In der Yogapraxis werden Abläufe oder Haltungen über einen längeren Zeitraum wiederholt.
Liegt das möglicherweise an der Fantasielosigkeit der Lehrenden?
Ist dieses Vorgehen bei über 8.000.000(!) verschiedenen „asanas“ (Körperhaltungen), wie es in einem alten Text heißt, nicht Zeitverschwendung? Das ist doch in einer einzigen Lebensspanne garnicht zu schaffen! Also keine Chance auf „Erleuchtung“?
Nun wird die Zahl – angesichts unserer begrenzten Lebenszeit glücklicherweise – an anderer Stelle auf „hervorragende 84 asanas“ und die Zahl der „wichtigsten und für den Menschen nützlichsten“ auf 32 asanas reduziert (Gherandasamhita).
Wir alle, auch die Perfektionisten unter uns, können also aufatmen und uns (wieder) entspannen. Das kriegen wir auch in einem Leben hin, selbst im Arbeitsprozess, mit Familie, sozialen Kontakten….
Aber da läuft der innere Anteil, der Routine und Wiederholungen verabscheut, Amok?
Nur 32 bzw. 84 asanas? Wie öde und langweilig!
Und was mache ich mit dem Rest meines Lebens?
Das soll alles gewesen sein, was Yoga bietet?
Warum dann dieser Hype um Yoga?
Nun, zum einen ist Yogapraxis mehr als asanas. Sie stellen im Yogasutra sogar den kleinsten Anteil dar.
Es macht aber auch Sinn, sich näher mit dem Schatz in der Wiederholung zu befassen. Der Anteil, der ständig neue Erfahrungen, neue asanas sucht, weil es ihm sonst zu langweilig wird, boykottiert nämlich auf die eine oder andere Weise die regelmäßige Praxis. Entweder verhindert er, überhaupt anzufangen, weil das Gefühl von Langeweile nicht so beliebt ist, oder wir machen zwar – widerstrebend – körperlich die Übungen, aber die Aufmerksamkeit ist nicht da und die Gedanken sind mit anderen Dingen beschäftigt.
Dieser innere Anteil oder diese innere Stimme ist vergleichbar mit einem kleinen Kind, das viele Geburtstagsgeschenke bekommt. Es ist fasziniert von den vielen, unterschiedlichen, bunten, originellen Verpackungen. Es freut sich und beschäftigt sich gern mit diesen ganz unterschiedlichen Strukturen, Farben, Größen, Gewicht, usw. Die Aufmerksamkeit wandert schnell von einem Geschenk zum nächsten.
Als kleine Kinder haben wir die Verpackung sogar anfangs noch mit dem eigentlichen Geschenk verwechselt. Wir hielten die Verpackung für das Geschenk! Zuerst mussten uns Erwachsene manchmal zeigen, dass sich unter der Verpackung ganz tolle Geschenke für uns verbergen. Aber: Es gibt auch die Erfahrung, dass das Geschenk uns nicht gefällt. Wir haben etwas anderes erwartet und sind enttäuscht. Wir berauschen uns lieber an der Menge, je mehr desto besser.
Übertragen auf die Yogapraxis bedeutet dies, sich bewusst zu werden, dass ein asana viel mehr ist, als eine bestimmte äußere Form. Wer sich jeden Tag neu darauf einlässt, dem öffnen sich mehr und mehr die Schleifchen, Bändchen, das Papier, die Schachtel und das eigentliche Geschenk kommt zum Vorschein – so wie der Yoga ursprünglich gemeint war. Und dann ist die regelmäßige Yogapraxis nicht mehr öde und langweilig, sondern äußerst spannend! Auch hier gilt: Manchmal ist es nicht die Erfahrung oder Wirkung, die wir erwartet haben, oder etwas, was wir nicht wollten. Wir können uns dann trotzdem mit diesem Geschenk beschäftigen. Vielleicht bringt es uns weiter als wir dachten. Oder wir wechseln die asanas, den Kurs und betreiben „Guru-shopping“, indem wir einen workshop nach dem anderen besuchen. So können wir uns leicht von unangenehmen Erfahrungen befreien. Wir können auch unangenehme Erfahrungen und Erkenntnisse über uns selbst vermeiden, denn solange wir uns an der Oberfläche bewegen, sind wir weitestgehend vor ihnen sicher und bestätigen uns unser angenehmes Gefühl.
Es kann aber auch möglich sein, schon von Beginn an spüren, wie wohltuend es ist, wenn sich die Schleifchen und Bändchen (Blockaden, Verspannungen) nach und nach lösen und man sich körperlich freier fühlt. Und jeder Tag, jede Wiederholung fühlt sich schon anders an. Aha, so ist das heute! Dann entdecken wir mit jeder Wiederholung feine, subtilere Empfindungen im Körper, die wir bisher noch nicht kannten. Wir lernen uns immer besser kennen – und das kann sich anfühlen, wie „nach Hause kommen“ – und das ist es tatsächlich auch! Auf jeder Ebene: körperlich, gedanklich, emotional.
Wollen wir uns wirklich diese Erfahrung, diesen Schatz entgehen lassen?
Der „kindliche“, spielerische Entdecker-Anteil ist auch wichtig. Er gibt den wichtigen Impuls, ein asana auszuprobieren und er macht neugierig. Diesen Anteil gilt es davon zu überzeugen, dass in der gleichen Verpackung jeden Tag ein neues, spannendes Geschenk verborgen ist.
Nicht zuletzt liegt der Schatz der Wiederholung darin, dass sich diese Erfahrung auch auf den Alltag ausdehnt. Geübt in einer immer feineren Wahrnehmung und Bewusstheit durch die regelmäßige Yogapraxis bekommen öde, nervtötende, langweilige, lästige Routinetätigkeiten einen interessanten Aspekt – sei es im Beruf oder zu Hause. Oder einfache, alltägliche Abläufe, wie Duschen, Zähneputzen, Essen werden auf eine neue Art erlebt. Man fühlt sich insgesamt lebendiger.
Und wir können bei den mehr als 8.000.000 Angeboten, die uns täglich erreichen, ganz entspannt sein und diejenigen aussuchen, die jetzt/heute die wichtigsten und schönsten sind.
Für den Anteil, der es gern konkret wissen möchte und sich nun fragt „Ja, und wie lange soll ich nun meine Übungen wiederholen?“ gibt es eine Empfehlung: Es ist sinnvoll, etwa 3 Monate bei einer Praxis zu bleiben. Zum jeweiligen Zeitpunkt spürt man, wann es sinnvoll ist, die Praxis zu verändern. Und das kann schon mal länger oder kürzer als 3 Monate sein.
Und nun: Viel Spaß bei Ihrer Schatzsuche und ein lebendiges Leben!
Ihre Helga Brinkmann