Gedanken zum Frühlingsanfang: Erinnert sich die Blume an das Samenkorn?

Bild: pexels-freddie-ramm
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(Am Ende des Textes gibt es eine Audiodatei mit den Sanskritbegriffen)

Die Frage ist nicht wörtlich gemeint. Eine Blume kann sich nicht in unserem Sinne erinnern. Aber wir können uns vorstellen, es wäre möglich. Was bedeutet das? Die Blume war ein Samenkorn. Dieser Samen enthält nicht die Pflanze selbst, sondern das Potenzial. Das Potenzial ist von außen nicht oder nur für Gärtner erkennbar, so dass wir bei einem Samenkorn nicht wissen, welche Pflanze daraus wächst. Wenn das Samenkorn sich noch in der Erde befindet, wissen wir nicht einmal von seiner Existenz. Zu unserer Überraschung sehen wir dann, wie ein kleines grünes Köpfchen aus der Erde ragt-ohne unser Zutun. Wenn wir es sehen können, hat der Transformationsprozess vom Samen zur Pflanze bereits eingesetzt. Noch ist die Blume mit dem Samen verbunden, aber schon bald bildet sie Wurzeln und verändert die ursprüngliche Gestalt komplett.
Die Pflanze ist als Möglichkeit in ihrer ganzen Vollkommenheit im Samen vorhanden. Alles ist als Möglichkeit angelegt. Damit ist ihre spätere Existenz, ihre Form aber nicht von vornherein festgelegt, denn welche Anlagen sich wie entwickeln können, hängt von den Umweltbedingungen ab.
Im Samen liegt nicht nur das Potenzial dieser einen Pflanze. Er bringt das Potenzial der vorherigen Generationen und deren Entwicklungen mit. Jede Pflanze ist ganz neu und individuell und beinhaltet gleichzeitig die Geschichte der Pflanzen von Millionen Jahren. Diese Geschichte gehört zu der Pflanze und kommt durch ihr Wachsen ebenfalls zum Ausdruck.


Was sagt uns das über unsere eigene Existenz? Karma YS 1.24 und vāsanā YS 4.8

Bevor sich Ei-und Samenzelle vereinigt haben, haben wir jeweils als Eizelle und Samenzelle existiert. In beiden lag bereits das Potenzial für unsere Existenz vor. Wenn wir von „unseren“ oder „meinen“ Genen sprechen, was meinen wir damit? Es gab bereits etwas Lebendiges, eine Existenz, so wie der Pflanzensamen in der Erde, aber das Potenzial ruhte noch. Diese Existenz hatte mit unserer späteren Form wenig zu tun. Mit der Vereinigung beider Potenziale entstand etwas neues, zunächst noch unbemerkt. Durch einen ungeheuren Transformationsprozess, indem der Embryo die Geschichte der Evolution im Zeitraffer durchläuft entsteht eine neue Form, ein neues Wesen, ein neuer Mensch: Individuell, einmalig und doch weist er über seine Existenz hinaus, denn er bringt die ganze Menschheitsgeschichte mit. Nur- wir erinnern uns nicht. So kann man die Begriffe karma und vāsanā im Yogasutra erklären.

  • karma 1.24

Karma bedeutet übersetzt einfach nur  „Handlung“. Was hat das mit der Wiedergeburt und „schlechtem“ oder „guten“ karma  zu tun? Karma ist nicht die Handlung allein, sondern beinhaltet auch die Ergebnisse oder wie es in der Bhagavadgīta (5. Kapitel) heißt, die Früchte. Im Alltag erfahren wir das, wenn wir etwas beginnen, z.B.ein Projekt. Jedes Zwischenergebnis führt zu neuen Schritten. Auch dann entsteht karma. Dieses karma erfordert neues Handeln. Wenn wir das Ergebnis wieder abarbeiten, ist dieses karma erledigt. Es entsteht aber wieder ein neues. So führen unsere Handlungen im Sinne des Yoga bis zum Lebensende zu immer neuem karma. Das karma, das wir nicht mehr abarbeiten können, führt zu einer neuen Existenz, um es aufzulösen. So sagen die Schriften. Der Tod ist kein Schlussstrich, denn nur unser Körper stirbt, nicht unser Wesen oder Selbst (purusa, drasta 1.3). Dieser Kreislauf (samsara) wird das Rad der Wiedergeburten genannt. Aus einem kindlichen, naiven Verständnis heraus gibt es die Idee, es gäbe eine Reinkarnation (carne:Fleisch, incarno: Mensch werden, aus einem anderen Zustand in den menschlichen) in Menschen, Tiere oder Pflanzen. Da wir aber mit unserem Bewusstsein nicht erinnern, wie unsere Form war bevor wir in diese Existenz kamen und nicht wissen, wie sie dann sein wird, ist es auch möglich, dass wir nicht als das bekannte „Ich“ wieder geboren werden. Das alles ist Spekulation. Unser Geist will eine Erklärung. Er will Sicherheit. Aber wenn ein Wassertropfen ins Meer fällt, durch die Verdunstung Wasser aufsteigt und sich in der Wolke Tröpfchen bilden, ist der Tropfen dann der ursprüngliche?

klesa karma

Das Ziel im Yoga wie auch im Hinduismus und Buddhismus ist, aus dem Rad der Wiedergeburten auszusteigen. Warum? Die menschliche Existenz ist ein Durchgang unseres Selbst von einer Existenz zur nächsten und von Leid geprägt. Irdisches Leben ist Leiden. Also soll eine neue Existenz vermieden werden. Der Kreislauf endet wenn kein neues karma erzeugt wird. Yoga unterscheidet daher nicht zwischen gutem und schlechtem karma. Vielmehr ist das Ziel, überhaupt kein karma zu erzeugen. Können wir karma vermeiden und wenn ja, wie? Die Ursache für karma sind Handlungen, die aus den klesa entstehen. Die klesa sind die unbewussten Antriebe unserer Handlungen. Sie trüben unser Bewusstsein und verfälschen unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit. Die Verfälschung führt zu falschen oder unvollständigen Bewertungen, Unterstellungen und Schlussfolgerungen, die zu fehlerhaften oder falschen Handlungen führen und diese wiederum zu einem verfälschten, schmerzhaften, ungünstigen Ergebnis. So entsteht Leid, so entsteht immer neues karma. Deshalb ist es die Aufgabe des Menschen und der Weg in die Befreiung von Leid, die klesa zu erkennen, zu identifizieren, sich ihr Wirken in den Gedanken und Handlungen bewusst zu machen und damit ihren Einfluss immer mehr zu reduzieren. Keine klesa-kein karma. Dieser Entwicklungs-und Befreiungsprozess wird im Yogasutra astanga (2.29) genannt. Wir sind unseren Trieben, unserem Ego nicht ausgeliefert. Es gibt eine Strategie, denn unser Geist ist zu sowohl zu den unbewussten, klesa-gesteuerten (klista), als auch zu den befreienden Gedanken und Erkenntnissen (aklista, 1.5) fähig. Der Übungsweg (sādhana pāda) führt den Geist immer mehr zur Erkenntnis (viveka 4.26), wer wir wirklich sind und zu den befreienden Gedanken.
Und so heißt es im Yogasutra 4.7: Die Handlungen des Yogi (das ist derjenige, der frei ist) sind weder schwarz noch weiß. Sie sind nicht mehr von den klesa gefärbt.

  • vāsanā YS 4.8

Vāsanā heißt wörtlich Geruch*. Damit soll ausgedrückt werden, dass es sich um etwas sehr subtiles, nicht gut greifbares handelt. Aus klesa entsteht karma und dieses hinterläßt vāsanā. Die vāsanā sind unserem Bewusstsein nicht unmittelbar zugänglich und können aus früheren Existenzen stammen. Es können zunächst verborgene Talente, Begabungen, Gefühle oder andere Ressourcen und auch negative, schmerzhafte Erfahrungen sein, die nur dann sichtbar werden, wenn die Situation und die Umstände dazu passen. Möglicherweise sind transgenerationale Erscheinungen und die Epigenetik, die zunächst nichts mit der Person zu tun zu haben scheinen, sich aber aus Erlebnissen der vorherigen Generationen erklären, so etwas wie vāsanā. Das „Familienstellen“ arbeitet damit.

Wenn die vāsanā sich auch als Talente und Begabungen zeigen, ist die Frage, was unser individueller Anteil an unserem Erfolg oder an Ergebnissen ist. Es sind jedenfalls keine 100%. Ein Grund, unsere „Früchte“ nicht überzubewerten, dankbar für die Möglichkeiten zu sein und etwas „gesunde Demut“ zu empfinden. Andererseits können wir die Verantwortung für unser Tun, auch für die Ergebnisse, nicht abgeben. Die vāsanā, die Epigenetik sind kein Freibrief. Wir entscheiden letztendlich immer noch über unser Handeln.


Wenn der Same auf Sicherheit setzen würde, gäbe es keine Blumen…keine Blüten.**

….und er würde seinen Sinn verfehlen. Den Samen gibt es nicht um seiner Selbst willen. Er ist dazu bestimmt -wenn die Bedingungen es ermöglichen- sich zu einer bestimmten Zeit in eine Pflanze zu transformieren. Dafür hat er sein Potenzial bekommen.

Purusa
Unser Potenzial, manche sprechen von einem „göttlichen“ oder „höchsten“ Zustand, weil es über unsere begrenzte menschliche Existenz hinaus geht, wird im Yoga als Selbst (purusa, 1.16, 1.24, 3.49) bezeichnet. Dieses Selbst ist frei von den Trieben (klesa) und damit vom Kreislauf. Ein Handeln dieses Selbst oder aus diesem Selbst führt deshalb nicht zu karma. Dieses Selbst können wir in tiefer Meditation erfahren. Dafür muss der Geist still sein (nirodha 1.2).


„Es ist besser, sein eigenes Gesetz unvollkommen als das Gesetz eines anderen vollkommen zu erfüllen“ , Bhagavadgīta 18.47

Dharma

Das Potenzial wird dharma (3.13, 3.14) genannt. Aus ihm entsteht alles, was uns als Menschen ausmacht. Alles, was wir waren, sind oder sein werden, leiten sich daraus ab.*** Dieses dharma zu leben ist unsere Aufgabe-unsere Lebensaufgabe (4.12) oder wie es in der Bhagavadgīta heißt, unser eigenes Gesetz. Wenn wir unser dharma leben, fühlen wir uns erfüllt, denn wir erfüllen unser dharma. Das kann niemand für uns tun. Und weil das dharma unser Lebenszweck ist, kann es uns krank machen, wenn wir es nicht leben, sondern so wie wir glauben, dass andere es wollen- die Eltern, die Freunde, im Beruf, wenn wir von unserem Weg abkommen oder sogar versuchen, das dharma anderer (z.B. das der Eltern) zu erfüllen. Letzteres ist eine Anmaßung, denn dazu sind wir nicht befugt, selbst wenn wir es „vollkommen“ erfüllen. Aufgrund des Prinzips von Ursache und Wirkung beruht das dharma auf der karmischen Vergangenheit, die es zu aufzuarbeiten gilt. Wir haben aber die Wahl, dharma ist nicht dasselbe wie Schicksal.

Dharma klingt vielleicht nach Drama, anstrengend, nach Arbeit und nach einer großen Bürde. Das kann es für den einzelnen oder zeitweise sein, aber muss es nicht. Dharma vollzieht sich im Alltag. Es geht für die meisten nicht um den Nobelpreis, die Rettung der Welt oder Ruhm. Dharma zeigt sich in einem Gefühl der Übereinstimmung im eigenen Handeln und Leben, in einem ruhigen Geist.

Was unsere Anlagen sind ist das was wir beitragen können. Die klesa sollten uns nicht daran hindern. Mehr oder anderes ist nicht nötig und auch nicht möglich. Wir können uns darum bemühen, durch Meditation oder Reflektion unser dharma kennenzulernen, denn es ist möglicherweise unter den klesa verschüttet. Wo wurde ich hingestellt? Wo ist mein Platz? Anders als Pflanzen haben wir die Möglichkeit uns einen Platz mit besseren Entfaltungsbedingungen zu wählen und so für möglichst gute Bedingungen zu sorgen. Was sind meine Anlagen und was nicht? Ein Löwenzahn kann nur ein Löwenzahn werden, aber nicht zu einem Gänseblümchen-selbst bei identischen Standortbedingungen nicht. Wir können viel Energie und Zeit sparen und Enttäuschungen vermeiden, wenn wir unser dharma kennen.

Dann können wir unser Selbst langsam zum Vorschein bringen. Schließlich können wir für möglichst gute Entfaltungs- oder Wachstumsbedingungen sorgen. Indem wir authentisch leben, kann unser Potenzial vollständig erblühen und die Welt bereichern. Das ist unser schönste Geschenk für uns selbst und die Welt.


Audiodatei mit den Sanskritbegriffen


*Patanjali Das Yogasutra, R.Sriram,Theseus Verlag, 2006, S.231

**Gayan S.Winter, Meditation für Frauen, 1996 Wilhelm Heyne Verlag, S.62

***Patanjali Das Yogasutra, R.Sriram,Theseus Verlag, 2006, S.173