Der achtgliedrige Weg: 8.Samadhi YS 3.3

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Foto:pixabay; YS 1.41 Der Geist als Edelstein

(Am Ende des Textes gibt es eine Audiodatei mit den Sanskritbegriffen)

Das Yogasutra beginnt mit dem Kapitel samādhi pāda – dem Weg zu samādhi und gleichzeitig der Weg des samādhi. Im dritten Kapitel ist es soweit: Im Zentrum steht samādhi. Dazwischen liegt ein ganzes Kapitel, in dem es um viele andere Themen geht. Unausgesprochen ist es jedoch auch hier in jedem sutra präsent. Es ist der letzte Schritt des achtgliedrigen (astanga YS 2.28) Übungsweges, wie er im zweiten Kapitel, des sādhana pāda genannt wird. In der Praxis ist der Weg noch viel weiter, als es das Yogasutra vermuten läßt. Hier, in diesem sutra, schließt sich nun der Kreis. Und auch bei samādhi ist es so, dass vom Ende her gesehen vieles tiefer verstanden wird und eine neue Bedeutung bekommt.

Das Yogasutra wird in manchen Texten als Netz bezeichnet, in dem jeder Knoten (sutra) mit allen anderen verbunden ist. Das wird in diesem dritten Kapitel deutlich. In diesem Beitrag soll samādhi erläutert und mit den vorherigen Kapiteln vernetzt werden.

  • Was ist samādhi?
  • Der Geist im Yoga
  • Das Selbst im Yoga
  • Das Selbst und samādhi
  • Samādhi pāda und sādhana pāda
  • Samyama: Dhāranā, dhyāna und samādhi
  • Nirodha-parināma
  • Samādhi in der Yogapraxis und im Alltag

Was ist samādhi?

Im dritten Kapitel wird im dritten sutra beschrieben, dass es sich um eine besonderen Zustand im Geist handelt (svarūpa sūnya). Dieser Zustand entsteht aus den beiden vorherigen (tad eva): dhāranā (YS 2.53 und 3.1.) und dhyāna (YS 3.2). Diese drei zusammen heißen auch samyama (YS 3.4). Sie stellen zusammen einen Prozess dar, beginnend mit der Fähigkeit, den Geist zu fokussieren und fokussiert zu halten, dann diesen Fokus über eine sehr lange Zeit halten zu können um dann in samādhi den Geist völlig still werden zu lassen. Diese Stille wird sūnya genannt, was auch Leere bedeutet. Wovon ist der Geist leer? Von den Bewegungen, also Gedanken und Gefühlen, den cittavritti. Dieses Stillwerden wird gleich zu Beginn des ersten Kapitels citta vritti nirodha (YS 1.2) genannt. Was unter der Stille zu verstehen ist, wird nun im dritten Kapitel ausgeführt. Die Gedanken und Gefühle kommen immer mehr zur Ruhe bis der Geist davon leer ist. Das ist Yoga: yogah cittavritti nirodha. Das heißt, Yoga ist samādhi, samādhi ist yoga. Yoga ist Meditation. Folglich ist das, was vorher da ist und im zweiten Kapitel beschrieben wird, noch nicht Yoga. Es ist die Vorbereitung von/für Yoga.

Die Wirkung von samādhi

In dieser Leere geschieht dann etwas Neues: Unser alltägliches Ich besteht aus Gedanken und Gefühlen („ich bin…“). Wenn die Gedanken und Gefühle nicht mehr da sind, ist auch dieses Ich nicht mehr da. Wenn kein Ich mehr da ist, das etwas wahrnehmen kann, gibt es keinen Prozess des Wahrnehmens mehr und was bleibt, ist das was wir als Objekt, das Wahrgenommene bezeichnen. Wenn wir vorher auf das Selbst meditiert haben, bleibt nur das Selbst (artha mātra nirbhāsam), die reine Erkenntnis dessen, was wir wirklich sind. Dieses Selbst ist für uns nur aus dem Zusammenhang zu verstehen.


Der Geist im Yoga

Was ist der Geist?
Im ersten Kapitel beschreibt das Yogasutra die alltägliche, unbewusste und unreflektierte Funktionsweise unseres Geistes als vritti, also Bewegungen im Geist, die Leid erzeugen (klista) oder von Leid (aklista) befreien können und nennt fünf Kategorien (YS 1.5). Diese Erfahrung machen wir täglich 60.000 Mal (so viele Gedanken sollen es statistisch sein).

Dann heißt es, der Geist ist mit diesen Gedanken identifiziert. Wir „haben“ nicht diese Gedanken, wir „sind“ unsere Gedanken. Diese Identifikation nennen wir auch Ego (vritti sarūpyam YS 1.4) und der Geist (citta) ist ständig damit beschäftigt. Er kommt nicht zur Ruhe. Ständig wird überlegt, geplant, bewertet, analysiert, erinnert, verglichen. Auch das ist unsere eigene tägliche Erfahrung. Das ist nachvollziehbar.

Ausgelöst und angetrieben werden die Gedanken von den klesa (YS 2.3). Sie sind die Wurzeln der vritti und werden auch mit „Triebe“ übersetzt: Unser Ich/Ego (asmitā YS 2.6) lebt in Angst vor der Vergänglichkeit, dem Tod (abhinivesa YS 2.9). Es sucht deshalb immer Sicherheit indem es alles festhält, was das Gefühl von Sicherheit stärkt (rāga YS 2.7) und alles bekämpft, was Unsicherheit oder Angst auslösen könnte (dvesa YS  2.8). Diese Triebe sind biologisch sinnvoll und sichern Menschen, Tieren und Pflanzen das Überleben. Wir Menschen haben zusätzlich eine weitere Fähigkeit: die des Bewusstseins über unsere Vergänglichkeit, die Fähigkeit zur Erinnerung der Vergangenheit und der Projektion in die Zukunft. Und so beschäftigen wir uns nicht nur mit der gegenwärtigen Situation, sondern leiden an der Vergangenheit (entweder weil wir bereuen, bedauern, sie nicht zu ändern ist oder weil wir sie uns zurückwünschen) oder wir versuchen die Zukunft vorwegzunehmen. Beides überwiegt im Alltag so sehr, dass wir oft die Gegenwart verpassen. Unser Geist findet kaum Ruhe, selbst dann nicht, wenn wir ruhig sitzen, z.B. in der Meditation. Er kann von dieser Beschäftigung nicht lassen. Zudem laufen viele Gedanken unbewusst ab ohne unser Wollen. Sie entgehen unserer Aufmerksamkeit. Wir entscheiden nicht, ob und was wir denken wollen und es sinnvolle Gedanken sind. Unsere Gedanken folgen äußeren Reizen oder inneren Trieben (klesa) oder kommen aus dem Unbewussten (samskāra).


Das Selbst im Yoga

Was ist das Selbst im Kontext des Yogasutra?
Zu den Trieben gehört auch die Täuschung und Verwechslung, avidyā (YS 2.5). Sie wird als Wurzel aller klesas betrachtet. Die wesentliche Täuschung besteht darin, dass wir unser Ego für unser wirkliches Selbst halten, für alles was wir sind. Deshalb halten wir am Leben fest. Es gibt aber ein anderes Selbst, von dem unser Ego nichts weiß. Dieses Selbst ist unveränderlich, unabhängig von der Existenz unseres Körpers, aber mit unserem Geist, so wie er funktioniert, nicht erfahrbar. Es gibt einen Weg, dieses Selbst zu erfahren und der wird im Yogasutra beschrieben. Die Erfahrung dieses Selbst ist das einzige, ultimative Ziel von Yoga. Man nennt deshalb Yoga auch einen spirituellen Weg. Er hat mit dem Geist und seiner alltäglichen unreflektierten Funktionsweise und dessen Transformation zu einem stillen Geist zu tun.

An dieser Stelle stehen wir vor einem -zunächst- unlösbaren Problem: Dieses Selbst ist intellektuell nicht zu beschreiben. Wir können die Erfahrung dieses Selbst nicht mit unserem Geist machen. Es ist eine Erfahrung jenseits unseres Intellekts und unserer Ratio. Wenn wir überzeugt sind, dass es jenseits dessen nichts gibt, stellt sich die Frage, warum wir unsere Zeit mit Yoga verbringen sollten. Wenn wir mindestens die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass unser Ego nicht alles ist und es noch ein anderes Bewusstsein geben könnte, können wir uns auf die Reise begeben.

  • Verschiedene Begriffe des Selbst

drastā YS 1.3

Obwohl nicht beschreibbar, werden verschiedene Begriffe, hilfsweise muss man wohl sagen, für dieses Selbst verwendet. Im YS 1.3 wird es drastu/drastā genannt. Übersetzt bedeutet es „Seher“. Einen inneren Seher werden wir, auch mit technischen Geräten, genauso wenig finden wie die Seele. Sehen ist ein Synomym für Erkennen. Wenn wir etwas sehen erkennen wir etwas. Der Seher kommt dann (tadā) zum Vorschein wenn die Gedanken (cittavritti) zur Ruhe kommen (nirodha YS 1.2). Das ist Voraussetzung.

Dieses Bewusstsein hat also etwas mit Erkenntnis zu tun, zu der unser Geist nicht in der Lage ist. Dieser Seher oder diese Erkenntnis ist frei von den Identifikationen (svarūpe avasthānam), damit frei von den vritti und den klesa. Es gibt kein Ich im herkömmlichen Sinne. Damit wissen wir noch nicht, was das Selbst ist, aber wir wissen, was es nicht ist. Solange die Gedanken da sind, ist drastā nicht. Wenn drastā ist, sind die Gedanken nicht.

purusa YS 1.16/1.29

Im YS 1.16 führt Gleichmut (vairāgya von rāga), die Freiheit von den guna, zu der Erfahrung (kyāte) von purusa. Hier bezieht sich das Yogasutra auf das indische philosophische Konzept des samkhya. Da das Yogasutra die Erfahrungen der damaligen Zeit erfasst, ist dieser Begriff hier möglicherweise eingeführt, um Menschen dieser Richtung anzusprechen. Die guna sind nach dem philosophischen Konzept die Grundeigenschaften aller Materie: Die Aktivität (rajas), die Trägheit (tamas) und das Gleichgewicht der beiden (sattva). Sie wirken in unterschiedlicher und veränderlicher Weise auf die Materie, also auch auf uns Menschen und unseren Geist. Auch sie sind still, „durstlos“ (vaitrisna) heißt es in der Beschreibung. Wenn purusa ist, sind die guna nicht. Eine andere Beschreibung für einen stillen Geist.

Purusa erscheint (adhigama) im Innern (pratyak). Das ist ein Hinweis, dass wir dies nicht im Außen finden, nicht in Gottheiten und nicht in Tempeln. Dann lösen sich alle Hindernisse (antarāya YS 1.30) auf (abhāva YS 1.29). Solange die Hindernisse noch sind, ist purusa noch nicht.

samprajnāta und asmitā YS 1.17

Prajnā steht für das Wissen, dass vollkommen ist, für die vollkommene Erkenntnis. Im Zustand von samprajnāta erfahren wir das Selbst, das hier asmitā (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen klesa) genannt wird. Es wird dann direkt erfahrbar, in seiner „Form“ (rupa) im Sinne von unverfälscht, denn es ist formlos. Im ersten Kapitel wird das Bild benutzt, dass der Geist dann wie ein Edelstein von edler Herkunft, also besonders rein und klar ist (abhijātasya maneh 1.41). Es ist eine Einheitserfahrung und ānanda-Glückseligkeit.

anya YS 1.18

Anya bedeutet „der Andere“, gemeint ist der andere Zustand. In diesem anderen Zustand, der nur durch beharrliches Üben erreichbar ist (abhyāsa YS 1.12), kommen selbst die gespeicherten Eindrücke, die Erfahrungen und Erinnerungen (pratyaya) und unbewussten Prägungen (samskāra) zur Ruhe (virāma). Damit wird gesagt, dass es auch bei der Erfahrung des Selbst unterschiedliche Zustände geben kann. Es beginnt mit solchen mit Resten (sesa) von Eindrücken und Prägungen, so dass der Bewusstseinszustand nicht stabil ist. Es kann dann immer wieder Rückfälle in das Ego geben, hervorgerufen durch diese Samen (bija). Und es gibt einen Zustand, der selbst davon frei ist und nur noch mit „der Andere“, anya, beschrieben werden kann.

īsvara YS 1.24/1.25/1.26

Hier haben wir ein anderes Konzept vom Selbst mit īsvara, als mächtiges, göttliches Prinzip. Er wird als besonderer (visesa) purusa bezeichnet. Īsvara ist völlig unberührt (aparāmrsta) von den klesa, von karma (triebgesteuerten Handlungen), deshalb auch von vipāka (den Folgen dieser Handlungen) und den āsaya (den Prägungen dieser Handlungen). Der Zustand ist die Freiheit von den klesa und damit von den Folgen dieser Handlungen, die wieder neue klesa und samskara erzeugen. Damit wird ein Kreislauf beschrieben, indem wir bzw. unser Geist gefangen ist und den wir gezwungen sind zu wiederholen, solange wir aus dem Ego (citta) handeln. Īsvara ist die Befreiung aus dem Kreislauf.

Der Zustand von īsvara ist frei vom Ego, unbegrenzt und die Quelle/Wurzel, der Same (bija) allen Wissens (niratisayam sarvajna YS 1.25). Īsvara ist unser (innerer) Lehrer (guru), der von der Unwissenheit befreit und unverändert zu allen Zeiten (kāla) besteht. Er ist frei von Zeit und Raum. Die „Instanz“, der Lehrer ist innen. Es braucht keinen äußeren guru.

ātmā YS 1.47/ 1.48

Mit dem Begriff ātmā wird das Konzept des Vedanta aufgegriffen. Der Begriff steht für das innere Selbst. Daraus (tatra) entsteht das unverfälschte, wahre (rta= Wahrheit) Wissen (prajnā). Unverfälscht von den klesa und samskāra.

Auch hier zeigt sich der Bezug des Yoga zu den verschiedenen philosophischen Denkrichtungen in Indien zu der damaligen Zeit und die Offenheit und Toleranz den verschiedenen Strömungen gegenüber.

Die verschiedenen Konzepte sind sehr komplex, in sich geschlossen und für unser Ego bzw. unseren Geist sehr interessant. Für das Verständnis, warum für ein und dieselbe Sache verschiedene Begriffe genannt werden und sie alle dasselbe meinen, ist es hilfreich davon gehört zu haben. Für die Yogapraxis ist das Wissen dieser Konzepte nicht notwendig. Im Gegenteil, es besteht die Gefahr, dass unser Geist sich in den Konzepten verliert und wir auf dieser theoretischen Ebene stehen bleiben. Dann verpassen wir das eigentliche Ziel.

prakāsa YS 2.52

Prakāsa bedeutet Licht. Hier ist nicht das äußere, sondern das innere Licht gemeint. Während im ersten Kapitel bestimmte Kenntnisse der theoretischen Konzepte vorausgesetzt werden, anders wären die Begriffe unverständlich, richtet sich das zweite Kapitel an Menschen, die diese Kenntnis nicht haben. Auch ohne diesen Hintergrund können sie die Erfahrung von samādhi machen. Diese Kenntnisse sind nicht Voraussetzung. Es richtet sich also an uns. Und deshalb wird für die Erfahrung ein Bild gewählt, das verständlich ist.

Prakāsa ist ein Synonym für die Erkenntnis. Wir kennen den Spruch: Mir ist ein Licht aufgegangen. Dieses Licht ist im Alltag verhüllt (āvarana) durch die Aktivitäten, die Gedanken unseres Geistes (vritti). Diese werden reduziert (ksīyate). Wodurch? Tatah- Durch das, was vorher in diesem Kapitel beschrieben wird, durch den Übungsweg. So heißt es einleitend in YS 2.28: Die Glieder des Yoga (yogānga) reduzieren (ksaya) durch regelmäßige Übung (anusthāna), wie im ersten Kapitel beschrieben, die Unreinheiten (Bewegungen im Geist) (asuddhi). Die vollständige Unterscheidungsfähigkeit (āvivekakhyāteh) und das vollkommene Wissen (jnāna) können aufleuchten (dīpti).

Der Bewusstseinszustand wird beschrieben als das Aufleuchten von etwas, das nicht neu, sondern schon da ist, aber verhüllt, d.h. nicht erfahrbar war.


Das Selbst und samādhi

Das Yogasutra nennt Yoga samādhi pāda nicht drasta/purusa/atman/īsvara pāda. Was sagt uns das?

1. Der Weg, der beschrieben wird, führt uns in den Bewusstseinszustand von samādhi oder nirodha, der Stille im Geist. In dieser Stille kann das Selbst (drasta usw.) erfahren werden. Es gibt keinen direkten Weg zum Selbst, sondern nur zu der Möglichkeit der Erfahrung. Yoga führt uns bis in diesen Zustand, nicht direkt zum Selbst. Erreichen wir den Zustand von nirodha, können wir nichts mehr tun. Dann ist alles getan. Die Erfahrung des Selbst liegt nicht in unserer Macht.Yoga führt uns bis vor die Tür des Bewusstseins, das Öffnen geschieht von selbst. Der Begriff samādhi ist sehr präzise und der Text sagt genau aus, was mit den Übungen unmittelbar erreichbar ist und was nicht.

2. Samādhi ist die Voraussetzung für die Erfahrung des Selbst. Der Geist muss absolut still sein, leer. Und dahin kann uns der Yogaweg führen. Wir können die Voraussetzung schaffen.


Samādhi pāda und sādhana pāda

Außer einigen Menschen, die mit der Fähigkeit zur Stille im Geist geboren werden (bhava pratyaya YS 1.19), verfügen alle anderen nicht über diese Fähigkeit, sondern müssen sie erwerben und einüben. Deshalb ist es ein Weg oder ein innerer Veränderungsprozess.

  • Der Zustand von viksepa (YS 1.30)

Das Yogasutra führt uns zunächst zu dem Wissen über die Funktionsweise unseres Geistes. Es gibt Bewegungen (vritti), was das Wesen unserer Gedanken und Gefühle wiedergibt. Sie sind nicht stabil, sondern veränderlich. Der Geist ist permanent beschäftigt mit direkten oder indirekten Wahrnehmungen, Vorstellungen, wie etwas oder jemand sein soll oder hätte sein sollen oder mit Erinnerungen. Unsere Wahrnehmung ist mehr oder weniger objektiv oder verfälscht. Dieser Zustand wird viksepa (YS 1.30) genannt. Es ist ein unruhiger und leicht ablenkbarer Zustand, weil die Aufmerksamkeit nach außen gerichtet ist.

  • Der Zustand von drdha bhūmi YS 1.14

Wie können wir die Funktionsweise unseres Geistes so ändern, dass er still wird, nirodha? Das ist das, was der samādhi pāda bedeutet. Es ist eine Veränderung unseres Geistes. Die Veränderung geschieht nach und nach, schrittweise (viniyoga YS 3.6) durch regelmäßiges, beharrliches Üben (abhyāsa YS 1.12/1.13). Was bedeutet dies? Nur durch ununterbrochenes (nairantarya), langes (dirghakāla) Üben in einer verbindlichen (satkāra) und leidenschaftlichen (ādara) inneren Haltung wird der Geist nach und nach stabiler (drdha bhūmi). Die Funktionsweise ändert sich von einem unruhigen zu einem stabileren Geist (YS 1.14). Nicht die Umgebung muss stiller werden, nicht die Mitmenschen müssen sich verändern, sondern ausschließlich die Transformation unseres Geistes ist der Weg.

  • Der Übungsweg- sādhana pāda

Wie bzw. was sind die Übungen, die zum Ziel führen? Es sind die Übungen des astanga yoga (YS 2.29) im zweiten Kapitel. Da es um eine Veränderung unseres Geistes geht, ist es hauptsächlich eine „geistige“ Praxis und nicht eine körperliche:

1. yama (YS 2.30 ): Eine bestimmte innere Haltung und Einstellung zur Welt einüben, die gewaltfrei, ehrlich, genügsam, nicht gierig und nicht geizig, sondern großzügig und gelassen ist. In dieser inneren Einstellung, frei von Kampf, Gier, Lüge, Festhalten kann der Geist ruhiger werden.

2. niyama (YS 2.32): Die Einstellung zu sich selbst üben, die bewusst nur Gutes und Gesundes aufnimmt, das den Geist beruhigt, sowohl geistig (Informationen, Gedanken) als auch körperlich (Ernährung, guter Schlaf), sich selbst bewusst wahrnehmend und im Vertrauen auf den Weg und das Ziel.

3.āsana (YS 2.46-2.48): Eine körperliche Praxis ohne Ehrgeiz, mit einer mentalen und körperlich stabilen und entspannten Haltung, die den Geist beruhigt.

4.prānāyāma (YS 2.49-2.52) Die Praxis mit einem langen (dīrgha) und feinen, subtilen (sūksma) Atem mit einer Atempause (khumbaka) reduziert den Schleier (āvarana), der das Selbst verhüllt.(YS 2.52)

5.pratyāhāra (YS 2.54/2.55): Hier ist die Übung, die Sinne von den äußeren Reizen frei werden zu lassen und die Aufmerksamkeit nach innen zu richten. Durch regelmäßiges Üben wird die Fähigkeit gestärkt, eine Wahl zu haben, d.h. frei zu werden von der Gewohnheit/dem Zwang, die Aufmerksamkeit im Äußeren zu haben, wenn es nicht erforderlich ist. Dies ist Voraussetzung für dhāranā.

Die fünf Übungsbestandteile gelten als die äußeren Glieder (bahiranga) im Vergleich zu den letzen drei Gliedern, die mit dhāranā beginnen. Diese fünf befähigen (yogyatā) den Geist, in dem stabilen Zustand (drdha bhūmi), der zu Beginn noch leicht störbar ist, lange zu bleiben (dhāranāsu).


Samyama

1.Dhāranā YS 3.1. und samādhi

Im dritten Kapitel folgt der innere Weg (antaranga YS 3.7). Der Unterschied zu den äußeren Elementen wird auch dadurch deutlich, dass buchstäblich ein neues Kapitel aufgeschlagen wird. Es heißt vibhūti pāda. Vibhūti sind besondere Fähigkeiten. Es sind geistige Fähigkeiten, die uns vorher nicht möglich sind. Sie sind ein Zeichen, dass unser Geist sich verändert hat. Deshalb sind sie für unser Ego sehr interessant. Es hat wieder etwas um sich damit zu identifizieren. Deshalb ist der vorherige Weg der inneren Klärung wichtig um nicht in diese Falle zu gehen. Das ist ein großer Rückschritt. Diese Fähigkeiten sind Zeichen, dass unser Üben wirkt- nicht mehr und nicht weniger. Sie sollen keine neue Unruhe, keine neuen samskāra, keine neuen klesa erzeugen. Und sie sollen nicht den weiteren Weg blockieren. Sie sind noch kein Zeichen von Erleuchtung wie leider manche glauben.

Dhāranā ist der Beginn der Meditation und des Prozesses von samādhi (YS 3.4). Da Yoga samādhi ist, beginnt hier die Yogapraxis. Alle Übungen aus dem zweiten Kapitel sind Vorbereitungen für Yoga.

Die Fähigkeit, den Fokus lange auf ein Objekt ausrichten und dort halten zu können, bedeutet einen ruhigen Geist, der nicht leicht ablenkbar ist. In dhāranā ist immer noch ein Bemühen (abhyāsa) notwendig und damit ein Ich oder Ego vorhanden. Es ist ein geistiges Üben. Der Geist ist noch tätig und noch nicht vollständig ruhig (nirodha). Diese Aktivität ist im Vergleich zu den vorherigen Übungen sehr subtil, aber immer noch da.

2.Dhyāna YS 3.2 und samādhi

Das weiterhin beharrliche Üben der Meditation, den Geist lange auf ein Objekt ausgerichtet zu halten führt dann zu dhyāna. Der Geist bleibt lange auf ein Thema/ein Objekt ausgerichtet (eka=eins; ekatānatā). Dhyāna ist nicht etwas anderes als dhāranā, sondern das lange Verweilen in dem Zustand von dhāranā und der Ausrichtung auf ein Objekt.

3.Samādhi YS 3.3

In diesem langen Zustand des Verweilens im meditativen, fokussierten Zustand passiert dann etwas im Geist. Der Geist wird still-nirodha. Samādhi ist also nicht ein bestimmter Zustand oder ein bestimmter oder bestimmbarer Punkt, sondern das immer tiefer Sinken in einen Zustand, ein immer intensiverer innerer Zustand, in dem der Geist schließlich still wird. Und dieser Prozess von dhāranā zu dhyāna und schließlich zu samādhi wird samyama genannt (YS 3.3). Sie sind die inneren Glieder (antaranga 3.7) im Unterschied zu den fünf äußeren Gliedern im zweiten Kapitel. Dieses Bild soll verdeutlichen, dass der Zustand ein sehr tiefer ist im Vergleich zu den äußeren Gliedern.

Wird samyama gemeistert (jayāt), ist es also möglich eine sehr lange Zeit ohne Störung mit der Aufmerksamkeit bei einem Objekt zu bleiben. Dann (tat) erscheint das Licht (āloka) der Weisheit, des vollkommenen Wissens (prajnā), heißt es in YS 3.5. Der Vers greift wieder das Bild des Lichts auf.


Nirodha-parināma

Der gesamte Prozess des samādhi pāda wird in diesem sutra zusammengefasst:
Der Prozess zur vollkommenen Erkenntnis (prajnā) besteht aus sieben Stufen (saptadhā prāntabhūmi 2.27).

Zu Beginn des Prozesses ist der Geist unruhig, sprunghaft, unreflektiert: vyutthāna. Diese Unruhe kommt nicht von außen, sondern aus dem Geist. Aus dem Unbewussten tauchen immer wieder alte  Prägungen –samskāra- auf. Da sie unbewusst sind, entziehen sie sich unserer Kontrolle. Erst wenn sie dann als vritti ins Bewusstsein kommen, können wir mit ihnen umgehen. Jedes vritti dieser Unruhe und Störung führt zu neuen Erfahrungen und jede Erfahrung erzeugt neue störende samskāra.

Auch durch die regelmäßige Praxis der Sammlung, dhāranā und dhyāna, entstehen neue vritti und damit neue Eindrücke, neue samskāra. Diese sind jedoch nicht von unruhiger Natur, sondern Prägungen der Stille. So werden die samskāra von vyutthāna immer weniger (abhi-bhava) und die samskāra von nirodha immer mehr (prādur-bhāva) durch die Übung der Sammlung in nirodhaksana. So ändert sich die „Zusammensetzung“ (anvaya), die Struktur unseres Geistes kontinuierlich. Er wird stabiler (drdha bhūmi, 1.14). Aus ekāgra, der Fokussierung auf ein Objekt wird der Zustand von samādhi immer tiefer. Tatsächlich sind solche Änderungen der Hirnstruktur mittlerweile erforscht worden. Diese Veränderung wird parināma genannt.

Der Zustand von prasānta vāhitā YS 3.10 / YS 1.48

Aus dieser Art von samskāra entsteht eine tiefe, profunde Änderung des Geistes, die einen ruhigen Fluss des Gewahrseins mit sich bringt. Sānta kommt von santi, einer tiefen profunden Stille, die ununterbrochen ist-vāhitā. Hier kommt das Bemühen zu Ende, das in dhāranā und dhyāna noch erforderlich war. Das ist der Zustand von nirodha oder samādhi. Es ist ein langer ununterbrochener Zustand des Gewahrseins.

Im Zustand der totalen inneren Stille – prasāda – liegt die absolute Klarheit der Realität. Dann (tatra) ist das Bewusstsein (prajnā) erfüllt (bharā) mit der absoluten Wahrheit (rta, YS 1.48). Das ist die Erklärung für nirodha zu Beginn des Yogasutra im 2. Vers.


Samādhi in der Yogapraxis und im Alltag

Was sagt uns das Yogasutra für die Praxis des Yoga? Wie setzen wir das Gesagte in Erfahrung um, denn das Yogasutra beginnt mit der Ansage, dass es sich um Erfahrungswissen (anusāsa YS 1.1) handelt, nicht um theoretisches Wissen.

  • Die Praxis des Yoga berührt unser ganzes Leben, sowohl unseren Alltag als auch die Praxis auf der Yogamatte. Sie kann unser ganzes Leben verändern, denn mit den yama und niyama reduzieren wir mehr und mehr die klesa. Unsere Haltung und unser Verhalten ändern sich bzw. sollten sich ändern. Wir unterscheiden uns damit von den üblichen, auch uns anerzogenen, Denk-und Verhaltensweisen. Wir erkennen diese und entscheiden uns dann bewusst, wie wir reagieren möchten. So werden wir ruhiger und friedlicher, toleranter und auch selbstbewusster. Auch im Alltag ist der Geist immer gesammelter und weniger ablenkbar. Dies ist die Basis für eine Entwicklung auch auf der Yogamatte und für die Meditation.
  • Auch die āsana-Praxis erfordert den gesammelten Geist (ananta YS 2.47). Bevor wir mit den Übungen beginnen, muss der Geist die Fähigkeit zur Ruhe haben. Diese bringen wir aus unserem Alltag mit oder wir sammeln uns zu Beginn.
  • Der Weg zu samādhi ist ein Prozess, wie wiederholt mit verschiedenen Begriffen beschrieben wird (abhyāsa 1.12, viniyoga 3.6, parinama 3.9). Es ist ein Prozess der Veränderung des Geistes. Wir wissen aus Erfahrung, dass dies nicht einfach mit einem Vorsatz getan ist, sondern dass man sich kontinuierlich daran erinnern (smrti 1.20) und sich darum bemühen (abhyāsa 1.12) muss. Auch das finden wir als Hinweis. Das wird nur möglich sein mit viel Enthusiasmus und Leidenschaft für das Ziel (tapas 2.1), einem Vertrauensvorschuss in den Weg und das Ziel (shraddhā 1.20) und Hingabe (īsvarapranidhāna 2.1) beruhend auf einer Ahnung oder Intuition (prajnā 1.20). Das ist unsere Aufgabe.
  • Wie im dritten Kapitel beschrieben, kommt dann die Zeit, wo wir alles das loslassen müssen (vairāgya 1.12), denn alles Bemühen kommt aus dem Geist, dem Ego. In samādhi ist auch das Ich nicht mehr (svarūpa sūnya 3.3, nirodha 3.5). Solange noch ein Ich da ist (ich meditiere, ich bin erleuchtet), ist es noch nicht samādhi.

    Fazit

Das ganze Yogasutra nähert sich aus verschiedenen Blickwinkeln und Perspektiven, mit Bildern und verschiedenen Begriffen, die den Suchenden abholen und helfen sollen, dem Zustand von samādhi. Eine schwierige, kaum lösbare Aufgabe, wenn Worte den Zugang nicht schaffen können. Zu beachten ist, dass es sich um einen Text handelt, der mehr als 2000 Jahre alt ist und von dem damaligen Weltbild ausgeht. Viele Texte danach und auch unsere modernen Texte mit unserer Ausdrucksweise, selbst unsere Wissenschaft, konnten dem nichts substanziell Neues hinzufügen. Vielmehr bestätigen sie das, was dort geschrieben steht, in unseren Worten. Es kann deshalb hilfreich sein, sich anhand dieser psychologischen, biologischen oder quantenphysikalischen Texte dem Yogasutra zu nähern. Es kann dadurch verständlicher werden. Sie können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es keine Abkürzung zur „Erleuchtung“ gibt. Außer für diejenigen, die mit dieser Gabe geboren wurden (bhava pratyaya videha prakrtilaya 1.19).

Ulrich Ott, Psychologe (Meditation für Skeptiker, Knaur Verlag): „Wenn alle Neuronen im Gleichtakt feuern, wird alles eins. In diesem Augenblick unterscheidet das Bewusstsein weder Subjekt noch Objekt. Die Meditierenden erleben nur noch eine Einheit, während das Zeitempfinden erloschen ist.“

 Audiodatei mit den Sanskritbegriffen