtiger Aspekt für Zufriedenheit. Wenn wir unser Tun betrachten wie ein Bauer, der nach bestem Bemühen seinen Boden beackert und nicht wissen kann, wie die Ernte ausfällt, dann aber mit dem zufrieden ist, was er erntet, das ist samtosa. Wenn wir nicht über Misserfolge oder Enttäuschungen jammern, sondern versuchen, aus ihnen zu lernen.
Unser Geist kann sehr oft etwas finden, was besser ist als die jetzige Situation, was optimaler (gewesen) wäre. „Das Haar in der Suppe zu finden“ kann ihm auch zur Gewohnheit werden und Zufriedenheit verhindern. Eine solche Gewohnheit zu erkennen und nach und nach auflösen zu können, führt uns im Alltag zur Zufriedenheit.
Die Zufriedenheit und das Glück, was wir kennen, ist flüchtig. Vieles in unserem Leben haben wir angestrebt, uns dafür angestrengt und sogar auch bekommen und Erfolge gehabt, ohne dass es uns in einen dauerhaften Zustand von Zufriedenheit und Glück gebracht hätte. Wenn wir verstehen, dass die Suche nach dem äußeren Glück uns letztendlich immer wieder unglücklich macht, wie können wir das Bedürfnis loslassen? Wie können wir das „Schwinden des Durstes“ erreichen?
Wir können erforschen (svadhyāya YS 2.1), welches die Quellen unserer Unzufriedenheit sind.
1.Welches sind die äußeren Quellen und wie kann ich sie reduzieren?
- Wenn z.B. die digitalen Medien die Sinne am meisten beschäftigen und immer neue Begierden nach Informationen oder auch Dingen auslösen, kann man dem nachgehen: Welche Kanäle oder Chatgruppen nutze ich? Wieviele der Informationen brauche ich wirklich? Wenn nur 10% oder 20% wirklich interessant für mich sind und ich 80%-90% meiner Zeit nutzlos verbringe kann ich nach einer Alternative suchen, die zeitsparend und zielgerichtet ist.
- Oder geht es nicht um die Informationen, sondern um ein anderes Bedürfnis? Und befriedigt mich diese Form wirklich? Ist vielleicht die Beschäftigung mit immer neuen Zielen und Wünschen ein Ausweichen vor sich selbst?
- Für Werbung kann man adblocker nutzen (z.B. von Firefox) und viel Zeit sparen. Denn selbst wenn wir zufrieden sind, nehmen unsere Sinne (indriya) viele Reize auf, die neue Bedürfnisse erzeugen. Die Werbung, ob in den Medien oder die Gestaltung der Verpackung, basiert auf dieser Wirkungsweise. Wir versprechen uns von Dingen, Ereignissen oder Menschen, dass sie uns glücklich machen. Dann sind wir für eine kurze Zeit zufrieden und ruhig.
2. Welches sind die inneren Quellen der Unzufriedenheit?
- Die inneren Quellen für Unzufriedenheit sind unsere Prägungen und Konditionierungen, also die klesa. Es können Glaubenssätze sein wie: Nur über Leistung wertvoll und liebenswert zu sein, was wie ein innerer Antreiber immer zu neuen Aktivitäten wirkt. Das Erreichte wird nicht gewürdigt. Das gleiche gilt für Sätze, nicht gut genug zu sein, was oft zu rastlosem Ehrgeiz wird. Das alles ist avidyā, eine negativ wirkende Illusion und Täuschung des Ego über sich selbst. Wenn wir diese Quellen erforschen und auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen können, können sie sich auflösen. Wir können immer zufriedener werden.
- Sind die Wünsche und Ziele wirklich die eigenen? Oder sind es Ziele, die von der Gesellschaft geprägt sind und übernommen worden, um dazu zu gehören? Bleiben die ureigenen Wünsche unerfüllt?
- Viktor Frankl, der Begründer der Logotherapie, stellt die Suche nach dem Sinn in den Mittelpunkt seiner Therapie. Er hat bei seinen Patienten festgestellt, dass Suchtverhalten oft mit dem Gefühl von Sinnlosigkeit einhergeht. Wenn ein Patient einen Sinn finden konnte, konnte er von seiner Sucht lassen. Das gleiche konnte er auch bei straffällig gewordenen Patienten beobachten. Wir können uns die Frage stellen, ob unsere eigene Unzufriedenheit vielleicht ihre tiefere Ursache darin hat, dass wir noch nicht unseren wirklichen Sinn gefunden bzw. gefunden, aber noch nicht erkannt haben. Dann will uns unsere Unzufriedenheit darauf hinweisen. Diesen Sinn zu finden bzw. zu erkennen kann uns Yoga unterstützen. Je mehr wir die klesa durchschauen und wissen, was wir nicht sind, desto mehr Klarheit entsteht darüber, wer wir sind.
Frankl nennt drei Bereiche, die Menschen als sinnstiftend erleben:
1.Etwas erschaffen. Frankl nennt es Selbsttranszendenz im Gegensatz zur Selbstverwirklichung oder einer hedonistischen Lebensweise. Im Yoga würde man sagen, nicht aus dem Ego und für das Ego, sondern das Ego überschreitend, aus dem Selbst (purusa/drsta/isvara): Z.B. ein Projekt, eine ehrenamliche Aufgabe, Kunst, eine neue Therapieform (wie Frankl), alle Erfindungen, Forschung (z.B. Humboldt). Weil es nicht aus dem Ego kommt, zielt es nicht auf Ruhm, Erfolg, Prestige, Macht und Geld, führt aber oft dazu. Es führt aber auf jeden Fall zu einer tiefen Zufriedenheit und dem Einverstandensein mit sich und dem Leben.
2. Auch wenn es nicht selbst erschaffen wurde, kann das Erleben solcher Dinge eine große Zufriedenheit bringen, z.B. meisterhafte Musik, Literatur – und auch die meisterhafte Natur.
3. Lieben gibt dem Leben Sinn. Das sagen auch viele Sterbende. Im Yoga heißt der Begriff dazu maitrī, die Liebe, mit ihren Aspekten des Mitgefühls/der Empathie (karunā), Mitfreude (mudita) und dem Verständnis/des Vegebens, upeksa. Diese Art der Liebe geht über die Liebe zu eine*m Partner*in hinaus. Sie drückt sich auch in Fürsorge, Anteilnahme oder sozialem Engagement aus und kann Tiere und Pflanzen mit einschließen. Nicht nur geliebt zu werden, sondern selbst zu lieben gibt unserem Leben Sinn.
Aus seiner eigenen Biografie heraus, Frankl war in vier Konzentrationslagern, hat er einen Sinn darin gefunden, sein unabänderliches Schicksal heroisch und in Würde zu (-er)tragen. Selbst wenn die Situation eigentlich dagegen spricht, kann man inneren Frieden finden. „Wer ein Warum hat, erträgt fast jedes Wie“ zitiert er Nietzsche. Frankl hat sein Schicksal heroisch ertragen und sein Leiden transzendiert in einen von der Liebe zu den Menschen getragenen Sinn.
Aufgrund unser Erforschung (svadhyāya YS 2.1) entwickeln wir Unterscheidungsfähigkeit (viveka) und können zwei wichtige Erkenntnisse erlangen:
- Wir entwickeln die Fähigkeit zu unterscheiden zwischen einer Unzufriedenheit durch die Bindung unseres Geistes an äußere Objekte, die nur auf Lustbefriedigung abzielt und einer Unzufriedenheit, die uns darauf hinweisen will, dass etwas in unserem Leben nicht unserem Sinn entspricht. Was macht mich wirklich glücklich? Wofür stehe ich morgens auf?
- Wir erkennen wir immer mehr, dass nicht die ständige Erfüllung der Wünsche, sondern Auflösung der Bindung an Wünsche- also vairāgya- die Lösung ist. Wir erkennen, dass es eine Illusion ist, wenn wir unser Glück auf die Erfüllung von Wünschen aufbauen. Die Illusion (avidyā) oder Verwechslung der Bedeutung der äußeren Objekte für unser Glück verschwindet.
- Samtosa wird auch mit Gleichmut übersetzt. In Verbindung mit dem sutra 2.15, das besagt, auch kurzfristiges äußeres Glück macht uns wegen seiner Vergänglichkeit nicht dauerhaft glücklich, werden angenehme oder unangenehme, erwünschte oder unerwünschte Ereignisse mit Gleichmut angenommen. Gleichmut bedeutet nicht Gleichgültigkeit, sondern vielmehr mit den angemessenen Gefühlen zu reagieren und dann auch wieder loszulassen um mit einem offenen Geist frei zu sein für die Wahrnehmung der Gegenwart. Auch dafür brauchen wir svadhyāya und viveka, um Gleichmut nicht mit fehlendem Antrieb, Fatalismus, Selbstzufriedenheit oder der Vermeidung von Eigenverantwortung zu verwechseln. Das alles kommt aus dem Ego.
Bedeutet samtosa, dass wir uns nichts mehr wünschen dürfen? Sich das Wünschen zu verbieten oder auszureden stärkt sie. Wir sollten uns aber bewusst sein, dass sie uns nicht das wirkliche innere Glück, sondern eine vergleichsweise oberflächliche Befriedigung, vielleicht sogar nur eine Ersatzbefriedigung bringen. Dann können wir entscheiden, ob sie den Aufwand wert sind. Zufriedenheit ist ein starkes inneres Bedürfnis. Und solange wir samtosa, das innere Glück, noch nicht erfahren haben, läßt uns dieses Bedürfnis nach Mitteln im Äußeren suchen, die es befriedigen sollen. Diese können wir aber mehr und mehr durch Yoga reduzieren.
Es ist nie zu spät für ein glückliches Leben. Ein Artikel über eine “ Studie zu über 90-Jährigen Selten gesund, oft zufrieden„. Mit Hilfe der Yogapraxis können wir schon früher Zufriedenheit erlangen.
Früh übt sich, wer ein*e Meister*in werden will: Ein Video über „Das Schulfach Glück„.
Während einer Wanderung komme ich mit der siebenjährigen Freundin meiner Tochter ins Gespräch. „Was willst du mal werden?“ frage ich neugierig. „Glücklich!“ die sofortige Antwort von Linde. Ich drücke Linde fest die Daumen. Aus: Was mein Leben reicher macht, Kalender Hardenberg Verlag 10.6.2014
Datei mit der Aussprache der Sanskritbegriffe
*Deutsches Yogaforum, Heft 05/ 10/2015, S. 15