Die Hindernisse YS 1.30- 7. bhrantidarsana-Die Selbsttäuschung

Foto: Doreen Sawitza,pixabay
Foto: Doreen Sawitza,pixabay

Nach den ersten sechs Hindernissen zählt dieses Hindernis zu den subtilen Hindernissen. Subtil heißt, dass es nicht offensichtlich ist und damit nicht so einfach als Hindernis wahrgenommen wird. Der Zustand von Krankheit (vyādi), Trägheit (styāna), Zweifel (samsaya), Ungeduld (pramāda), Faulheit (ālasya) und Unkonzentriertheit (avirati) ist deutlich wahrnehmbar. Es ist jedoch schwer für den Geist, grundsätzlich die Täuschung über sich selbst zu erkennen. Außerdem ist er nicht unbedingt bereit, aktiv danach zu schauen um dann festzustellen, dass er sich geirrt hat. Das mag er nicht. So ist es schwierig, sich einzugestehen, dass z.B. etwas ein Fehlkauf oder eine Fehlinvestition oder eine Entscheidung falsch war. Daraus folgt dann ein Handeln, das auf Täuschung beruht und möglicherweise in die falsche Richtung führt.

Was heißt bhrāntidarsana?
Was finden wir dazu im Yogasutra?
Was sind die Ursachen?
Bhrāntidarsana in der Yogapraxis
Indizien für bhrāntidarsana
Wie kann man die Täuschung verhindern oder überwinden?


Der Begriff bhrāntidarsana

„Bhranti“ wird in alten Texten im Sinne von Fehler, Mißverstehen, falsche Ansicht oder Täuschung verwendet.

Darsana“ kommt von „dris“, sehen, im Sinne von erkennen. Darsana ist die Ansicht, die Erkenntnis. Bhrāntidarsana ist somit eine fehlerhafte Ansicht und das Gegenteil von Erkenntnis. Aber sie wird mit Erkenntnis verwechselt. Solange die Täuschung nicht erkannt wird, gibt es keine Chance, sie zu beseitigen.


Bhrāntidarsana im Yogasutra

  • Viparyaya YS 1.6 /1.8

Zu Beginn des Yogasutra führt uns der Text in das Yoga und blättert uns nach und nach die Aspekte auf. Zuerst beschreibt er was Yoga ist: Das zur Ruhe kommen des Geistes und letztlich die Stille im Geist (cittavritti nirodha YS 1.2). Dies besagt schon, dass mit Geist nicht das Denkorgan (manas) gemeint ist, sondern etwas Dynamisches, denn vritti bedeutet Bewegung(en). Bewegungen im Geist, d.h. Gedanken und Gefühle, werden still.

Durch Yoga ändert der Geist seinen Zustand oder seine Funktionsweise von einem unruhigen Zustand (viksipta) in einen stillen. Desweiteren heißt es, dass die Funktionsweise des Geistes uns in Leid hinein (klista) oder aus dem Leid herausführen kann (aklista YS 1.5). Die Funktionsweisen wird in fünf (panca) Kategorien geteilt (pancataya YS 1.6). Zu diesen fünf Funktionsweisen gehören sowohl die richtige (pramāna) als auch die falsche (viparyaya) Wahrnehmung. Wir können alles um uns herum, Menschen, Worte, Situationen auf die eine oder andere Art wahrnehmen. Insbesondere die richtige und falsche Wahrnehmung des Ich bzw. Selbst ist hier gemeint. Viparyaya ist die Ursache für das Hindernis bhrāntidarsana.

Wir beginnen unseren Yogaweg mit dem, was im Yogasutra klesa (YS 2.1) genannt wird. Es sind Funktionsweisen des Geistes, die immer wieder stören und ablenken. Die klesa sind eine Quelle der falschen Wahrnehmung (viparyaya), die Wurzel des unruhigen Geistes und damit die Ursache von bhrāntidarsana.

In Bezug auf das Hindernis bhrāntidarsana ist das klesa avidyā (YS 2.3) von Bedeutung. Vidya ist den Begriffen pramāna und darsana ähnlich. Es bedeutet das Erkennen, richtiges Wahrnehmen und auch Wissen. A-vidya ist das Gegenteil, die falsche oder unvollständige Wahrnehmung, die Täuschung und Verwechslung. Wir können uns über vieles täuschen oder es falsch wahrnehmen. Letztendlich ist auch hier die Täuschung über uns selbst, wer wir wirklich sind, gemeint. Wir identifizieren uns mit unserem Ich, auch Ego genannt. Was ist das Ich? Dieses Ich ist die Summe aller unserer Erfahrungen, der angenehmen und der unangenehmen, dazu alles, was wir von anderen über uns je gehört haben und alles, was wir besitzen oder zu besitzen glauben.Dazu gehört auch unser Körper. Alles, worüber wir mit “ Ich bin….“ oder „mein….“ sprechen gehört zu diesem Ich.

Worin besteht die Verwechslung bei avidyā? Es gibt einerseits das veränderliche (z.B. gesund, krank, jung, alt) Ich oder Ego (ahamkara) und andererseits das unveränderliche Selbst (drastu- der Seher ebenfalls von dris – oder purusa), das alles erkennt und frei ist von den Störungen. Das ist unser wahres Selbst. Diese beiden werden zu Anfang verwechselt bzw. in Unkenntnis über das Selbst, halten wir an dessen Stelle unser Ich für das Selbst. Das hat Konsequenzen für unser Leben, für unser Denken und Handeln. Weil wir uns damit identifizieren, lehnen wir alles ab, was dem widerspricht oder was es unserer Meinung nach gefährden könnte (Verlust, Schaden). Das ist dvesa (YS 2.8). Wir wollen alles behalten oder noch mehr davon haben, was dazu gehört. Das ist rāga (YS 2.7). Aus Angst (abhinivesa YS 2.9) vor einer Bedrohung dieses Ich – wirtschaftlich, gesundheitlich oder emotional – ist der Geist ständig mit Abwehr oder Festhalten oder Anhäufen beschäftigt.

Solange wir in avidyā sind, vielleicht sogar schon vom Selbst gehört haben, ist unser Ich aktiv. Der Yogaweg führt nach und nach zu einer Unterscheidung (viveka) zwischen ahamkara und purusa. Avidyā und viparyaya werden weniger. Da sie aber noch aktiv sind, können sie uns in bhrāntidarsana führen und wir glauben, wir seien schon viel weiter auf dem Weg oder sogar schon am Ziel angekommen. Es ist eine Form der Selbstüberschätzung oder Selbstüberhöhung. Das wird jedoch vom Ich nicht erkannt.

  • pramāda als Ursache von bhrāntidarsana

Das vierte antarāya, die Ungeduld und Hast, kann auch zur Selbsttäuschung führen. Wir wollen schnell ein Ergebnis oder einen Erfolg und sind darauf fixiert. Auch Ehrgeiz macht ungeduldig. Wie alle klesa gründen Ungeduld und Ehrgeiz im Ego. Wir überschätzen uns und machen zu große Schritte oder zu viel auf einmal. Damit können wir uns schaden oder mindestens frustrieren, wenn es nicht gelingt. Vielleicht geben wir auf, weil wir denken, wir schaffen es nie. Dabei fehlte es nur an der angemessenen Vorgehensweise (viniyoga). Oder man definiert sich über die Yogapraxis und welche fortgeschrittenen āsana man praktizieren kann. Die eigene Yogapraxis wird bewertet, mit anderen Teilnehmern verglichen und man glaubt, dass das Praktizieren fortgeschrittener āsana identisch ist mit dem Fortschritt auf dem Yogaweg. Dabei ist es vielmehr ein Indiz, dass das Ego und die klesa noch sehr aktiv und das Gegenteil der Fall ist.


Bhrāntidarsana in der Yogapraxis 

Es kann sein, dass wir uns mit unserer Yogapraxis identifizieren. Es ist nicht Yoga, sondern „mein“ Yoga. Im Sinne von dvesa lehnen wir andere Meinungen zu Yoga und vor allem auch Kritik ab. Diese beziehen wir dann nicht nur auf die Praxis, sondern auf unser Ego. Oder im Sinne von rāga muss sie immer zur gleichen Zeit und unter gleichen Bedingungen in der gleichen Form stattfinden. Jede Störung oder Veränderung durch unvorhergesehene Ereignisse oder auch Krankheit, Verletzung oder Alterung des Körpers ist dann ein Problem. Wir sind aber nicht unsere Praxis. Die Praxis ist nur der Weg, die Methode oder das Werkzeug. Selbstverständlich brauchen wir eine regelmäßige Praxis (abhyāsa YS 1.12/1.13) und Leidenschaft (tapas YS 2.1) für das Ziel. Das Kernanliegen der Praxis, den Geist zur Ruhe kommen zu lassen ist klar, aber der Weg kann flexibel sein. Manchmal hält der Geist auch aus Bequemlichkeit an bestimmten Gewohnheiten und Ritualen fest. Das merken wir dann, wenn dem etwas entgegensteht.

Das eigentliche Problem von bhrāntidarsana besteht in der Selbstüberschätzung. Fortschritte werden überbewertet. Daher warnt uns das Yogasutra bereits im ersten Kapitel, dass es erst in der letzten Stufe der Meditation, nirbija samādhi (YS 1.51), keinen Rückfall mehr in das Ego gibt. Auch wenn jemand bereits den tiefen Zustand der Meditation, samādhi, erreicht hat, ist er zunächst nicht vor Rückschritten gefeit. Diesen Zustand nennt man sabija. Bija heißt Samen und meint, dass immer noch die klesa vorhanden sind. Sie sind nicht mehr aktiv, aber die Möglichkeit besteht, dass sie, solange sie vorhanden sind, wieder aktiv werden. Erst in nirbija, ni steht für keine, bleibt der Zustand von samādhi stabil. Es gibt keine klesa oder samskāra mehr.

Im Zustand der Selbsttäuschung können wir der Illusion erliegen, dass wir keine Praxis mehr benötigen, weil wir uns in samādhi wähnen.

  • Siddhis als Quelle von bhrāntidarsana

Im dritten Kapitel, vibhuti pāda, werden außergewöhnliche geistige Fähigkeiten (siddhi) bis hin zum Fliegen oder sich unsichtbar machen als Ergebnis der Yogapraxis aufgezählt. Das hat vielleicht zum Ruf Yoga sei Esoterik beigetragen. Ob diese Fähigkeiten real sind oder Metaphern für bestimmte geistige Zustände, sei dahingestellt.

Durch eine regelmäßige Yogapraxis verändert sich die Wahrnehmung generell. Je ruhiger der Geist wird, desto mehr weitet sich der Raum für Wahrnehmung. Dadurch kann der innere Zustand differenzierter wahrgenommen werden, ob Körper oder Psyche. Auch die Umwelt wird intensiver und tiefer wahrgenommen. Das sind die ersten Veränderungen in der Funktionsweise des Geistes. Viveka,die Unterscheidungsfähigkeit, entwickelt sich, so wie es im Yogasutra beschrieben wird. Wenn von „übernatürlichen“ Kräften gesprochen wird, ist es eine Abgrenzung zu den uns bekannten, natürlichen geistigen Fähigkeiten. Diese Erfahrungen können unser Ego zu Stolz, Überheblichkeit, Arroganz und einem Gefühl von Überlegenheit verleiten und als Erreichung von samādhi fehlgedeutet werden. Das ist bhrāntidarsana. Das Ego tut das, was es immer tut, es identifiziert sich mit den siddhis. Es sind „meine siddhis“. Es bläht sich damit auf. Es wähnt sich am Ziel. Es vergleicht sich mit anderen und ist natürlich schon weiter.

In dem Kapitel werden zwar verschiedene Erfahrungen erwähnt, aber unmittelbar im Anschluss gesagt, dass diese für Menschen mit einem unruhigen Geist (vyutthāne) eine Errungenschaft seien, für Menschen in samādhi jedoch eine Unterbrechung (YS3.37)*. Vuytthita citta- das ist der unruhige Anfängergeist am Beginn der Yogapraxis. Es bedeutet, der Umgang mit den siddhis zeigt den aktuellen Zustand, wie weit wir wirklich schon sind. Bleiben wir dort stehen und beschäftigen sie unseren Geist, wollen wir sie immer wieder erleben oder festhalten (rāga), empfinden wir sie als etwas Besonderes-dann sind wir wohl noch nicht am Ziel. Das ist das Ego und das sind die klesa. Nehmen wir sie hingegen als Störung wahr und lassen uns nicht von ihnen gefangen nehmen, sind wir in samādhi.


Indizien für bhrāntidarsana YS 1.31

Auch wenn bhrāntidarsana ein subtiles Hindernis ist, können wir es erkennen. Im nachfolgenden sutra 1.31 bekommen wir Hinweise, dass ein Hindernis vorhanden ist. Sie gelten für alle Hindernisse und so auch für die Täuschung:

  • Auf der körperlichen Ebene kann es sich durch Unruhe oder sogar Zittern zeigen (anga ejayatva)
  • Auf der mentalen Ebene ist es ein innerer Zustand von geistiger Enge, der zu unterscheiden ist von der Konzentration in der Meditation. Dieser Zustand könnte sich, wie beschrieben, als zwanghafte Praxis ausdrücken (duhkha, daurmanasya). Er könnte einhergehen mit der Unfähigkeit, Kritik anzuhören oder ggf. auch entgegen besseren Wissens, nicht anzunehmen.
  • Auf der psychischen Ebene zeigt es sich häufig durch einen unregelmäßigen und unruhigen Atem (svāsaprasvāsa).

Wenn wir bemerken, dass diese Phänomene immer mal wieder auftauchen, sei es in der āsana- oder Meditationspraxis oder auch im Alltag, sind sie ein Hinweis, dass der Zustand des Geistes noch gestört ist und ein oder mehrere Hindernisse aktiv sind.


Der Umgang mit bhrāntidarsana

Da wir das Ziel von Yoga, den Zustand von samādhi und nirodha, der Stille im Geist nur erreichen, wenn wir die Hindernisse beseitigen können, brauchen wir Möglichkeiten, mit dem Hindernis umzugehen. Das Yogasutra macht verschiedene Angebote. Es geht nicht darum, alles zu nutzen, sondern vielmehr diejenige Vorgehensweise, die am besten funktioniert und ggf. auch zu wechseln. Jede Methode hat ihre eigenen Qualitäten, es gibt kein besser oder schlechter.

  • Svādhyāya YS 2.1 und dhyāna YS 1.39/ 3.2

Der erste Schritt zur Überwindung der Hindernisse ist, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und zu üben sie wahrzunehmen. Das Selbststudium und eine feine Selbstbeobachtung sind für das Erkennen dieses Hindernisses unerläßlich. Die Selbstbeobachtung bei den āsana hinsichtlich der körperlichen Eindrücke als auch der Gedanken ist hilfreich gegen eine Selbsttäuschung aufgrund einer Vorstellung oder Illusion. Die Meditation (dhyāna) bietet uns einen sehr guten Rahmen unseren Geist zu beobachten.

  • Svādhyāya YS 2.44, jyotismatī 1.36 und vītarāga YS 1.37

Bei diesem Selbststudium können wir unser Ich oder Ego und damit Hindernisse auch erkennen, wenn wir uns mit Bildern oder spirituellen Texten beschäftigen und darüber reflektieren. Im sutra 1.36 ist es jyotismatī, das innere Licht als Bild für das innere Selbst. Vītarāga ist die Reflektion über die Weisheiten von Menschen, die Krisen und Hindernisse überwunden haben.

  • Abhyāsa  YS 1.12/1.13/1.32

Beharrlich zu sein, nicht aufzugeben und das Hindernis im Blick zu behalten (eka tattva) ist der erste Ratschlag des Yogasutra nach dem sutra über die antarāya (YS 1.30). Es braucht ständige geistige Wachheit und Präsenz. Und es ist nicht mit dem kurzfristigen, einmaligem Erkennen und Wissen getan. Die Hindernisse begegnen uns nicht nur einmal auf dem Yogaweg. Das Ego hat diese Funktion so tief verankert, dass sie immer wieder, besonders wenn wir gerade nicht aufmerksam sind, auftauchen. Wir dürfen darüber nicht resignieren, sondern immer weiter üben, so dass sie immer schwächer werden und immer weniger stöen.

  • Bhavāna YS 1.33

Die bhavāna, die Gefühlsqualitäten können vor bhrāntidarsana schützen. Das Hindernis ist ein mentales, die Gefühlsqualitäten sind die des Herzens. Sie entspringen einem anderen inneren Bewusstsein. Die Qualitäten von Liebe (maitrī), Mitgefühl (karunā), Mitfreude (mudita) und Verständnis, Vergebung (upkesa) schützen uns vor Arroganz, Überheblichkeit und Selbstüberschätzung.

  • Prānasya YS 1.34/ 2.49-2.53 und visayavatī YS 1.35

Wenn wir den Atem zur Ruhe bringen, bringen wir unseren inneren Zustand, unsere Gedanken und Gefühle, zur Ruhe. Das hilft uns einerseits, klar zu denken, zu reflektieren und uns andererseits dem wahren Selbst näher zu bringen.


Solange noch ein Hindernis vorhanden ist, solange die klesa immer wieder aktiv werden, solange es noch ein Ich gibt, ist das Ziel nicht erreicht. Solange es immer wieder einen Rückfall aus dem Zustand des Selbst gibt und der Zustand nicht von Dauer ist, sind wir nicht am Ziel. Jedwede Illusion darüber ist bhrāntidarsana. Entscheidend sind dabei die Fortschritte im Geist, nicht in den āsana und prānāyāma. Stolz über die Beherrschung schwieriger Haltungen oder eine besonders lange Atempause sind Ausdruck des citta, des Ego. Die größte Herausforderung ist womöglich, sich einzugestehen, dass man gewissen Hindernissen auf seinem Weg ausgesetzt ist und man sich von dieser Tatsache nicht frei sprechen kann.

 

 


* Patanjali Das Yogasutra, R.Sriram, Theseus Verlag S. 196