Mit aparigraha endet die Aufzählung der yama im Yogasutra. Sie bilden mit den niyama das erste Glied des achtgliedrigen Yogaweges (astanga YS 2.29ff).
Für aparigraha gilt wie für alle anderen yama, dass sich die Bedeutung nur im Zusammenhang mit dem ganzen Text des Yogasutra erschließt. An dieser Stelle einige wichtige Stichworte zur Einführung. Ausführlich finden Sie die Erläuterung in dem Beitrag Die yama als innerer Kompass
- Ziel von yoga und damit der yama ist die Entwicklung von innerer Ruhe (nirodha, YS 1.2) und Klarheit im Geist (viveka, YS 2.26/3.54/4.26)
- Dieser ruhige geistige Zustand ist notwendig, um den Bewusstseinszustand von samadhi, kaivalya oder yoga (YS 1.46, 2.25), wie das allumfassende Bewusstsein und die innere Freiheit in Sanskrit heißt, erfahren zu können
- Yoga und yama sind keine Werkzeuge/Methoden/Mittel zur Veränderung der Welt oder der Mitmenschen, sondern zur persönlichen Entwicklung und inneren Transformation
- Die yama erheben keinen moralischen Anspruch
- Die yama beschreiben jeweils einen inneren Zustand des Menschen, der über die kognitive Ebene hinausgeht und die psychologische Ebene mit einschließt
- Der Ausdruck im Handeln ist das Ergebnis der inneren Haltung, nichts „Aufgesetztes“, d.h. die Handlung ist authentisch. Sonst ist es kein yama
- Die yama stellen keine Einschränkungen dar sondern befreien von inneren Begrenzungen
Folgende Aspekte werden in diesem Text beleuchtet:
- Der Begriff aparigraha
- Erweiterter Begriff von aparigraha
- Aparigraha und die yama
- Was bedeutet aparigraha im Alltag?
- Wie kann man aparigraha entwickeln?
- Die Auswirkungen von aparigraha nach dem Yogasutra
Der Begriff aparigraha
Der Sanskritbegriff aparigraha besteht aus den drei Komponenten „a“, „pari“ „graha“. „Pari“ bedeutet festhalten und „graha“ sehr oder stark. Parigraha bedeutet an etwas stark festzuhalten. Das „a“ bedeutet (wie bei ahimsa) etwas wie „nicht“, „die Freiheit von“. Aparigraha ist die Einstellung oder Haltung, nichts festzuhalten. Die Bedeutung geht sogar weiter, denn es bedeutet, selbst von dem Bedürfnis, etwas festhalten zu wollen, frei zu sein. Wir halten nichts mehr fest, weil das zugrunde liegende Bedürfnis nicht mehr besteht.
Erweiterter Begriff von aparigraha
Neben der Bedeutung von „nicht festhalten“ werden weitere Begriffe verwendet:
1.Anhaften: Der Begriff des „nicht anhaftens“ beruht auf dem Sutra 2.2 ff YS über die klesa. Dort wird der Begriff der Gier-raga– mit anhaften übersetzt. Unser Ego (asmita) klebt an Dingen, Vorstellungen, Meinungen und ist der Überzeugung, ohne diese nicht existieren zu können. Es ist ein besonders starkes Festhalten. Da alles vergänglich ist und damit früher oder später von Verlust bedroht, verursacht dieses dem Ego Angst und bringt den Geist in ständige Unruhe. Und doch klammert sich der Geist an diese materiellen oder geistigen Dinge. Der Geist ist nicht frei, sich zu konzentrieren und in den Zustand von nirodha (YS 1.2) zu kommen. Dann nämlich würde er loslassen können. Vielmehr muss er sich sorgen und damit möglichst vorhersehen, was passieren könnte, um sich dann anzustrengen, das zu verhindern. Wenn der Verlust dann tatsächlich eintritt, nimmt es den Geist ebenfalls gefangen. So ist er nie frei.
2. Nicht besitzen: „Eigentum verpflichtet“ heißt es in unserem Grundgesetz. Auf jeden Fall aber bindet Besitz unseren Geist und unsere Energie, weil er der Aufmerksamkeit und Pflege bedarf. Je mehr wir besitzen, desto mehr Zeit und Gedanken müssen wir aufwenden, es instand zu halten- Kleidung, Auto, Fahrrad, Geräte, Wohnung, Garten usw. Wir wollen es vor der Vergänglichkeit und uns vor dem Verlust schützen.
3. Nicht horten: Wir sind zufrieden mit dem was wir haben und horten nichts. Aber oft haben wir mehr als wir benutzen und vieles liegt ungebraucht, manchmal neu und verpackt im Schrank oder Keller.
4. Nicht besitzergreifend sein/geizig/mit anderen teilen: Wenn wir nicht festhalten oder anhaften können wir mit anderen teilen. Wir sind großzügig und freigiebig statt geizig und eifersüchtig.
5. Loslassen können: Wir wissen um die Vergänglichkeit und können Dinge oder Menschen gehen lassen. Wir erfreuen uns an allem, was uns gefällt und können zu gegebener Zeit loslassen.
6. Aparigraha wird oft mit Anspruchslosigkeit, Genügsamkeit oder Bescheidenheit übersetzt. Was auf den ersten Blick vielleicht wie eine Einschränkung wirkt, schenkt uns die Freiheit, nach der wir streben. Wir sind zufrieden, mit dem was wir bekommen.
Aparigraha und die yama
Mit dem 1.yama ahimsa, der Gewaltlosigkeit/Friedfertigkeit ist aparigraha eng verbunden. Im Zustand von Gewaltlosigkeit sind wir frei von egoistischen Bedürfnissen, zu denen auch alles haben und halten wollen, gehört.
Das 2. yama satya ist wichtig, damit wir ehrlich und ohne uns selbst auszuweichen unser Festhalten und dessen Gründe betrachten.
Mit dem 3.yama asteya, das Nichtstehlen, steht aparigraha ebenfalls in enger Verbindung. Wir nehmen uns nicht Dinge, die uns nicht zustehen. Das geht über unserem Rechtsbegriff von Stehlen hinaus. Asteya meint, wir nehmen uns nicht mehr, als wir brauchen. Wir bereichern uns nicht und eignen uns somit nicht Dinge an -selbst legal erworbene in unserem Rechtssinn- die uns nicht zustehen. Aparigraha ist eine Folge von asteya. Wir haben nur das, was wir brauchen und was uns zusteht. In einer Haltung von aparigraha sind wir zufrieden mit dem was wir bekommen und haben nicht das Bedürfnis, uns zu bereichern.
Das 4. yama brahmacharya bedeutet im weiten Sinne frei zu sein von ständigen Wünschen und Bedürfnissen. Ohne diese Wünsche und Bedürfnisse, die, wie wir wissen, nie enden, haben wir auch nicht die den Wunsch, mehr haben zu wollen, als wir bekommen.
Was bedeutet aparigraha im Alltag?
- Materielle Dinge und Geld
Wir sprechen von einer Wegwerfgesellschaft. Ist aparigraha da überhaupt ein Thema? Lassen wir nicht zu schnell los? Technische Geräte, die bewusst so produziert werden, dass sie kurz nach Ablauf der Garantiefrist defekt werden und eine Neuanschaffung preiswerter als eine Reparatur ist? Oder durch technischen Fortschritt wie geringerer Energieverbrauch eine Reparatur nicht lohnt? Oder Folgeprodukte haben irgendeine kleine neue Funktion, die wir nicht brauchen, aber wir glauben, das Gerät deshalb haben zu müssen? Oder Kleidungsstücke die bereits nach der ersten Wäsche unansehnlich sind? Schuhe die gerade mal eine Saison überstehen? Brauchen wir im Sinne von Nachhaltigkeit nicht eher weniger aparigraha als mehr?
Das Wegwerf-und Konsumverhalten ist das andere Extrem. Aber dieses „Loslassen“ resultiert nicht aus einer Einsicht, dass wir diese Dinge nicht brauchen oder aus Bedürfnislosigkeit, sondern aus mangelnder Wertschätzung der Dinge, des Aufwandes und der Ressourcen für ihre Herstellung. Wir verzichten ja auch nicht darauf, sondern ersetzen sie. Wir handeln nicht im Sinne von asteya, dem Nichtstehlen. Im Gegenteil, wir „stehlen“, indem wir Ressourcen ausbeuten und verschwenden und uns mehr nehmen, als wir brauchen auf Kosten der Natur und anderer Menschen der Welt. Aparigraha ist hingegen eine Haltung, in der wir insgesamt weniger brauchen als wir uns jetzt nehmen. Wir kaufen all diese Dinge erst garnicht, wenn sie nicht unbedingt notwendig sind.
Vor hundert Jahren besaßen die Menschen im Schnitt rund 100 persönliche Dinge. Heute besitzt der Durchschnittseuropäer in der Wohnung, im Keller, auf dem Speicher, in der Garage mehr als 10.000 Dinge. Bei Sammlern sind es noch deutlich mehr. Wir horten Dinge. Das überfordert viele und der Besitz wird zur Last. Das haben viele Menschen festgestellt. Sie haben sich schon immer mal vorgenommen, aufzuräumen und haben es in diesem Frühjahr, vielleicht auch als Beschäftigungstherapie, umgesetzt. Das war sicher für viele befreiend.
Und wie ist es jetzt? Füllen sich die Leerräume langsam wieder mit neuen Dingen? Halten wir die Leere aus? Oder fühlen wir dann unsere innere Leere und wir füllen lieber wieder die Schränke und Schubladen? Kommt andererseits ein Gefühl von Mangel auf? Und damit vielleicht eine Angst von Existenzbedrohung, Kontrollverlust, ein Mangel an innerem Sicherheitsgefühl? Suggeriert uns eine volle Wohnung zumindest eine äußere Fülle, Sicherheit und Kontrolle – das, was uns innerlich fehlt? Wenn wir uns mit aparigraha beschäftigen, können wir im ersten Schritt unsere Motive des Festhaltens erkennen. Im zweiten Schritt kann dann unser Blick auf die vorhandene Fülle gelenkt werden. Im dritten Schritt kann die Einsicht sein, dass wir alles innerlich haben, was uns das Äußere niemals geben kann. Das ist ein Prozess, der nicht „über Nacht“ geschieht, sondern länger dauert.
Aprigraha ist für viele Menschen ein wichtiges Thema. Ein Buch und Videos der „Aufräumexpertin“ Marie Kondo aus Japan mit ihrer Konmari-Methode des „magic cleaning“ sind Bestseller. Wer es damit nicht schafft, kann auch eine*n Aufräumcoach für 200€ buchen- für 2 Stunden. Das kann kurzfristig helfen, aber wie lange dauert es wohl, bis sich die Leerräume wieder gefüllt haben? Wenn wir es nicht allein schaffen, bedeutet es, dass wir zwar das starke Bedürfnis verspüren, aber noch nicht in dem inneren Zustand von aparigraha angekommen sind. Wir halten oberflächlich aus vielen Gründen fest, aber letztendlich erhoffen wir uns ein Gefühl von Sicherheit oder haben Angst vor einem Gefühl des Mangels. Wenn wir uns fragen, wie realistisch diese Angst ist, wird sie schnell entlarvt.
Auch kaufen wir das x-te Kleidungsstück, um uns besser zu fühlen oder attraktiver und nicht als altmodisch zu gelten. „Kleider machen Leute“-das stimmt, aber nur oberflächlich. Wie wichtig ist es uns, von anderen (Freunden, Kollegen, der Familie), vielleicht sogar uns völlig fremden Menschen auf der Straße auf dieser oberflächlichen Ebene gewertschätzt zu werden?
Können wir das Gefühl einer Fehlentscheidung in Form eines Fehlkaufes ertragen oder behalten deshalb lieber aus vorgeschobenen Gründen manche Dinge? Statt die -noch brauchbaren – Dinge mit anderen zu teilen, horten wir viele Dinge und sind bei ihrem Anblick mit einem schlechten Gewissen konfrontiert. Wir sind an die Dinge gebunden. Wenn wir jedoch das, was wir nicht brauchen, loslassen können, können wir uns an den wesentlichen Dingen erfreuen und befreien unsere Energie von dem Klammern und Festhalten müssen. Was würde sich in unserem Leben ändern?
Ein besonderes Thema ist der Besitz von Geld. Es gibt zwar eine große Spendenbereitschaft, besonders bei Katastrophen oder vor Weihnachten, aber vielleicht bedingt durch die Erfahrung der letzten 100 Jahre mit mehreren Wirtschaftskrisen, in denen Menschen alles verloren haben, fällt es vielen Menschen schwer, auch in der heutigen Zeit, Geld zu teilen. Über Generationen wurde dieses Thema weitergegeben. Außerdem hat der Besitz von Geld und Reichtum einen hohen Stellenwert. „Hast du was- dann bist du was“ ist ein Spruch, der mehr Schein als Sein bedeutet. Immer wieder werden die reichsten Menschen bewundernd in den Medien hofiert und Ranglisten herausgegeben. Mit dem Geld wird auch suggeriert: Je mehr Geld du verdienst, desto wichtiger bist du. Wir kennen viele Gegenbeispiele (s. Pflegepesonal), aber unbewusst ist das – noch- Konsens in der Gesellschaft und damit in den Köpfen jedes Einzelnen.
Kein Wunder, dass viele Menschen schwer teilen können. Immer wieder wundere ich mich, wie wenig die Bettler in Berlin und in den Bahnen bekommen. Ja, es sind oft dieselben- wie sollte es sich auch ändern? Und es sind nicht wenige. Aber selbst wenn man jedem Bettler oder manchmal Musiker etwas Kleingeld gegen würde, dem man auf einer Fahrt begegnet, wäre es doch wenig mehr als ein oder zwei Latte macchiato. Sind die Fahrgäste wirklich alle so bedürftig, dass sie es sich nicht leisten können? Oder fehlt es ihnen an aparigraha, der Fähigkeit, teilen zu können? Könnte man nicht einfach aus Dankbarkeit für die Fülle des eigenen Lebens in dieser Form dem Leben etwas zurückgeben? Viele bemühen sich, die Bettler zu ignorieren und ich frage mich, ob dahinter die (meistens unbegründete, diffuse) Angst vor der eigenen Obachlosigkeit steckt. Man möchte mit dieser untergründigen Befürchtung nicht konfrontiert werden.
Ein sehr kompetenter Yogalehrer in der Weiterbildung hat sich mit Hinweis auf aparigraha geweigert, seine Seminarpreise zu erhöhen. Obwohl seine Seminare sehr nachgefagt sind und er auch höhere Preise einfordern könnte, ist seine Meinung, dass er das schon bekommt, was ihm zusteht. Ehrliche Frage: Wie würden wir uns verhalten? Wir weit sind wir in aparigraha? Oder würden wir unserem Ego erliegen, wie manche berühmte Menschen, die mal eben 15.000 € für einen Vortrag kassieren oder für ein vergleichbares Seminar einen Tagessatz von 2000 € verlangen. Das alles ist in unserer Gesellschaft selbstverständlich, und man kann es ihnen nicht vorwerfen. Eine solche Einstellung macht uns abhängig, stärkt das Ego und hält uns unentwegt beschäftigt. Aparigraha bedeutet auch eine Balance zwischen dem was man tut und was man dafür bekommt.
In manchen spirituellen Traditionen legen Mönche und Nonnen das „Armutsgelübde“ ab. Sie verzichten auf persönlichen Besitz und Einkommen. Das ist aparigraha. Der Geist ist frei davon, sich um das Geldverdienen, das Beschaffen und Bewahren von Besitz zu kümmern. Der Geist wird dadurch entlastet und ruhiger und kann sich der spirituellen Entwicklung widmen.
- Nicht materielle Dinge: Beruf, Status
Fällt uns aparigraha in Bezug auf unseren Besitz nicht leicht, so ist es bei den nicht materiellen Dingen noch schwieriger. Wir haben uns einen Beruf gewählt, mit dem wir unseren Lebensunterhalt verdienen und in dem wir unsere Fähigkeiten einbringen können. Dieser Beruf bringt uns auch einen bestimmten Status, Ansehen und Image. Dazu müssen wir nicht berühmt oder mächtig sein. Die Vorstellung, diesen Beruf nicht mehr ausüben zu können und damit alles zu verlieren, was wir damit verbinden, macht Angst und belastet uns. Deshalb sind viele Menschen zu vielen Kompromissen bereit, bis hin zur Selbstausbeutung, um ihn weiter ausüben zu können. Schon der Verlust eines bestimmten Arbeitsplatzes oder der Rentenbeginn kann belastend sein. Das gilt selbst dann, wenn jemand keine existenziellen Sorgen hat. Aparigraha bedeutet, die aktuelle Situation wertzuschätzen in dem Wissen, es gibt keine Garantie, dass es so bleibt. Vielmehr ist es eine Gewissheit, den Beruf, den Arbeitsplatz mit allem was damit verbunden ist, aufzugeben. In der inneren Haltung von aparigraha gibt es kein Anhaften, Festhalten und damit kein Problem mit dem Verlust. Warum? Weil die Quelle für das Gefühl von Sicherheit (durch das Geld), Sinnhaftigkeit und Existenz eine andere ist. Solange unser Geist denkt, wir sind von den äußeren Gegebenheiten abhängig, sind wir gezwungen, uns darum zu sorgen, uns dafür anzustrengen und darum zu kämpfen. Wir sind gefangen in diesem Hamsterrad. Aparigraha ist die Freiheit davon. Wie würden wir dann unser Leben gestalten?
- Beziehungen: Familie, Kinder, Eltern, Partner, Freunde
Aparigraha gibt es auch in Bezug auf unsere Beziehungen. In unserer Gesellschaft gibt es einerseits die Tendenz zu unverbindlichen, kurzlebigen Kontakten und Beziehungen. Teilweise ist dies der Mobilität durch Studium und Beruf geschuldet. Wer innerlich ständig in Bewegung ist und schon den nächsten Umzug plant, hat vielleicht weniger das Bedürfnis, sich auf lange Beziehungen einzulassen.
Anderseits gibt es das Festhalten auch in Beziehungen: Eltern-Kinder, Partner*innen, Freunde. In einem bestimmten Maß ist dieses Festhalten auch wichtig. Die Angst vor Verlust kann jedoch zu einer ungesunden Bindung führen. Das Ego glaubt ja, es sind „meine“ Kinder, „meine“ Eltern (dazu ein bekannter Text von Khalil Gibran, der sehr schön aparigraha beschreibt), „mein*e Partner*in, „meine“ Freunde/innen. Der Mangel an aparigraha zeigt sich durch Anklammern, Mißachtung von Grenzen, besitzergreifender Eifersucht oder Neid, Gewalt oder Abwertung. Ursachen sind die Angst vor dem Verlust und der damit einhergenden möglichen Einsamkeit und Leere. Letztendlich ist es die Angst zu sterben, wenn die Beziehungen enden. Durch Hinterfragen und Reflektieren kann man die Ursachen als Teil des Egos erkennen. Mit jeder Trennung können diese Gefühle berührt werden, aber wir können – auch mit Yoga- damit umgehen und erkennen, dass sie nicht so lebensbedrohlich sind, wie wir unbewusst glauben. Als Kind haben wir vielleicht solche Erfahrungen gemacht und sie damals als gefährlich erlebt. Das hat sich in unserem Geist eingeprägt und braucht nun durch Bewusstheit ein „update“.
- Vorstellungen, Prägungen, Erwartungen
Wie bei allen yama zählen auch hier „unsere“ Gedanken und Gefühle (citta) in Form von bewussten und unbewussten Vorstellungen und Meinungen zu der subtilsten Form von Anhaftung. Unser Geist findet immer ein Argument oder einen Grund an seinen Überzeugungen festzuhalten.Wir haben Vorstellungen über uns selbst, z.B. dass der Körper jung und leistungsfähig sein oder dass unser Geist ruhig und stabil sein soll. Oder wir haben bestimmte Ziele, an denen wir unbedingt festhalten. Wenn wir sie nicht wie gewünscht erreichen oder erreichen können, ärgern wir uns oder sind enttäuscht. Mit aparigraha sind wir flexibel und wir können sie bei Bedarf anpassen oder neu bewerten.
In aparigraha haben wir eine innere Distanz zu „unseren“ Gedanken, denn wenn wir sie hinterfragen, erkennen wir, dass es oftmals bewusst angeeignete oder unbewusst übernommene Haltungen sind. Aparigraha ist auch notwendig, um besser zuhören und unsere Haltung auch revidieren zu können.
- Aparigraha auf der Yogamatte
Während der Praxis auf der Yogamatte können wir Einsicht in unsere Vorstellungen und Erwartungen gewinnen. Können wir zufrieden sein mit den Möglichkeiten, die dem Körper zur Verfügung stehen? Halten wir an Bildern und damit an Erwartungen fest, wir müssten mehr strecken, länger halten, entspannter sein? Oder halten wir an bestimmten Ergebnissen aus der Praxis fest, z.B. ausgeglichen und entspannt zu sein, etwas Aufregendes und Neues zu erleben? Wollen wir mehr als wir von der Praxis bekommen? Oder vergleichen wir uns mit anderen? Wie offen sind wir und lassen los von diesen Konzepten?
Wie kann man aparigraha entwickeln?
Wir stellen vielleicht fest, dass wir nicht in allen Lebensbereichen gleich viel festhalten. Je nach Biographie neigen wir vielleicht in manchen Bereichen mehr dazu, in anderen weniger. Oder wir spüren in einem Bereich einen besonderen Wunsch und Impuls, frei oder wenigstens freier davon zu werden. Vielleicht fangen wir auch in einem Bereich an, wo es uns am leichtesten fällt. Dort ist die Hürde, anzufangen am geringsten, wir haben am schnellsten Erfolge. Auf jeden Fall ist es wichtig, sich nicht zu viel auf einmal vorzunehmen oder es sich besonders schwierig zu machen. Denn letztendlich ist es egal, wo wir anfangen. Warum? Weil die Gründe des Festhaltens immer dieselben sein werden, egal, wo wir anfangen. Wenn wir an einer Stelle den Faden aufnehmen, wird sich der Rest automatisch mit auflösen- so wie wenn man an einem Faden zieht und der Rest des Stoffes sich nach und nach löst.
Wir können ganz praktisch im Alltag anfangen oder auf der Yogamatte und in der Meditation. Wenn wir damit beginnen, uns im Alltag von Dingen zu trennen, können wir beobachten, was die Widerstände sind und weshalb wir bisher festgehalten haben:
Habe ich die Erlaubnis, noch brauchbare, fast neue Dinge wegzugeben, auch wenn sie schon lange nicht mehr von Nutzen für mich sind? Oder habe ich dann ein schlechtes Gewissen? Wenn ja, wem gegenüber? Fühle ich mich schuldig? Bin ich dann ein schlechter Mensch? Woher kommen solche inneren Sätze?
Trage ich vielleicht die Angst der Generationen, die nicht nur Mangel, sondern Not erlebt haben, in mir? Bin ich mir bewusst, dass die Situation heute damit nicht vergleichbar ist?
Oder habe ich früher gehört, dass es so vielen Kindern auf der Welt schlecht geht, die froh wären, die Dinge zu haben und ich habe deshalb ein schlechtes Gewissen? Wessen Sätze sind das? Und wie sinnvoll sind sie? Wenn ich Dinge aufhebe, die mich belasten, ändert es etwas an der Not der Menschen? Oder kann ich mit dem Weggeben Menschen in meiner Umgebung helfen oder das Geld aus einem Verkauf spenden?
Oder besteht der Grund in einem Sicherheitsbedürfnis? Vielleicht könnte ich es irgendwann brauchen und dann fehlt es mir? Bei vielen Dingen, die über Jahre im Schrank oder im Keller liegen ist die Wahrscheinlichkeit gering. Und dann kann ich es vielleicht leihen, wenn ich es nicht kaufen möchte. Und selbst dann gibt es diese Sache wahrscheinlich überall zu kaufen. Aber jetzt wäre es sinnvoller, es anderen zu überlassen, die es aktuell nutzen würden.
Vielleicht war die Sache bei der Anschaffung teuer. Es ist zwar mittlerweile benutzt und hat an Wert verloren, aber mit dem Preis im Kopf fühlt es sich an, als würden wir das Geld wegwerfen. Oder es war ein Fehlkauf und wir haben es nie benutzt. Also behalten wir es lieber. Aber ist das wirklich so?
Vielleicht ist mit einem Gegenstand eine Erinnerung verknüpft an eine besondere Situation oder einen lieben Menschen. Deshalb haben wir vielleicht ein schlechtes Gewissen, etwas zu entsorgen oder wegzugeben. Können wir uns davon frei machen? Was würde der andere uns sagen, würden wir ihn fragen?
Wie ist es um unsere Bereitschaft, mit anderen zu teilen, bestellt? Fällt es uns aus Angst vor Mangel, aus Angst davor ausgenutzt zu werden oder aufgrund von Kindheitserfahrungen, wo wir teilen mussten, schwer? In welcher Situation sind wir heute?
Dies sind nur einige Beispiele, wie wir im Alltag unseren inneren Zustand von aparigraha erkennen können. Wir können durch unsere Bewusstheit (svadhyaya) erkennen, in welchen Zusammenhängen wir damit Schwierigkeiten haben. Es ist wichtig, die Ursachen zu erforschen und Unterscheidungsfähigkeit (viveka) zu entwickeln zwischen den Motiven des Festhaltens und der Realität.
Auf der Yogamatte und in der Meditation können wir unsere Gedanken beobachten und dort feststellen, an welchen Vorstellungen, Erwartungen und Zielen wir bewusst oder unbewusst festhalten. Diese Einsicht ist die Voraussetzung für aparigraha.
Welche Bedürfnisse (Freude, Wohlbefinden, Sicherheit, Fülle, Anerkennung) liegen dem Festhalten zugrunde?
Welche Ängste vor Mangel, Not, Existenzangst, Einsamkeit oder Leere sind Gründe für das Festhalten?
Können wir das Bedürfnis, festhalten zu wollen, loslassen?
Können wir uns erfreuen an dem was wir haben?
Können wir frei sein von der ständigen Sorge des Egos um seine Existenz und sein Überleben, seine Tendenz, immer auf andere zu schauen, zu vergleichen, immer mehr haben zu wollen, neidisch zu sein?
Letztendlich kommen wir zu der Einsicht, dass wir auf diese Weise unsere Bedürfnisse nur kurzfristig erfüllen können und dann wie ein Junkie das nächste brauchen. So bleiben wir im Hamsterrad. Erst wenn wir erkennen, dass wir schon alles das sind und nichts brauchen, sind wir frei davon und in apriagraha. Solange wir jedoch noch nicht in dem Wissen sind, können wir nur mit dem arbeiten, was uns jetzt zur Verfügung steht- unserem Geist und Yoga.
Wenn wir uns unserer Anhaftungen bewusst werden, ist es wichtig, dies gewaltfrei (ahimsa) und ehrlich (satya) zu tun. Gewaltfrei heißt, wir verurteilen uns nicht für diese Gefühle und werten uns nicht ab. Wir verurteilen uns auch nicht dafür, dass wir immer wieder in diese Verhaltensweisen zurückfallen. Ahimsa steht an erster Stelle der yama. Es ist die Grundlage für aparigraha.
Wie immer, wenn wir uns unsere bisherigen Muster und Konditionierungen anschauen brauchen wir eine liebevolle, wertschätzende Haltung allem gegenüber, was wir entdecken. Eine Verurteilung oder Abwertung führt zu Schuld und Scham und verstärkte die bisherigen Verhaltensweisen. Wir gehen wieder in einen Schutzmodus und ziehen uns wie eine Schildkröte lieber wieder in unseren sicheren Panzer zurück. Eine offene Haltung haben wir im Zustand der bhavana (YS 1.33). Diese sind eine liebevolle Haltung (maitri), Mitgefühl (karuna) und Verständnis, uns selbst verzeihen und vergeben können (upeksa). Das vierte bhavana ist die Mitfreude (mudita).
Satya, die Wahrhaftigkeit, in diesem Fall uns selbst gegenüber, ist ebenfalls Voraussetzung. Wir müssen wirklich offen sein, uns unsere sogenannten Schatten anzusehen. Nur so gibt es Veränderung.
Und wir brauchen wie für den ganzen Yogaweg auch für diesen Prozess abhyasa (YS 1.12/1.13), die Fähigkeit der Ausdauer auch bei Rückschritten und vairagya (YS 1.12/1.15), der Fähigkeit, frei zu sein und nicht an einem bestimmten Ergebnis festzuhalten, sondern offen für das, was sich im Prozess zeigt.
Die Auswirkungen von aparigraha nach dem Yogasutra
Im Zustand von aparigraha
– sind wir frei von dem Bedürfnis, an Dingen, Ideen, Vorstellungen, Konzepten, Beziehungen und Gefühlen festzuhalten
-sind wir in einem inneren Zustand ohne Verlangen und Anhaftung
– haben wir die Freiheit, mit Freude das zu tun, was wir für sinnvoll erachten, unabhängig vom Ergebnis
-sind wir unabhängig von äußeren Quellen unseres Glücks
-nehmen wir alles als Erfahrung an
-sind wir frei vom Ego (asmita) und seinem „ich, mein, mir, mich“
-sind wir frei von einem Gefühl der Trennung und können teilen
In Vers 2.39 des Yogasutra heißt es, dass wir im Zustand von aparigraha die Erkenntnis erlangen, wer wir sind, warum wir wann geboren sind, warum wir diesen Körper bekommen haben, wie unser Leben weitergeht und wie es endet. Wir bekommen also eine Antwort auf das warum und wie unseres Lebens, auf die Frage nach dem Sinn. Wir erkennen, was in unserem Leben wesentlich ist, erfahren inneren Frieden, Freiheit und Erfüllung. Damit löst sich alles Leid auf.
So schließen die yama mit einem großen Versprechen. Dazu gehört die Fähigkeit, dass wir mit diesen Antworten umgehen können.