Kriya Yoga beinhaltet drei Aspekte. Das Sutra beginnt mit dem Thema Leidenschaft – tapas. Es ist dem Selbststudium svadhyaya vorangestellt. Das ist kein Zufall, denn das Yogasutra und jedes Sutra selbst sind logisch aufgebaut. Die Leidenschaft ist nicht nur für die gesamte Yogapraxis eine wichtige Voraussetzung, sondern auch für das Selbststudium.
Selbststudium – svadhyaya – ein Egotrip?
Ist das nicht Nabelschau? Ein Egotrip? Wenn die Yogapraxis sich nur auf das Selbststudium oder die Selbstbeobachtung beschränkt und die anderen Aspekte außer acht läßt, kann es fälschlicherweise zu einem Egotrip werden. Wichtig ist auch hier, die anderen Sutren im Blick zu haben wie die Yamas (YS 2.30) und Bhavanas (YS 1.33). Die Yamas benennen die innere Einstellung, die jeder Mensch, nicht nur auf dem Yogaweg, im Umgang mit Anderen pflegen sollte: Gewaltfreiheit, die Wahrheit sprechen, nicht stehlen, ohne Gier sein und im Bewusstsein verbunden mit dem großen Ganzen.
Die Bhavanas nennen die vier Gefühlsqualitäten in der Beziehung mit und zu anderen Menschen: liebevolle Freundlichkeit, Mitgefühl, Mitfreude und Toleranz.
Svadhyaya als andauernder Prozess der wertfreien Selbstwahrnehmung
In Bezug zu diesen und anderen Sutren wird klar, dass mit Selbstbeobachtung / -reflektion kein egoistisches Verhalten gemeint sein kann. Selbstbeobachten bedeutet, sich der körperlichen Empfindungen, der Emotionen und Gedanken bewusst zu sein bzw. werden. Das ist nicht selbstverständlich. Im Alltag, während der Asanapraxis und in der Meditation sind wir uns immer mehr bewusst, was tagtäglich in unserem Innern vor sich geht. Wir nehmen es zur Kenntnis, ohne (uns) zu verurteilen und zu bewerten. Das ist Reflektion.
So können wir erkennen, was uns stresst, wie wir zu bestimmten Ergebnissen kommen, warum wir uns irren und was uns in die falsche Richtung führt. Selbstverständlich können wir auch sehen, wo auf wir auf einem guten Weg sind.
Manche Gedanken und Gefühle sind eher an der Oberfläche. Wir können sie leicht wahrnehmen und wenn nötig, verändern. Länger und schwieriger wird es mit den Gedanken und Gefühlen, die wir verdrängt oder abgespalten haben und nicht mehr als zu uns gehörig wahrnehmen. Oftmals tarnen sie sich als kritische Gedanken, die wir über andere denken. Die Gedanken über eine andere Person können uns zu uns selbst führen – wenn wir dafür offen sind. Da es sich um einen permanenten Prozess handelt, kommt es einem Studium nahe. Deshalb wird es auch mit Selbststudium übersetzt. Zusammengefasst kann man svadhyaya als einem andauernden Prozess der wertfreien Selbstwahrnehmung bezeichnen.
Was ist das Ziel von Svadhyaya nach dem Yogasutra?
Ziel von svadhyaya ist, unser Selbst kennen zu lernen. Sva bedeutet das Selbst. Wer bin ich wirklich? Wer bin ich jenseits meiner Gedanken und Gefühle? Gibt es das Selbst? Ja, sagen viele Menschen, die dieses Selbst in tiefer Selbstreflektion bzw. Meditation erfahren haben. Dieses Selbst liegt verborgen unter den vielen Meinungen, Gedanken und Gefühlen. Alles das gehört zu mir, aber es ist nicht das Selbst, sagen die Weisheitsschriften. Zuerst muss ich mir meiner Gedanken und Gefühle bewusst sein und wissen, dass ist nicht mein Selbst, bevor ich darunter das Selbst entdecken kann. Neti, neti heißt es in den upanishaden, die älter sind als das Yogasutra. Neti, neti – nicht dies, nicht das. Ich bin nicht diese Gefühle, nicht diese Gedanken. Das führt zu der Frage: Wer denkt und fühlt das?
Durch Svadhyaya innere Blockaden erkennen
Bestimmte Hindernisse (YS 1.30 antaraya) stören unseren Yogaweg und damit den Weg zu einem glücklicheren Leben. Das Yogasutra zählt neun auf: Krankeit, Trägheit, Schwere des Geistes, permanentes Zweifeln, Widerstand gegen besseres Wissen, Faulheit, Fehlen von Toleranz, Fehleinschätzung von sich selbst, Mangel an Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit. Sicherlich gibt es noch mehr Hindernisse.
Svadhyaya als Reinigungsprozess
Svadhyaya ist ein Teil von kriya yoga. Kriya hat zwei Bedeutungen: Handlung und Reinigung.
Svadhyaya ist eine Form der inneren Reinigung. Indem der/die Übende sich körperlicher Fehlhaltung, einschränkender und blockierender Gedanken und Gefühle bewusst wird, kann er/sie daran arbeiten und sie verändern.
Was hat Svadhyaya mit dem Alltag zu tun?
Was auf der Yogamatte und dem Meditationskissen zum Selbst führt, hat einen praktischen Wert für den Alltag und die Lebensqualität. Denn es sind oft unsere tiefsitzenden Gedanken und Gefühle, die uns nicht nur von unserem Selbst, sondern von unserer Zufriedenheit, unserem Glück und unserem Erfolg trennen. Solange wir sie nicht kennen, wiederholen wir wie in einem Hamsterrad immer wieder ähnliche Situationen. Wir können nicht anders. Wir halten an Gewohnheiten fest (raga), lehnen Veränderungen ab (dvesa), stärken sogar diese Gewohnheiten noch (asmita) und sind unseren Ängsten ausgeliefert (abhinivesa). Mit diesen tiefsitzenden Neigungen (YS 2.3 klesas) sind wir so identifiziert, dass wir sie für unveränderlich halten, weil wir der Überzeugung sind, dass wir DAS sind (avidya). Um aus diesem Hamsterrad (samskara) auszusteigen, ist svadhyaya, die Selbstreflektion erforderlich.
Sie ist Voraussetzung für Entwicklung und für Veränderung. Zuerst müssen die Gedanken und Gefühle, die uns durch unseren Tag und unser Leben begleiten und führen, klar sein. Sie sind die Motivation für unser Sprechen und Nichtsprechen, für unser Handeln und Nichthandeln.
Wie funktioniert svadhyaya im Alltag?
Natürlich sind wir im Alltag damit beschäftigt, zu arbeiten, Dinge zu erledigen, uns um Familie, Freunde und Haushalt zu kümmern. Wie kann man gleichzeitig sich selbst beobachten? Muss man dazu ein zurück gezogenes Leben in einem Kloster oder Ashram führen?
Selbstverständlich will Yoga nicht, dass wir unsere Aufgaben und Pflichten vernachlässigen. Der Weg kann damit beginnen, wöchentlich in einem Kurs zu üben. Wenn es machbar ist, ist es unterstützend, auch zuhause zu üben. Am besten ist natürlich eine regelmäßige, tägliche Praxis. Durch Wiederholungen wird die Fähigkeit gestärkt. Genau wie andere Fähigkeiten kann man svadhyaya „trainieren“.
Wer sich gern bewegt und asanas liebt, kann z.B. 10-15 Minuten bewusst den Körper, den Atem und die Gedanken während des Übens wahrnehmen. Und nach der Praxis den Erfahrungen nachspüren.
Wer gern still sitzt, kann den Atem beobachten oder vipassana praktizieren: alle Wahrnehmungen und Empfindungen da sein und weiter ziehen lassen.
Über diese Übung wird im Laufe der Zeit das Selbststudium im Alltag selbstverständlich werden und keiner Anstrengung mehr bedürfen. Ohne das Üben auf der Matte oder dem Kissen wird es schwierig.
Der Weg aus dem Hamsterrad (samskara)
Wie man sieht: An Themen für svadhyaya mangelt es nicht. Sie sind gleichzeitig auch Themen, die uns im Alltag behindern. Das Yogasutra ist ein Text mit viel Menschenkenntnis. Der Text zeigt viele Themen auf und die Methoden und den Weg, aus dem Rad (samskara) auszusteigen. Zwei entscheidende Aspekte sind im Sutra 2.1 genannt: Leidenschaft und Selbstreflektion. Mit einigen Übungen, asana, und ein paar Atemtechniken pranayama ist es – leider – nicht getan.