Der achtgliedrige Weg: 4.Prānāyāma – YS 2.49-2.53

Das vierte Glied auf dem achtgliedrigen Pfad (astanga YS 2.29) zu samādhi ist prānāyāma, das Konzept des Atems im Yoga. Insgesamt fünf sutren befassen sich mit prānāyāma.

Im Yoga steht der Zusammenhang zwischen unserem inneren Zustand und unserem Atem im Vordergrund: Je entspannter wir sind, desto länger, langsamer und tiefer fließt der Atem. Im Zustand von Stress oder Angst atmen wir schnell und flach. Bei Anspannung oder Konzentration halten wir den Atem manchmal unbewusst an. So beschreibt das Yogasutra in 1.31 den unruhigen Atem (ejayatva švāsaprašvāsa) als Symptom (sahabhuva) eines unruhigen, trübsinnigen (duhkha), depressiven (daurmanas) oder zerstreuten (viksepa) Geistes. Dieser Geist soll immer ruhiger und klarer werden. Das ist der Yogaweg.

Das Konzept des prānāyāma findet sich schon vor dem Yogasutra im Buddhismus, in den Upanishaden und in der Bhagavadgita, hat dort aber eine andere Bedeutung. Auch in der Zeit bis zur Hatha Yoga Pradipika (14.Jh.) ändert bzw. erweitert sich die Definition und die Bedeutung immer wieder. So hat es im Laufe der Zeit Veränderungen erfahren, aber der Kern ist erhalten.


Prānāyāma im Yogasutra YS 1.34 u. 2.49

Die Kriterien für prānāyāma YS 2.50

Der „vierte Atem“ YS 2.51

Die Wirkung von prānāyāma im Yogasutra YS 2.52 u. 2.53

Prānāyāma als Teil des achtgliedrigen Pfades im Yogasutra- tasmin sati

Die Praxis von prānāyāma


Der Begriff prānāyāma im Yogasutra YS 1.34 u. 2.49

Prānāyāma besteht aus den Begriffen prānā und āyāma. Prānā hat zwei Bedeutungen: Zum einen bezeichnet es den Atem, wie wir ihn verstehen. Zum anderen gibt es ein altes Konzept, dass prānā das Atemprinzip, die Lebenskraft hinter der Atmung bezeichnet.

Āyāma bedeutet dehnen. Prānāyāma wird daher als Atemverlängerung und Atemtechnik übersetzt.

In YS 1.34 wird prānāyāma als das vollständige Hinauswerfen (pracchadardana) und das Halten (vidhārana) beschrieben, also ein vollständiger Ausatem und die Atempause, um die inneren Blockaden zu lösen (YS 1.30 antaraya). Dies kann als Technik mit kraftvollem oder auch stoßweisem Ausatem verstanden werden.

In 2.49 heißt es: tasmin sati švāsa-prašvāsayoh gati-vicchedah prānāyāmah

Die Definition für prānāyāma ist švāsaprašvāsa. Svāsa ist der Einatem und prašvāsa ist der Ausatem. Gati bedeutet eine zyklische Bewegung. Ein-und ausatmen ist ein zyklischer Prozess.

Vyasa (4.Jh.) erklärte in seinem Kommentar zum Yogasutra prānāyāma als das Ansaugen von Luft (durch Unterdruck in der Lunge, nicht willentlich) beim Einatmen. Shankaracharya (8.Jh.) vergleicht es mit dem Einsaugen von Wasser durch einen Strohhalm. Die Luft strömt nicht beliebig ein, sondern der Körper erzeugt einen Unterdruck. Vyasa nennt den Ausatem ein Hinausstoßen der Luft. Shankaracharya beschreibt es als eine Erhöhung des Drucks im Brustkorb, so dass die Luft nach außen gedrückt wird. Erstaunliche Beobachtungen im 8.Jh.

Viccheda ist das Anhalten oder Stoppen dieser zyklischen Bewegungen um den Zyklus zu verlängern. Aus dem Ablauf „Einatmen- Ausatmen“ wird dann „Einatmen-Ausatmen-Anhalten“ oder  „Einatmen-Anhalten-Ausatmen“. Durch ein Anhalten der Bewegung nach dem Aus-oder Einatem wird der Ablauf verlängert, denn der Impuls für den nächsten Zyklus mit dem nächsten Ein- bzw. Ausatem wird hinausgezögert. Wenn dies willentlich geschieht, ist prānāyāma eine Atemtechnik.

Das sutra 2.49 sagt zunächst nichts darüber aus, ob es sich um willentliche oder natürliche, spontane Prozesse handelt. Dies ergibt sich aus den folgenden sutren, dem Gesamtzusammenhang und den Kommentaren.

Vyasa kommentiert das sutra als gati abhava, als die Abwesenheit der Atembewegungen. Es spricht dafür, dass es eine natürliche Pause sein soll. Der Begriff könnte darauf hindeuten, dass der Atemimpuls – udgata-  nicht unmittelbar am Ende des Atemzugs den nächsten Atemzug hervorruft, sondern dass am Ende einer Atembewegung (Ein-oder Ausatem) eine Pause (kumbhaka) entsteht. Die jeweilige Interpretation hat eine praktische Bedeutung für die Ausführung von prānāyāma.


Die Kriterien für prānāyāma YS 2.50

Wir können wochenlang ohne Nahrung überleben, tagelang ohne Wasser, aber nur wenige Minuten ohne Sauerstoff. Wir atmen, ohne dass es uns meistens bewusst ist, (statistisch) ca. 21.600 Mal pro Tag (alle 15 Sekunden ein Atemzug) wie Harihananda im 19. Jh. meinte. Jeder Atemzug ist ein Gasaustausch: Sauerstoff wird eingeatmet und über den Blutkreislauf in die Zellen des Körpers gebracht, wo er für die Funktion, Reparatur und Heilung benötigt wird und Kohlendioxid wird abgeatmet. Ist die Ausatmung eingeschränkt, beispielsweise durch eine Lungenkrankheit (COPD) oder durch einen flachen Atem, können wir nur eingeschränkt Sauerstoff aufnehmen und die Funktion der Zellen wird gestört.

Nicht jeder Atemzug ist prānāyāma. Was wird im Yogasutra darunter verstanden? Welche Aspekte machen aus dem Atem eine Form von prānāyāma? Beschreibungen dazu finden wir im YS 2.50.

1. Prānāyāma besteht aus drei Atemphasen: bāhyavritti (bāhya= extern vritti=Bewegung/Verhalten), eine Bewegung nach außen, der Ausatem,  ābhyantavritti (ābhyanta= intern, innen), der Einatem und sthambhavritti, das Anhalten, der Stopp. Der Kommentar von Vyasa bezieht sich auf die Atempause nach dem Ausatem, denn er spricht vorher von der Abwesenheit der Atmung. Die Pause geschieht, der Atem wird nicht willentlich angehalten. Nach einer vollständigen Ausatmung wird eine natürliche Pause oder die Verlängerung der Pause zugelassen, aber auf jeden Fall geschieht dies ohne Mühe oder Druck. In der Zeit des Yogasutra wurde prānāyāma als Atembewegung und Atempause verstanden.

Die Atempause oder das Anhalten des Atems kennen wir aus dem Alltag, wenn wir uns erschrecken, konzentrieren oder etwas Schweres heben wollen und atmen danach kräftig aus. Das Anhalten des Atems als prānāyāma wird jedoch bewusst wahrgenommen und ist gewollt.

2. Der Fokus der Wahrnehmung bei der Atmung

Die Aufmerksamkeit wird bei prānāyāma auf den Atem fokussiert. Wir können die Atmung in einem Bereich oder Ort (deša) wahrnehmen. Wir können den Atem extern wahrnehmen, wenn wir z.B. Löwenzahn pusten oder Kerzen auspusten. Wie weit reicht unsere Atmung und wie kräftig ist sie? Oder wir können die Atmung innerlich spüren: Nase, Brust, Bauch, Becken. Letztendlich ist unser ganzer Körper ein Gefäß oder das Haus für prānā und wir können den Atem überall spüren, wenn unsere Wahrnehmung fein genug ist. Das was wir wahrnehmen, sollten immer angenehme, mühelose und freie Empfindungen sein.

Wir können im prānāyāma den Fokus auch auf die Zeit (kāla) legen. Wie lange dauert die jeweilige Atemphase bzw. der jeweilige Atemzug bis der Impuls zum Ein-oder Ausatmen (udgata) kommt? Die Dauer wird in einer Zahl (samkhyā), damals Anzahl der Atemzüge heute Sekunden, gemessen.

3. Alles zusammen, die Wahrnehmung des Atems im Körper (deša), die Dauer des Atems (kāla) und die Anzahl der Atemzüge (samkhyā) müssen angenehm sein, wir müssen uns damit wohl fühlen. Die Praxis sollte uns nicht über- aber auch nicht unterfordern, damit der Atem lang (dīrgha) und fein und subtil (sūksma) fließt. Er soll so fein werden, dass ein Faden vor uns sich nicht bewegt. Wie immer der Atem sich in der Praxis verändert, wichtig ist, dass er sich verlängert und subtil wird. Er ist das Ergebnis, wenn wir prānāyāma angemessen praktizieren.


Der „vierte“ Atem  YS 2.51

Was im sutra 2.50 beschrieben wird, ist noch nicht das Ende von prānāyāma. In dem Prozess, in dem der Atem immer länger und subtiler wird, kann er so lang und still werden, dass er transzendiert. Der Atem ist nicht mehr beschreibbar, weil sich Ein-und Ausatem und die Pause nicht mehr wahrnehmen lassen. Wir spüren nicht mehr, ob er der Atem sich bewegt oder nicht. Dieser Atem führt uns in den meditativen Bewusstseinzustand, der in den folgenden sutren beschrieben wird.

Der Prozess beginnt beim Tun (YS 2.50 pakriti). Hier sind wir noch Handelnde, wenn auch sehr mild. Dann kommen wir mehr zum Erleben, zum Geschehenlassen (vaikriti) und dann zum „vierten“ (caturtha, catur=vier) Zustand des Atems, über das Erleben hinaus. Die Hatha Yoga Pradipika beschreibt es so:“ Prānāyāma ist von zwei Arten wenn nur puraka und recaka betrachtet werden: sahita prānāyāma mit ein-/ausatmen und kevala, ohne ein-/ausatmen. (HYP2.71)*

Diese Beschreibung widerspricht der oft genannten Übersetzung von prānāyāma als Kontrolle des Atems. Vielmehr ist prānāyāma das Aufgeben jeder Atemkontrolle.

Wie schon bei den āsana nennt das Yogasutra auch hier keine Techniken, sondern beschreibt anhand der Qualität des Atems und der Wirkung, was prānāyāma ist. Nicht die Technik ist entscheidend. Vielmehr können wir anhand der Qualität des Atems (und des Geistes YS 2.52) unmittelbar erleben, ob unser Üben das richtige Maß hat und ob wir in der richtigen Art und Weise üben.


Die Wirkung von prānāyāma im Yogasutra YS 2.52 und 2.53

Wenn der Atem die Qualität von caturtha erreicht hat, hilft er uns in den Bewusstseinszustand von samadhi, dem letztendlichen Ziel von Yoga zu gelangen. Der Atem ist eine wichtige und sehr wirksame Hilfe, ohne die es sehr schwer ist, den Zustand zu erreichen. Im sutra 52 heißt es, dass daraus, aus dem Vorhergehenden, also prānāyāma, die Hülle oder der Vorhang (āvarana) reduziert wird (ksiyate), der das innere Licht (prakāsa) verhüllt. Prakāsa ist eine Metapher, die den Bewusstseinszustand von samādhi, der nicht beschreibbar ist, benennt. Licht steht als Metapher für Erkenntnis und hier für das wirkliche, vollkommene Wissen – viveka kyati- („uns geht ein Licht auf“). Ein anderer Begriff ist jyoti ( YS 1.36 und 3.32) oder drastā (der Seher, YS 1.3). Der Atem bringt uns dorthin.

Wir können mit Hilfe des natürlichen Atems (pakrita prānāyāma) oder einer Technik (vaikrita prānāyāma) dorthin gelangen und das hilft auch, aber es dauert sehr lange, da der Atem oft gestört ist durch unsere Emotionen oder den unruhigen Körper.

Das sutra 53 beschreibt die Wirkung von prānāyāma auf den Geist: Durch den stillen Atem wird der Geist still. Er hat die Fähigkeit, fest, stabil und konzentriert zu bleiben (dhāranāsu). Es ist sehr schwer, ohne die Hilfe des Atems den Geist zur Ruhe zu bringen. Das unterstreicht die Bedeutung von prānāyāma für die Yogapraxis.

Die Praxis ist dann passend, wenn beides erfüllt ist: Der stille Atem und der stille Geist. Wir bekommen also unmittelbar eine Rückmeldung.


Prānāyāma als Teil des achtgliedrigen Pfades im Yogasutra- tasmin sati

Prānāyāma ist das vierte Glied des Übungsweges sādhana pāda. Dies bedeutet unter anderem, dass prānāyāma eine Vorbereitung braucht. Warum braucht es eine Vorbereitung und welche?

Grundsätzlich gibt es drei Gründe für eine Vorbereitung:

1.Die innere Wahrnehmung muss geschult und fein sein, um den Atem spüren zu können. Diese Fähigkeit lernen wir zunächst über die Wahrnehmung des Körpers.

2.tasmin sati heißt es im sutra 2.49: „Unter dieser Voraussetzung“ – welche ist gemeint? Die Voraussetzung, dass der Schritt vorher, das dritte Glied des Übungsweges- die āsana (YS 2.46/ 2.47) gemeistert sind. Was heißt gemeistert? Damit ist nicht die körperliche, sportliche oder akrobatische Meisterschaft gemeint, sondern lange und ungestört und dabei mühelos in einer Haltung bleiben zu können (sthira und sukha). Nur dann ist der Körper lange still, die Atemmuskeln bleiben locker und können sich frei bewegen. Aber nicht nur der Körper auch der Geist ist still (YS 2.47 ananta). Der Geist ist schon zur Ruhe gekommen. Nur wenn die āsana und der Geist vorbereitet sind, können wir wirklich prānāyāma praktizieren. Deshalb beginnt man eine Yogapraxis nicht mit prānāyāma, sondern mit āsana. Aus einem hektischen Tag heraus ohne Vorbereitung prānāyāma zu praktizieren kann noch mehr innere Unruhe verursachen bzw. es ist sehr schwer, überhaupt ruhig und regelmäßig zu atmen und den Geist auf den Atem zu fokussieren. Das Yogasutra und auch vyasa betrachten den vollkommen ruhigen körperlichen und mentalen Zustand als Voraussetzung für den weiteren Weg. Offensichtlich hat sich diese Hürde als zu hoch erwiesen, sodass spätere Kommentare davon abgewichen sind und bereits die Fähigkeit, in den āsana stabil und gesammelt zu sein, wenn auch noch nicht im vollem Umfang, als ausreichend für prānāyāma zugelassen haben. Dabei sehen auch sie die Bedeutung der āsana.

3.Die Atmung ist mit unserem vegetativen Nervensystem verbunden und reagiert fein auf unsere Emotionen und Gefühle, auch auf die abgespeicherten und unbewussten. Die Modifikation des Atems, auch schon die Atembeobachtung, kann die Psyche bewegen und aufwühlen. Es ist deshalb gut, die Themen zu kennen und mit dem, was aufgewühlt wird, umgehen zu können.
Darauf bereiten uns die Yama und die niyama vor. Es sind die ersten beiden Glieder, mit denen der Yogaweg beginnt. Zum einen lernen wir über svadhyāya, das Selbststudium, unsere inneren Themen kennen, können sie auflösen oder finden einen angemessenen Umgang mit ihnen, sodass sie uns nicht stören oder beherrschen. Zum anderen geht es darum, die yama und niyama immer mehr zu unserem natürlichen Zustand werden zu lassen, denn nur dann kommt der Geist zur Ruhe:  Die yama sind 1.Nicht verletzen/Gewaltlosigkeit (ahimsā), 2.Ehrlichkeit (satya), 3. nicht stehlen, also ohne Gier sein (asteya), 4.frei sein von zwanghaften Gedanken und Gefühlen (brahmacharya) 5. das Gefühl, genug zu haben (aparigraha). Die niyama sind: 1. Reinheit in Bezug auf Körper und Geist (sauca)  2. Zufriedenheit (samtosa) 3.das innere Feuer/der Reinigungsprozess (tapas) 4. das Selbststudium (svadhyāya) 5.die Hingabe (isvarapranidhāna)

Die Hatha Yoga Pradipika fasst es so zusammen: Wenn ein Yogi Meister über sich selbst ist, sich gesund und maßvoll ernährt, die āsana vervollkommnet hat, dann sollte er prānāyāma üben, so wie er es von seinem guru gelernt hat (HYP 2.1).*  Der gesamte Lebensstil muss zur Atempraxis passen.
Der Atem kann dann lang, fein und subtil werden, je mehr wir diese Prinzipien in unserem Alltag verwirklichen. Wir reduzieren die klesa (Angst, Gier, Ablehnung und falsches oder unvollständiges Wissen, YS 2.2/2.3 ff.), also die Hülle, die unser inneres Licht verdeckt, der Geist wird ruhig und gereinigt (YS 1.30) und wir bekommen eine Ahnung von sāmādhi. Es ist wichtig, diese Zusammenhänge zu berücksichtigen. Eine einfache Atemtechnik hat ihre Wirkung, wie z.B. das holoptrope Atmen oder andere Atemtechniken, aber sie ist nicht zwangsläufig zielführend und nicht wirkungsvoll im Sinne von Yoga. Ein „Atemworkshop“ oder „-seminar“ allein kann interessante Erlebnisse verschaffen (das liebt unser Geist) und vielleicht den Impuls geben, sich dann intensiv und ganzheitlich damit zu befassen oder im ungünstigen Fall einige innere Irritationen auslösen, aber es bleibt ein oberflächliches Tun.


Die Praxis von prānāyāma

  • Die Techniken
  • Der Lehrer
  • Kontraindikationen
  • Vinyasa krama

Das Yogasutra beschäftigt sich- wie wir es von den āsana schon kennen und wie auch bei der Meditation- nicht mit Techniken. Es beschreibt den inneren Zustand von āsana, prānāyāma und Meditation. Ohne Techniken und Anleitung ist es schwierig, in den Zustand zu kommen. Möglicherweise war es Lehrern, gurus, überlassen, Schüler dahingehend zu begleiten und dafür war die Qualität oder das Ziel von Bedeutung.

So ist es nicht verwunderlich, dass im Laufe der Zeit Atemtechniken entstanden, die es zum einen für den Übenden einfacher machen und zum anderen auch schneller Wirkung zeigen als der natürliche Atem.

Während das Yogasutra unter stambha nur das Anhalten des Atems versteht, wurde in späteren Texten (Bhoga, Hatha Yoga Pradipika) nicht das komplette Anhalten, sondern die Modifikation des Atems, z.B. die Änderung der Geschwindigkeit, darunter verstanden. Das Anhalten kann nach dem Einatem (externes kumbhaka) oder Ausatem (internes kumbhaka) oder während dessen geschehen.

Die verschiedenen Techniken haben unterschiedliche Wirkungen auf den Atem, den Körper und den Geist. Einige davon sind bis heute gebräuchlich und der Ansatz des Yogasutra ist in den Hintergrund und scheinbar auch in Vergessenheit geraten. In der Yogalehrerausbildung werden die Atemtechniken, oft verbunden mit dem Zählen der Sekunden verbunden gelehrt oder der Ausatem (recaka), Einatem (puraka) und das Anhalten (kumbhaka) werden ins Verhältnis gesetzt. Zu Beginn des Übens ist dies durchaus sinnvoll. Dies wird dann in Kursen weiter gegeben z.B. ujjayi, šītalī, brāhmari. Die Übenden sollten aber nicht bei der Technik bleiben sondern darüber hinausgehen. Nur so können sie die Wirkung der Stille im Geist, wie im Yogasutra beschrieben, erleben. Dazu muss man die Technik hinter sich lassen, so wie ein Musiker zuerst die Technik lernt und dann zur Meisterschaft kommt, wenn er sie nicht mehr braucht. Das Ziel aller Techniken und Modifikationen ist auch im Hatha Yoga das kevala kumbhaka- oder „Der Vierte“, wie es im Yogasutra heißt.

Die Anleitung durch einen Lehrer

In der Hatha Yoga Pradipika heißt es in Vers 2.1. „…sollte er prānāyāma üben, so wie er es von seinem Guru gelernt hat.“ * Die Anleitung durch einen Lehrer wird hier vorausgesetzt und war offensichtlich gebräuchlich. Wir haben heute viele Möglichkeiten-Literatur, Internet- prānāyāma kennen zu lernen. Aber ist eine autodidaktische Herangehensweise sinnvoll? Bereits damals wusste man um die Wirkung von prānāyāma: „Ebenso wie Löwen, Elefanten, Tiger nur langsam gezähmt werden, sollte auch der Atem durch  langsame Steigerung in den kumbhaka gesteuert werden, andernfalls kann der Atem…. den Übenden töten“.(HYP 2.15)* Diese drastische Konsequenz bezieht sich auf die tägliche, stundenlange Praxis wie sie dort beschrieben wird. Für unsere Praxis besteht die Gefahr wohl eher nicht. Aber „Wenn prānāyāma richtig geübt wird, dann heilt es alle Krankheiten. Durch falsches Üben…entstehen Krankheiten.“ (HYP 2.16)*

Bei der Prānāyāma-Praxis werden die normalerweise unbewussten Atemmuster verändert und durch bewusst angewandte Techniken ersetzt. Es gibt verschiedene Techniken, bei denen jeweils mit verschiedenen Muskelgruppen gearbeitet wird, vor allem mit dem Zwerchfell, sowie mit Brust-, Bauch- und Beckenbodenmuskeln. Auf diese Weise können die Atembewegungen kontrolliert werden. Die Atmungspraxis kann somit als Bindeglied zwischen Vorgängen des Körpers und geistigen Prozessen betrachtet werden. Deshalb wird sie auch außerhalb von Yoga als Atemtherapie eingesetzt. Die Praxis erhöht die Sensibilität für die inneren Vorgänge der Atmung und gegebenenfalls auch für die damit gespeicherten Gefühlen und Erinnerungen, denn es besteht eine enge Beziehung zwischen kognitiven, psychologischen und  physiologischen Prozessen. Emotionale Zustände lassen sich physiologisch am Muskeltonus nachweisen, ebenso sind direkte Zusammenhänge zwischen physischen und psychischen Veränderungen und Veränderungen der Atmung zu beobachten. So führt Angst beispielsweise zu einer flacheren und schnelleren Atmung, oder Erschrecken zum plötzlichen unwillkürlichen Einatmen und Luftanhalten. Mit prānāyāma werden durch den Atem auch Gedanken-und Erinnerungsmuster aktiviert. Deshalb es gut ist, von einem erfahrenen Lehrer begleitet zu werden, wenn doch die „Löwen“ und „Tiger“ erwachen, damit sie gezähmt werden können. Warum ist das wichtig? Der Prozess ist notwendig und gewollt, denn sie sind ja der Grund für den unruhigen Geist. Indem diese emotionalen Muster ihren zwanghaften Chrakter verlieren, kann die Stille im Geist, wie im Yogasutra 2.51 beschrieben, einkehren. Wenn der Atem still wird, wird auch der Geist still (HYP 2.2)

Gibt es Kontraindikationen?

Wie schon die Hatha Yoga Pradipika sagt, kann prānāyāma jede Krankheit heilen oder auch hervorrufen.

Verschiedene medizinische Studien zeigten: die regelmäßige, langsame prānāyāma-Atmung führt zu positiv bewerteten Effekten, wie z. B. verringertem Sauerstoffbedarf, niedrigerem Puls und Blutdruck, gesteigerter Aktivität des Parasympathikus, einhergehend mit dem Gefühl von Wachheit und Energetisierung, bei der Behandlung von chronischen obstruktiven Lungenerkrankungen oder positive Wirkungen bei Stress und Angststörungen.

Wichtig ist, dass die jeweilige Technik zur jeweiligen Lebenssituation passt: Wenn gerade viel Stress erlebt wird und/oder viel Spannung in den Muskeln und im Gefäßsystem ist (Bluthochdruck, Augeninnendruck) kann eine beruhigende Methode helfen. Jemanden, der wenig Energie hat, kann diese Übung noch mehr schwächen. Wenn jemand gerade operiert wurde und Narben hat, verbieten sich bestimmte intensive Übungen. Ein traumatisierter Mensch kann durch beruhigende Atmung in eine Starre kommen.

Da ein Lehrer im Kurs nicht wissen kann, welche Voraussetzungen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen mitbringen, ist jede und jeder erstmal für sich selbst verantwortlich und sollte bei Schwierigkeiten (innere Unruhe, Stress im Atem, Atemnot) die Intensität reduzieren oder auch die Übung ganz beenden und zunächst die Ursache klären. Sowohl im Kurs als auch in der eigenen Praxis ist vinyasa krama (wie es auch in der āsana-Praxis geschieht) sinnvoll. Vinyasa krama ist eine sinnvolle schrittweise Herangehensweise an „den Tiger“. Man beginnt mit sanfteren Übungen, wenig Wiederholungen und steigert dann die Übung.

Auf diese Weise wird bei regelmäßiger Praxis eine tiefgehende Transformation des Bewusstseins und eine zunehmende Sensibilisierung für feinstoffliche Lebensaktivitäten geschehen und der Geist vorbereitet für die weiteren Schritte des achtgliedrigen Pfades zu samādhi.

* Friedrich Schulz-Raffelt, Sivananda Yoga Vedanta Schule Düsseldorf (1936-2017)