Viveka-Bilanz ziehen und eigene Ziele erkennen

pexels by pixabay
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Viveka ist ein zentraler Begriff im Yogasutra (YS 4.26). Er bedeutet Unterscheidungsfähigkeit. Daraus ergeben sich Fragen:

  • Was ist Unterscheidungsfähigkeit a) im Yoga b) im Alltag?
  • Was ist das, was unterschieden werden soll?
  • Wer ist der-oder diejenige, der/die unterscheidet?
  • Warum unterscheiden?
  • Was ist der Sinn von Unterscheidungsfähigkeit?
  • Was ist das Ziel?

Dualität als Voraussetzung von viveka

Dualität und das Denken in dualistischen Kategorien ist die Voraussetzung um unterscheiden zu können. Viveka hat mit der Funktionsweise unseres Geistes zu tun: Das Denken in Kategorien wie gut/schlecht, gesund/ungesund, das will ich/das will ich nicht, usw. Diese Funktionsweise ist uns so selbstverständlich, dass wir sie a) nicht bemerken und b) nicht anders denken können. Sie resultiert zum einen aus dem Erleben der dualen Welt, z.B. Tag/Nacht, heiss/kalt, trocken/nass und zum anderen aus einer übernommenen und erlernten Verhaltensweise durch unsere Sozialisation. Das hat Konsequenzen für unser Denken über und das Bild von uns selbst, über/von anderen, über „die Welt“, von „der Welt“, unser Handeln und für unsere Vorstellung davon.

Wenn wir alles als Einheit erfahren würden, wie im advaita-vedanta beschrieben, gäbe es keine Unterscheidungen.


Die Unterscheidung zwischen Schein und Sein

– so kann man kurz und knapp die Unterscheidungsfähigkeit im Yoga beschreiben. Die Unterscheidung zwischen avidyā (YS 2.3/2.4) und vidya.
Das beginnt bei uns selbst: Wir wollen so sein, wie wir nicht sind und nicht so sein, wie wir sind.  Das betrifft Körper und Geist. Die Ausprägung ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich, je nach den Erfahrungen im Leben. Fühlten wir uns angenommen und aufgenommen in unserer Gruppe, d.h. Familie, mit den Bedürfnissen und Gefühlen oder mussten wir ein Schein-Ich, dass immer lieb, brav und vorzeigbar ist aufbauen, um angenommen zu werden? Da die Zugehörigkeit überlebensnotwendig war und wir den Schutz der Familie brauchten, hatten wir keine Wahl. Unter diesem Schein-Ich existiert noch immer unser „echtes Ich“, das nicht leben durfte. Das „echte Ich“ hat mal jemand als das beschrieben „wie wir gemeint sind oder waren“, nicht was aus uns (gemacht) wurde.

Wir haben unser wirkliches Ich ganz oder teilweise nicht nur verdrängt, wir spüren es nicht mehr. Was wir spüren, ist dieses Schein-Ich. Das wird Identifikation genannt: Wir glauben wir sind das. Das ist avidyā. Die Folge ist, dass wir im Sinne dieses Ich oder Ego funktionieren. Wir planen, handeln und entscheiden, mit anderen Worten: Wir leben das Leben dieses Ego.

Wenn wir unser „echtes Ich“ leben wollen, müssen wir zunächst die Identifikation erkennen (vidya) und nach und nach wieder das eigene Ich entdecken. Dann entsteht viveka. Wir können unterscheiden zwischen dem Ego (asmitā, YS 2.6) und unserem eigenen Wesen.

Avidyā ist nicht nur die Täuschung über uns selbst sondern auch die Täuschungen über das Leben und die Welt generell. Mit unseren Sinnen nehmen wir die Welt auf eine unvollkommene, eingeschränkte Weise wahr, z.B. würden Tiere wie Hund, Katze oder Reptil aufgrund ihrer Sinneseindrücke die Welt ganz anders beschreiben. Die Täuschung besteht darin, dass wir unsere Sinneserfahrungen mit der Realität verwechseln. Sie und die daraus folgende Rechthaberei sind die Grundlage vieler kleiner und großer Konflikte.


Das Ich und das Selbst

Wenn wir uns das Ego als die obere „Zwiebelschicht“ und das „echte Ich“ als die zweite Schicht vorstellen, dann gibt es im Yoga und allen spirituellen Traditionen noch eine dritte Schicht. Diese Schicht wird „Selbst“ (purusa, isvara, drsta YS 4.18) genannt. Man kann es in etwa mit unserem Begriff Seele übersetzen: unvergänglich, vollkommene Erkenntnis der unwiderlegbaren Wahrheit und Wirklichkeit.

Das Selbst ist ein Bewusstseinszustand der verschieden ist von unserem Geist wie wir ihn kennen. In dem Erkennen der absoluten Wirklichkeit leiden wir nicht mehr. Wir kennen weiterhin den körperlichen, biologischen Schmerz, der ist ja da, aber wir leiden in diesem Bewusstseinszustand nicht mehr darunter. Wir unterscheiden zwischen Schmerz und Leid. Natürlich versuchen wir alles, um den Schmerz bzw. die Ursache zu beseitigen.

Wir leiden auch nicht mehr unter unserem Geist, den klesa (YS 2.3) die (Todes-)Angst, die Gier, das Festhalten, die Ablehnung, der Hass – und nicht unter den Hindernissen, den antarāya (YS 1.30), denn das sind Funktionsweisen des Geistes (citta YS 1.5). In dem anderen Bewusstseinszustand (kaivalya YS 2.25/3.55 ) sind wir frei davon.

Yoga ist im ersten Schritt die Unterscheidung zwischen dem Schein-Ich/Ego und dem „echten Ich“ und letztendlich im Freiwerden von den beiden durch die Erkenntnis des Selbst. Das ist das Geschenk des Yoga und der spirituellen Erfahrungen, die uns von den vielen Menschen vor uns überliefert wurden. Viveka ist demzufolge ein Prozess.


Rückblick mit svādhyāya YS 2.1/2.44

Auch diese Jahreszeit hat ihre Herausforderungen: Projekte werden abgeschlossen, Bilanz gezogen, Weihnachtsmärkte und -essen stehen auf dem Programm, die Wohnung dekorieren, Plätzchen backen, Geschenke kaufen. Für jeden ist es etwas anderes. Für viele ist es dennoch eine Zeit des Rückzugs und des Rückblicks. Der Blick zurück auf die Erwartungen, Erfahrungen und die Situation führt zu einer Standortbestimmung, einer Überpüfung des Weges, der Mittel, der notwendigen Schritte und des Zieles. Das ist von Zeit zu Zeit notwendig.

Den persönlichen Rückblick auf das Jahr und die Erfahrungen nennt man auch svādhyāya-das Selbststudium. Sva heißt selbst. Es geht also um uns, unsere Erfahrungen, nicht um die anderen.

Welches Selbst ist hier gemeint? Das Ego, das „echte Ich“ oder das (spirituelle) Selbst? Das ist vom jeweiligen Bewusstseinszustand abhängig. Ist das Ego im Vordergrund, wird es seine Version der Ereignisse „erzählen“. Diese Version spiegelt die Perspektive der klesa und der antarāya (YS 1.30).

  • Das Ego oder Schein-Ich

Erinnerungen sind nie nur sachlich und neutral. Jede Erinnerung ist eingebettet in vorherige Erfahrungen und wird mit ihnen verglichen. Dann bewertet das Ego die Erfahrung als besser oder schlechter, nicht einfach nur als einmaliges Ereignis. Oder die Erinnerungen in Verbindung mit dem klesa avidyā – die Täuschung oder Selbsttäuschung- in der Form falscher Erwartungen an sich selbst, an andere oder die allgemeine Situation. Wenn die Erfahrung davon abweicht, werten wir das Ereignis als besser oder schlechter. Eigentlich ist jedoch nicht die Erfahrung gut oder schlecht. Unsere Täuschung, also unser Geist, macht sie dazu. Und unser Ego bewertet alles aus der Ich-Perspektive- aus asmitā. Was ist für MICH gut, schlecht, verletzend, bedrohlich, wichtig, unwichtig?

Der Jahresrückblick auf dieser Ebene ist wichtig und wertvoll, denn das Ego ist ja ein Teil von uns. Es zeigt uns, wo wir stehen, aber wir sollten dort nicht stehen bleiben. Wenn wir Rückschau halten und wenn wir eine Bilanz dieses Jahres ziehen, ist viveka wichtig. Unser Ego fällt sehr schnell ein Urteil, ob es ein gutes oder schlechtes Jahr war- immer aus der Perspektive der klesa. Es ist das Resumee unseres Schein-Ich. Die klärende Frage kann lauten: Ist das wirklich wahr? (Nach Byron Katie, The work)

  • Das „echte Ich“

Was bedeutet das für unser „echtes Ich“? Wir haben den Beruf, den Ort, die Freunde/Freundinnen und Partner*innen gewählt, d.h. unser ganzes Leben so aufgebaut, dass es zum Schein-Ich passt. Damit fühlt sich unser Ego sicher. Die Bewertung von Erfolg und auch die Ziele werden bewusst oder unbewusst so ausgesucht, dass sie dazu passen. Alles das kann, muss aber nicht zu unserem „echten Ich“ passen. Das herauszufinden ist eine wichtige Aufgabe. Das ist viveka.

Das „echte Ich“ ist nicht mehr in unserem Bewusstsein. Wir mussten es verdrängen, weil der Schmerz darüber, nicht leben zu können, die Bedürfnisse und echten Gefühle zu unterdrücken, nicht auszuhalten war und ist. Nur manchmal zeigt es sich, aber dann lenken wir uns ganz schnell wieder ab.

Wenn sich das Gefühl oder Bedürfnis nicht ignorieren läßt, gibt es verschiedene Lösungen:
Wir verschaffen uns ein gutes Gefühl durch einen Ersatzstoff (Nikotin, Kaffee, Schokolade, Alkohol, synthetische Drogen) oder durch Ersatzhandlungen (Konsum, Essen gehen, Medien). Dies alles betäubt mehr oder weniger. Betäubt sein kommt von „taub“ gegenüber den eigenen Empfindungen. Das ist der Grund für Sucht (rāga YS 2.7).
Oder wir projezieren den Wunsch/das Bedürfnis auf andere und kritisieren es dort, denn wenn wir uns selbst etwas nicht erlauben, müssen wir andere, die es sich erlauben, abwerten. Das halten wir sonst nicht aus. Das gibt dann ein Gefühl moralischer Überlegenheit und wir haben den Wunsch sozusagen ausgelagert.
Oder wir reden uns ein, wir wollen oder brauchen es eigentlich nicht. Denn die Angst davor, damit wieder abgelehnt, erneut verletzt, beschämt oder abgewertet zu werden, ist zu groß.

Svādhyāya kann bedeuten sich zu fragen: Wie habe ich das „echte Ich“ in diesem Jahr gelebt? Wann, wo, wie hat es sich gezeigt? Welche Erfahrungen waren damit verbunden? Wurde ich damit, anders als früher, akzeptiert oder sogar gewertschätzt? Wichtig: Es gibt kein richtig oder falsch!

Wenn es für Menschen nicht eine Regelmäßigkeit ist, sich zu reflektieren, ist schon die Beschäftigung mit dem Ego herausfordernd. Auch dort können schon unangenehme Gefühle auftauchen, die gern verdrängt und vermieden werden. Auch für diese Rückschau braucht es Ruhe und Muße. Dies gilt verstärkt für den Kontakt zum „echten Ich“. Das braucht eine regelmäßige Praxis und Mut. Dennoch lohnt sich jeder Versuch. Es kann eine Bestätigung sein, auf dem richtigen Weg zu sein. Oder Ziele und Mittel können feinjustiert werden. Die Energie kann zielgerichtet eingesetzt, das Leben befriedigender werden und sich dadurch die Lebensqualität erhöhen. Wenn sich jedoch zeigt, dass das „echte Ich“ nicht gelebt wird- das ins Leben gekommen ist um gelebt zu werden- erfordert der Umgang mit der Erkenntnis gutes „Werkzeug“ und eventuell eine professionelle Begleitung.

  • Das Selbst

Die Erkenntnis des Selbst ist für die meisten Menschen ein langer, sogar lebenslanger Weg mit regelmäßiger und intensiver Praxis des Yogaweges mit Meditation. Dennoch kann es sich durchaus immer wieder zeigen, z.B. als Zustand großer Klarheit, Einsicht, Ruhe und Frieden.


  • Das Yogasutra als Werkzeug

Das Yogasutra mit seinem achtgliedrigen Weg (astanga YS 2.26ff) ist eine Landkarte auf dem Weg zum „echten Ich“ und natürlich zum Ziel, zum Selbst. Auf dieser Landkarte gibt es viele „Hinweisschilder“: Die Werte der yama ( YS 2.35 ) und niyama (YS 2.40 ) und die bhāvana (YS 1.33), als Herzens-oder Seinsqualitäten bezeichnet, sind vom Ego unabhängige Werte. Die Beschreibung unseres Geistes als klista und aklista, als bindend (an das Ego) oder befreiend (YS 1.5) macht uns wachsam, welcher Art unsere Gedanken und Gefühle (vritti) sind. Der Text weist darauf hin, dass wir uns mit ihnen identifizieren (YS 1.4) was zu der Wurzel der klesa, Täuschung, führt. Durch den Text und den Hinweis darauf, dass es etwas anderes als das Ego gibt, nämlich das Selbst, können wir überhaupt bemerken, dass wir uns täuschen, den falschen Ideen und Werten hinterherlaufen. Falsch, weil sie uns nur eine Scheinsicherheit und ein scheinbares, weil vergängliches Glück versprechen.

Es sind wichtige Hinweise, den Weg müssen wir dennoch selbst gehen, oder wie Dr. Shrikrishna sagt „Find it out yourself“. Wir brauchen eine regelmäßige Praxis (abhyāsa YS 1.12/ 1.14). Eine einmalige Praxis nur zum Jahresende wird uns nicht zum „echten Ich“, geschweige denn zum Selbst führen. Vielleicht ist sie ein Anfang?


Der persönliche Jahresrückblick mit Yoga

Eine regelmäßige Yogapraxis mit Meditation erleichtert den Rückzug der Sinne vom Alltagsgeschehen (pratyāhāra YS 2.54/2.55) und die Fähigkeit zur Konzentration auf das Thema (dharāna YS 3.1). Wahrscheinlich sind auch bereits einige Konditionierungen und die Wirkung der klesa im Alltag bekannt. Mithilfe der āsana (YS 246 / 2.47) ist eine gute Eigenwahrnehmung gegeben. Diese kann wiederum bei der Erkenntnis von Schein und Sein helfen. Mit dem Atem (prānāyāma YS 2.49), z.B. der Wechselatmung, kann die Aufmerksamkeit nach innen und zum Unbewussten verstärkt werden.

In der Meditation, wenn die Gedanken still werden, können die Erfahrungen dieses Jahres in das Bewusstsein aufsteigen. Ohne Vorgabe werden dies zunächst die Erinnerungen sein, die eine wichtige Veränderung gebracht haben und/oder als besonders emotional erlebt wurden. So können wir eine Erinnerung nach der anderen betrachten und weiterziehen lassen.

Wir können dann das Jahr reflektieren, z.B.:

  • Welche Erfahrungen habe ich auf dem Yogaweg auf der Yogamatte und im Alltag, auf dem Weg zu mir selbst gemacht?
  • Welche Fülle an Lebendigkeit in diesem Jahr, auch in dem, was ich mir nicht gewünscht habe, drückt sich in allem aus?
  • Wie bewerte ich die Erfahrungen-mit zeitlichem Abstand- heute? Ist das wirklich wahr?
  • Welchen Einfluss hatte/hat die Yogapraxis auf die klesa, besonders im Alltag?
  • Was ist mir leicht gefallen?
  • Was hat meine Fähigkeiten, Kraft und Einsicht gefordert und gefördert?
  • Was wurde mir geschenkt?
  • Wofür bin ich dankbar?
  • Welche dieser Erfahrungen, die gespeichert sind, möchte ich mit in das nächste Jahr nehmen?
  • Welche Erfahrungen wollen noch gewürdigt und dann verabschiedet werden?

Mit dieser Klarheit können wir im nächsten Jahr unseren persönlichen Weg zu weiterem Wachstum weitergehen.

In diesem Sinne: Auf ein gutes Jahr für uns alle und das Ganze! Und Mut, Vertrauen, Wachstum!