Die Wintersonnenwende-Ein neuer Lebenszyklus beginnt

(Am Ende des Textes gibt es eine Audiodatei mit den Sanskritbegriffen)

Mit dem 22. Dezember endet ein Jahreszyklus mit dem „kürzesten“ Tag des Jahres. Ein neuer Lebenszyklus beginnt, in dem mit zunehmendem Sonnenlicht neues Leben entsteht, erblüht, Früchte trägt und wieder vergeht.

Alle Materie, ob fest, flüssig oder gasförmig, unterliegt der Vergänglichkeit oder parinama (YS 4.14) wie es im Yogasutra in Sanskrit heißt. Wir Menschen zählen auch zur Materie und unterliegen dem Prinzip der Vergänglichkeit. Nach unserer Philosophie ist unsere Existenz linear- von der Geburt zum Tod. In der indischen und auch in anderen Weisheitslehren wird die Existenz zyklisch betrachtet. Zwar endet die phyische Existenz auch in diesen Lehren mit dem Tod, aber das eigentliche Wesen, der Kern ist unvergänglich und materialisiert sich wieder, in welcher Form auch immer. Diese Betrachtung unserer Existenz als wiederkehrend stimmt überein mit dem Energieerhaltungsgesetz, welches besagt, dass Energie in einem geschlossenen System nicht verloren geht, sich aber sehr wohl verändern kann.

  • Gutes karma-schlechtes karma und das Prinzip der Verantwortung

Wenn Energie nicht verloren geht, wie verändert sie sich dann? Wie leben wir dann weiter? Wir können diese ferne Zukunft mitgestalten und zwar durch unser Wirken im jetzigen Leben, sagt die indische Lehre und nennt das karma.

Karma bedeutet Handlung. Das Prinzip des karma besagt lediglich, dass alles, was wir tun, sagen oder unterlassen, Folgen hat. Das können wir leicht im Alltag überprüfen. Desweiteren besagt dies, dass wir für unser Handeln verantwortlich sind. Die Wirkung unseres Tuns oder Vermeidens oder Unterlassens ist eine Energie, die nicht verloren geht. Hat unser Handeln positive Auswirkungen, so sammeln wir gute Energie, schädigen wir dadurch andere oder uns selbst, so sammeln wir negative Energie. Wir können diese Energie nicht vollständig in einem Leben ausgleichen. Deshalb führt karma zur Wiedergeburt. Wir nehmen die gesammelte Energie mit in jede neue Existenz, so dass sie dort, unter bestimmten Bedingungen, zur Wirkung kommt. Es ist niemand da, der jemanden verurteilt, beschuldigt und es geht nicht um Sühne, Buße oder Rache. Es wird neutral als Prinzip von Ursache und Wirkung beschrieben.

  • samsara- der Kreislauf der Wiedergeburten

Im Laufe der Existenzen werden wir immer wieder als Wesen auf diesem Planeten geboren. Das wird samsara, der Kreislauf der Wiedergeburten, genannt. Das ist jedoch kein Freibrief. Man kann sich bei Fehlverhalten nicht auf sein karma berufen. Und selbst wenn, würde man weiteres schlechtes karma anhäufen. Wie man es dreht und wendet: Wir sind für unser Tun verantwortlich und es fällt auf uns zurück.

Da irdisches Leben als leidvoll erlebt wird, ist das Ziel indischer Philosophien wie dem Yoga und der Religionen, frei zu werden vom Kreislauf der Wiedergeburten (moksha). In Texten wie dem Yogasutra wird beschrieben, wie ein Leben geführt werden sollte, möchte man frei werden von dem Zyklus. Es ist das Ziel, kein karma zu erzeugen, auch kein gutes. Nur dann endet der Kreislauf. In welcher Form wir dann „existieren“, ist die Frage. Es soll etwas sein nicht nur ohne Leid, sondern sogar ein Zustand von immerwährender Glückseligkeit (ānanda).


Vom Umgang mit der Vergänglichkeit

Wer das Wesen der Welt erkannt hat, sieht im Tode das Leben, aber auch im Leben den Tod. Arthur Schopenhauer (1788 – 1860), deutscher Philosoph.

Das „Wesen der Welt“ erkennen wir leicht und erachten es als selbstverständlich, solange es nicht um uns selbst geht. Zwar begrüßen wir das Erwachen der Natur am Ende des Winters, die Fülle im Frühjahr und das Licht und die Wärme im Sommer mit Freude und bedauern, bei aller Farbenpracht, im Herbst das Vergehen, den Tod, aber wir wissen, dass dies nicht das Ende ist. Wir erleben Jahr für Jahr das Vergehen und Absterben als Teil eines Veränderungsprozesses.

Der Wachstumsprozess, auch unser eigener, verbunden mit der Vorstellung, viel Zukunft vor sich zu haben, macht uns auch kein Problem. Aber schon bald, wenn die ersten Zeichen erscheinen, an denen zu merken ist, dass der Lebenszyklus in ein anderes Stadium tritt, löst dies Unbehagen oder Sorgen aus. Das physische Ende kann nicht mehr so einfach verdrängt werden, sondern wird bewusster erlebt. Dann kann die Veränderung Leid verursachen (parinamaduhkhaYS 2.15 / duhkha=Leid).

Dieses Leid ist sehr menschlich, aber wir sind ihm nicht ausgeliefert. Der vivekin (2.15), also derjenige, der erkennen und unterscheiden (viveka, Unterscheidungsfähigkeit 2.26/3.52/3.54/4.26) kann zwischen dem sterblichen Ego und dem unsterblichen Selbst, zwischen Wirklichkeit und Schein, erkennt nicht nur „das Wesen des Lebens“. Er erkennt auch, dass es mehr gibt als die veränderliche Materie. Dieses „andere“ ist schwer zu beschreiben und zu benennen. Es kann nur selbst erfahren werden. Um darüber sprechen zu können, werden, hilfsweise, verschiedene Begriffe benutzt: der Seher (drastā 1.3, 2.41), die Seele (ātmān 1.47), das innere unsterbliche Selbst (purusa 1.16, 1.24). Was wir aus den verschiedenen Begriffen ableiten können, ist, dass es offensichtlich einen anderen als den uns bekannten Zustand geben muss, denn er wurde erfahren. In diesem Zustand liegt die Erkenntnis über unser wirkliches Wesen und das wirkliche Sein. Im Licht dieser Erkenntnis löst sich das Leid über unsere (vermeintliche?) Vergänglichkeit auf.

  • Die Vergänglichkeit und unser Ego YS 2.15

Das Leid ist offenbar an unser Ego gebunden, da das Selbst leidfrei ist. Das Ego ist unser vertrauter Bewusstseinszustand, der sich in unseren Gedanken und Gefühlen ausdrückt. Unser Ich identifiziert sich mit Materie: mit dem Körper („mein“ Körper), mit dem Geist und seinen Funktionen, d.h. Gedanken („meine“ Gedanken, „meine“ Gefühle, „meine“ Meinung, Vorstellung, Erwartung) und Gefühlen (ich bin wütend, traurig, enttäuscht, fröhlich, zuversichtlich). Mit diesen sich ständig ständig verändernden Zuständen identifiziert sich das Ego und seine Existenz. Deshalb kreist das Ego um diese Existenz. Das nennt das Yogasutra asmitā (2.3). Auf dieser Ebene ist Vergänglichkeit ein Problem. Aus dem Nichtwissen (avidyā 2.4) über die eigentliche Existenz, den eigenen Kern, löst Veränderung Angst (abhinivesa 2.9) aus. Um sowohl die Veränderung als auch die Angst davor zu verdrängen oder zu vermeiden, wird alles abgewehrt und abgelehnt (dvesa 2.8), was als bedrohliche Veränderung erscheint und an alles geklammert (rāga 2.7), was den Schein der Unvergänglichkeit erzeugt. Alle diese Tendenzen werden klesa (2.3) genannt. Davon leben ganze Branchen, allen voran die Kosmetik-, Fitness-und Gesundheitsbranche.


asmitā und oder ātmān

Unsere Realität-und so haben wir es von den Generationen vor uns gelernt- ist dieses Ich, das eine bestimmte Größe, Form und Geschlecht hat, eine bestimmte Sprache spricht, einen bestimmte Rolle in der Familie, im Beruf und eine bestimmte Lebensspanne hat. Das ist unsere feste Überzeugung, denn das ist das, was wir in uns selbst und um uns herum erleben. So fällt es schwer, noch eine andere Existenzform in uns für wirklich real zu halten. Zwar gab es immer einige Menschen, die von anderen Erfahrungen berichteten und manche wurden dafür verfolgt oder für verrückt erklärt, aber die breite Masse erreicht die Botschaft bis heute nicht. Obwohl es viele Menschen gibt, die sich mit Hilfe von Substanzen einen veränderten Bewusstseinszustand schaffen wollen, geht es meistens nicht um eine spirituelle Erfahrung. Wer sich mit Yoga und Meditation beschäftigt, die über die Praxis auf der Matte zur Gesunderhaltung, Fitness, Leistungsfähigkeit hinausgeht, ist immer noch ziemlich auf sich gestellt und wird vielleicht belächelt, und nicht ernst genommen von den anderen Egos.

Vielleicht geschieht dies aus Angst, es könnte etwas dran sein. Dabei müssen wir uns nicht entscheiden zwischen Ego/Ich und dem inneren Selbst. Im Yoga haben beide ihre Bedeutung:

  • Unser Geist hat zwei Tendenzen: Die eine Tendenz ist, uns in unserem alten Zustand halten (klista 1.5). Wir handeln immer wieder egozentriert aus unseren Erfahrungen und Erinnerungen (smrti 1.6), unseren (Wunsch-) Vorstellungen (vikalpa 1.9), aus unseren falschen Interpretationen der Realität (viparyaya 1.8.), die alle aus den klesa, wie oben beschrieben resultieren.
    Die andere Tendenz ist, uns aus diesem Zustand zu befreien (aklista). Wie kann das geschehen? Durch den Übungsweg, wie er im zweiten Kapitel des Yogasutra beschrieben wird- dem sādhana pāda. Dieser Weg beginnt mit der Selbsterkenntnis durch Reflektion, durch svādhyāya (2.1). Durch die Erkenntnis der Funktionsweise unseres Geistes durchschauen wir immer mehr die Verwechslung –avidyā– unseres Ego mit dem wahren Selbst. Wird die Verwechslung oder Selbsttäuschung reduziert, reduziert sich auch die Tendenz, sich mit allem zu identifizieren und sich daran zu binden. Wir erkennen immer mehr, dass dieses sich ständig verändernde Ich nicht das unsterbliche Ich sein kann. Mit dieser Erkenntnis enthüllt sich dann das wirkliche Selbst (oder wie man es nennen möchte) nach und nach. In 2.52 heißt es, dass der Schleier, die Verhüllung (āvarana) reduziert wird (ksīate), der bzw. die das innere Licht (prakāsa) verdeckt. Das Licht steht für die unveränderliche Wahrheit und das Wissen um unsere Existenz. Wir sind im Alltag weiterhin auf die Fähigkeit zum Erinnern, Vorstellen, Planen und anderen Funktionsweisen unseres Geistes und unseres Egos angewiesen. Je mehr jedoch die Erkenntnis wächst, das innere Licht immer heller scheint, desto mehr wird sich der Geist hin zu aklista entwickeln.
  • In der Katha-Upanisad gibt es das Bild des „Wagenlenkers“, das die Verbindung des Geistes (buddhi) mit ātmān deutlich macht. Das Bild zeigt eine Kutsche, also ein Gefährt, das den Körper symbolisiert (śarīra). Die Kutsche wird gezogen von Pferden, die unseren Sinnen entsprechen (indriya). Unsere Sinne sind im Alltag nach außen gerichtet und reagieren auf alle möglichen Reize. Der Kutscher symbolisiert das Bewusstsein (buddhi). Wenn der Kutscher abgelenkt oder eingeschlafen oder geistig abwesend ist, kann er seine Aufgabe, die Pferde zu lenken nicht erfüllen. Die Pferde zieht es mal hierhin und mal dorthin, so wie wir es von unseren Sinnen kennen. Der Kutscher, unser Geist, muss also stets aufmerksam sein, um die Sinne in die richtige Richtung zu lenken. Der Besitzer in dieser Kutsche steht für den ātmān, das eigentliche Selbst. Der Kutscher ist nicht der Besitzer. Dieser braucht den Kutscher, um die Pferde zu führen. Die Frage ist, wer den Weg bestimmt. Fährt der Kutscher einfach drauflos oder bestimmt das Ziel ohne den Besitzer zu fragen? Oder gibt es eine Kommunikation? Der Besitzer bestimmt den Weg und das Ziel und teilt dies dem Kutscher mit. Der Kutscher hört dies und lenkt über die Zügel (manas), die dem Geist entsprechen die Sinne in Richtung des Ziels. Funktioniert diese Kommunikation so sind wir auf unserem Lebensweg. Üblicherweise halten wir den Kutscher für den Besitzer bzw. hält der Kutscher sich selbst für den Besitzer. Das ist das Ego. Das ist āvidya. Wenn der Kutscher den Besitzer nicht kennt und sich selbst für den Besitzer hält und glaubt, das Ziel zu kennen, können wir in unserem Leben falschen Zielen- denen des Ego -folgen, die andere Ziele als die des Selbst sind oder denen sogar entgegenstehen. Wir geraten auf Irrwege, werden unglücklich und verstehen nicht warum, denn manchmal ist äußerlich alles in Ordnung. Die Ziele des Selbst sind unsere Lebensaufgaben. Wenn wir ihnen folgen, erleben wir Glück.

Der Yogaweg besteht darin, diese Verwechselung zu erkennen (viveka), zu unterscheiden zwischen Kutscher und Besitzer bzw. Ego und Selbst. Dazu müssen wir den Besitzer, unser Selbst kennenlernen. Das ist unsere Aufgabe und das ist der Yogaweg der Meditation. Der Kutscher muss still werden, innehalten, um den Besitzer zu erkennen und ihm zuzuhören.


Solange wir uns nicht an unsere vorherigen Existenzen erinnern können, bleibt uns nur übrig, den Menschen, die über Erfahrungen von einer anderen Existenzebene, z.B. Nahtoderfahrungen und Yogis, berichten, zu glauben-oder nicht. Außer der eigenen inneren Erfahrung gibt es keinen Beweis. Auch dass Menschen über Jahrtausende von ihren transzendenten Erlebnissen berichten, ist noch kein Beweis. Andererseits kann man diese vielen Erfahrungen schwerlich als Spinnerei abtun.

Unabhängig von der Frage, ob wir mehrere Existenzen haben, kümmert sich Yoga um dieses Leben, das wir kennen und spekuliert nicht. Das Ziel des Yogaweges ist es, in diesem Leben ein transzendentales Bewusstsein zu erleben, das frei ist von den Einschränkungen unseres Geistes und das die absolute Wahrheit kennt. Diese Wahrheit besagt, dass es auf der Ebene weder Raum noch Zeit gibt und alles eine Einheit, alles verbunden ist. Darin liegt der innere und äußere Frieden und damit die Freiheit von Leid und die Erfahrung von Glückseligkeit. Wir kennen diese Qualitäten des raum-und zeitlosen Erlebens in besonderen Momenten, des Friedens und der Freiheit unabhängig von äußeren Bedingungen als vorübergehende Erscheinung bereits. In dem Zustand von ātman ist das der „normale“ Zustand. Diesen Zustand finden wir jedoch nur in uns selbst, durch Reflektion (svādhyāya) und Erkenntnis (viveka), die die Verhüllung unseres inneren Lichts beseitigen. Wenn unser Geist (Kutscher) in Kontakt kommt mit dem Selbst (Besitzer), kann das Selbst sich ausdrücken und der Geist kennt die Richtung und das Ziel. Unser Leben bekommt eine klare, eindeutige Ausrichtung und wir können unsere Lebensenergie bündeln und sinnvoll einsetzen. Wir vergeuden sie nicht mehr.


„Wenn was uns den Tod so schrecklich erscheinen läßt der Gedanke des Nichtseins wäre; so müßten wir mit gleichem Schauder der Zeit gedenken, da wir noch nicht waren. Denn es ist unumstößlich gewiß, daß das Nichtsein nach dem Tode nicht verschieden sein kann von dem vor der Geburt, folglich auch nicht beklagenswerter.“
„Für uns ist und bleibt der Tod ein Negatives, — das Aufhören des Lebens: allein er muss auch eine positive Seite haben, die jedoch uns verdeckt bleibt, weil unser Intellekt durchaus unfähig ist, sie zu fassen. Daher erkennen wir wohl, was wir durch den Tod verlieren, aber nicht, was wir durch ihn gewinnen.“
Arthur Schopenhauer (1788 – 1860), deutscher Philosoph


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