Mit diesem sutra endet unsere Reise durch die niyama. Isvarapranidhāna ist ein großes Konzept und man könnte sagen: typisch indisch. Und doch ist es gleichzeitig ein universelles Konzept, das viele Mystiker*innen in China, im Orient, im alten Griechenland und im Mittelalter in Europa vertraten. Und wofür sie totgeschwiegen oder verfolgt wurden, weil ihr Konzept die Macht der kirchlichen und säkularen Institutionen bedrohte. Ein freier Mensch ist nicht manipulierbar, kontrollierbar und läßt sich nicht ausbeuten. Dieses niyama ist auch das abstrakteste aller niyama, weil es einen Zustand beschreibt, der für unseren Geist nicht zu verstehen ist. Für alle rational, wissenschaftlich und westlich geprägten Menschen ist dieses sutra eine Herausforderung.
„Samādhi-siddhih isvarapranidhānāt. YS 2.45 ”- Die Hingabe an das Göttliche führt zu dem Zustand von samādhi.(Patanjali, Das Yogasutra, R.Sriram, Theseus Verlag S.139) Oder: Mit der Hingabe an das Höchste wächst die Fähigkeit in uns, alles in seiner Vollkommenheit zu erkennen.
Diese beiden Übersetzungen zeigen schon die Schwierigkeit, die drei Sanskritworte in unserer Sprache auszudrücken und die mögliche Bandbreite der Übersetzung.
Was sagen uns die Worte? Was fangen wir damit an? Die drei Worte sind mehr als Worte. Hinter jedem Wort steckt ein ganzes Konzept. Diese Konzepte werden hier nach und nach ent-wickelt.
- Was ist isvara, das Göttliche? Isvara der Lehrer? Das sutra im Kontext des Yogasutra
- Was ist mit Hingabe –pranidhāna– gemeint?
- Isvarapranidhāna und die niyama – Was hat das mit dem Umgang mit uns selbst zu tun?
- Steht Hingabe nicht im Widerspruch zum kriya yoga, dem Yoga des Handelns? Wie kann Hingabe ein Teil davon sein?
Für isvarapranidhāna gilt noch mehr als für die anderen niyama, dass sich die Bedeutung nur im Zusammenhang mit dem ganzen Text des Yogasutra erschließt. An dieser Stelle einige wichtige Stichworte zur Einführung. Ausführlich finden Sie die Erläuterung in dem Beitrag Die niyama :
- Ziel von yoga und damit der niyama ist die Entwicklung von innerer Ruhe (nirodha, YS 1.2) und Klarheit im Geist (viveka YS 2.26/3.54/4.26)
- Dieser ruhige geistige Zustand ist notwendig, um den Bewusstseinszustand von samādhi, kaivalya, yoga (YS 1.46, 2.25), wie das allumfassende Bewusstsein und die innere Freiheit mit verschiedenen Begriffen genannt wird, erfahren zu können
- Die niyama und damit auch isvarapranidhāna sind Teil des achtgliedrigen (astanga) Übungsweges (sādhana pāda), der zu diesem Bewusstsein führt
- Als Teil dieses praktischen Übungsweges sind die niyama keine Theorien oder moralischen Vorschriften
Was ist isvara, das Göttliche? Isvara der Lehrer? Das sutra im Kontext des Yogasutra
- YS 1.24/1.25 Der Zustand von isvara
Im ersten Kapitel (YS 1.24) beschreibt das Yogasutra isvara als einen Bewusstseinszustand, der frei ist von dem, was unser Ego, also unseren Geist (citta) ausmacht und was unser menschliches Handeln bestimmt: die klesa.
Die klesa (YS 2.2ff) werden im 2.Kapitel, dem sādhana pāda (Übungsweg) behandelt. Sie sind unsere Triebstrukturen, die auf dem klesa avidyā beruhen. Avidyā (YS 2.3-2.5) bedeutet, dass wir unser Ego (asmitā YS 2.6), also unsere Gedanken und Gefühle für unser „Ich“, unser „Selbst“ halten, mit allem, was dazu gehört, vor allem unserem Körper, aber auch allem Besitz, Status, Beruf, Freunde usw. Unser „Ich“ identifiziert sich damit und fühlt sich deshalb in seiner Existenz bedroht, wenn diese Dinge, die ihrer Natur nach veränderlich sind, sich verändern. Es will keine Veränderung, sondern will an allem festhalten (rāga YS 2.7) und kämpft gegen alles, was dieses Ego bedrohen könnte (dvesa YS 2.8). Es ist ständig in Angst vor Veränderung (abhinivesa YS 2.9), die es in einem Kreislauf von Festhalten und Ablehnen bzw. Bekämpfen gefangen hält. Doch was immer wir tun, die Unsicherheit bleibt. Trotzdem halten wir an unserer Illusion fest, sicher zu sein und das uns das was wir „ich, mein, mir, mich“ nennen Sicherheit gibt. Aber dieses Ich ist instabil und verändert sich ständig. Wir wissen, wir sind nicht stabil, möchten es aber sein. Wir kennen nur das Leben und haben Angst davor zu verschwinden. Aus diesem Nichtwissen um unser wahres Selbst leben wir in der Täuschung und dem Kreislauf von Festhalten-Weglaufen- Angst- Anstrengung-Handlungen und neuen Illusionen. Wir strengen uns an, um unsere klesa zu reduzieren, aber das funktioniert nicht, vielmehr produzieren wir durch unser Verhalten immer neue. Es ist unnütz, macht uns unsicher und unruhig. Wir vergessen, dass es Illusionen sind und werden von den klesa überflutet.
Gibt es einen Ausweg aus dem Kreislauf und wenn ja, wie sieht der Ausweg aus? Ja, es gibt einen Ausweg, denn zukünftiges Leid kann vermieden werden (YS 2.16). Der Weg aus diesem Kreislauf wird im Yogasutra als astanga (YS 2.28/2.29) beschrieben. Die niyama sind Teil dieses Weges und zu den niyama wiederum gehört der kriya yoga mit tapas, svadhyāya und isvarapranidhāna.
In dem sutra 1.24 heißt es, es gibt einen anderen Zustand, frei von der Angst und damit frei von dem Antrieb, der den Kreislauf von Habenwollen, Gier und Ablehnen und Bekämpfen in Gang setzt. Er ist frei von den egozentrischen Tätigkeiten (vrttis) des Ich, mein, mir, mich unseres Geistes (citta) und des Körpers. Dieser Zustand ist isvara. Nur leider kennen wir den Zustand nicht, weil er jenseits unseres Alltagsbewusstseins liegt und von diesem verdeckt ist. Deshalb halten wir – bildlich gesprochen- unser Ego fälschlicherweise für den Bewohner unseres Hauses (Körpers), während der eigentliche Eigentümer, isvara, nicht gesehen wird. Wir identifizieren uns mit dem veränderlichen, sterblichen „Gast“ unseres Hauses statt mit dem unsterblichen, vollkommenem „Hausbesitzer“, dem Selbst. Von all unseren Illusionen und Täuschungen, unserem falschen Wissen ist diese Verwechselung das fundamentalste avidyā.
Vielleicht liegt der Grund darin, dass der Zustand von isvara für unseren Geist nicht zu erfassen ist. Wir erleben uns als getrennte, veränderliche und sterbliche Individuen. Im Yogasutra wird isvara als besonderer Zustand, als purusa (YS 1.24) beschrieben: Er ist frei von den klesa, also frei von Angst und Wut, frei von Illusionen und Zweifeln, weil er die Fähigkeit des vollständigen und unbegrenzten Wissens besitzt. Er ist frei von Anhaftung und der Notwendigkeit an etwas festzuhalten, weil es nichts mehr gibt, was festgehalten werden muss um sich sicher zu fühlen. Er ist frei von der Notwendigkeit von Widerstand und Abwehr, weil alles erkannt ist. Und er ist unbegrenzt und unsterblich, jenseits von Zeit und Raum (YS 1.25).
- Isvara als das Göttliche oder das Höchste
Die Vorstellungskraft unseres Geistes ist sehr groß, aber sie scheitert an der Vorstellung von etwas, das ohne Eigenschaften wie Form, Raum und Zeit ist. Die Vorstellung, sich mit etwas Eigenschaftslosem zu identifizieren, das keine Form hat, keine Grenze an die unser Geist sich festhalten könnte fällt ihm schwer. Isvara ist ein Zustand, der Menschen nicht ohne weiteres zugänglich ist. Es musste deshalb für die Vorstellungskraft der Menschen etwas außerhalb dieser Welt sein. Diese Vorstellung wurde auf Gott oder Götter, als Wesen mit besonderen Fähigkeiten übertragen, denn es muss etwas Höheres sein bzw. das Höchste, weil es ist so schwer zu erreichen ist.
Dieser Verkörperung eines inneren Zustandes dienen Gottesdarstellungen und Statuen. Den meisten Menschen ist bewusst, dass die vielarmigen und -beinigen und merkwürdig aussehenden Götterdarstellungen symbolhaft deren Qualitäten darstellen und nichts mit leibhaftigen Wesen zu tun haben. Die Vorstellung von dem Göttlichen als einem Wesen außerhalb von uns, irgendwo über uns schwebend, hat sich im Laufe der Zeit von dem ursprünglichen Sinn gelöst. Götter kann man anbeten, verehren und bitten. Das ist für unseren Geist verständlicher als ein innerer Zustand von Unbegrenztheit, Zeitlosigkeit, Unsterblichkeit, Leidfreiheit und einem vollkommenen Wissen, das alles eins ist. Alles das sollen wir sein. Und es soll allgegenwärtig sein, wir können die Anwesenheit aber nicht wahrnehmen. Das macht uns Schwierigkeiten.
In Indien -und anderen weniger wissenschaftsgläubigen Kulturen- ist mehr Offenheit für die Existenz eines inneren isvara oder eines purusa da. So ist die Bemerkung zu Beginn gemeint, das sutra sei typisch indisch. Isvara ist in allem und in allen. Das besagt der aus Indien stammende Gruß Namasté: „Das Göttliche in mir grüßt das Göttliche in dir.“ Es ist dieselbe Essenz in allem und von allem, nur die äußere Form ist verschieden. Was sehen wir dann, wenn wir einen anderen Menschen sehen? Was sehen wir jenseits unseres intellektuellen Verstandes? Was bedeuten dann Liebe, Hass und Wut, wenn dieselbe Essenz in uns allen ist und wir darüber verbunden sind? In der christlichen Tradition heißt es an einer Stelle: Was ihr dem geringsten eurer Brüder getan habt, habt ihr mir (Jesus) getan. In allen wirkt ein und dieselbe Essenz: isvara. Unser wahres Wesen ist nicht beschränkt auf diesen Körper, sondern unbegrenzt. Und wenn wir jemanden helfen, ohne unser Ego, dann wirkt diese Essenz durch uns und wir erfahren die Verbindung, die schon da ist. Wir stellen sie nicht her. Dieses Göttliche schließt alles mit ein.
Zu allen Zeiten hat es Menschen gegeben, die isvara erfahren haben. Auch wenn es schwer nachvollziehbar und vorstellbar ist, aber es ist keine Illusion. Es ist die Erfahrung von samādhi. Wir können erfahren wer wir wirklich sind und uns aus unserem Kreislauf von Illusion-Angst-Anstrengung-Leid befreien.
Wer das Göttliche in sich erfährt, braucht keinen Vermittler, weder einen Priester/ Brahmanen noch eine Institution. Er handelt aus der inneren Weisheit heraus und ist nicht manipulierbar und kontrollierbar. Er ist unabhängig. Die klesa, also Angst, Gier, Neid, Wut, Hass, Verurteilung anderer und Ablehnung bzw. Kampf gegen andere, können nicht eingesetzt werden um diesen Menschen zu steuern. Deshalb wurden Mystiker*innen heftig verfolgt. Sie und ihre Lehre waren eine Gefahr für religiöse und weltliche Machthaber.
- YS 1.26 Isvara als Lehrer/Guru
Das Wort guru besteht aus den beiden Silben gu und ru. Eine Übersetzung lautet, dass gu Dunkelheit und ru Licht oder Wahrheit bedeuten. Ein guru ist jemand, der von der Dunkelheit ins Licht führt oder Licht ins Dunkel des Nichtwissens bringt. Ein Lehrer. Im sutra 1.26 wird eben dies über isvara gesagt. Wenn wir dafür offen und bereit dafür sind, zu erkennen, dass wir unbegrenzt sind, dann lehrt uns isvara, wer wir wirklich sind. Mit anderen Worten, die Erkenntnis können wir nicht im Außen finden oder bekommen, weder bei Menschen, noch Texten oder Medien. Es gibt für uns im Außen nichts zu tun und zu erreichen. Die Erkenntnis kommt von unserem innersten, ewigen guru.
Und warum empfiehlt das Yogasutra dann das Studium (svadhyāya) als Teil des kriya yoga?
Jeder Mensch ist die Verkörperung (Manifestation) dieses guru, ebenso wie ein Text oder ein Vorgang-und kann uns helfen, uns der Gegenwart, der Präsenz dieses Göttlichen bewusst zu werden. Alles im Außen kann uns auf den inneren guru hinweisen, uns an ihn erinnern und ein Zugang zu unserem innersten Wesen sein.
Ein Mensch kann nie selbst dieser göttliche guru sein, aber es gibt Menschen, die sich als guru bezeichnen und dabei fest in ihrem Ego verankert sind. Eine schillernde Persönlichkeit ist oft ein Warnhinweis, ebenso wenn sich jemand selbst als guru oder Heiler oder als erleuchtete Person bezeichnet. Das sind alles Etiketten, die sich ein Ego gern gibt. Da Yoga und andere spirituelle Lehren uns in die Freiheit und Unabhängigkeit führen wollen, ist Vorsicht geboten, wenn ein Guru für sich- und nicht für das Göttliche- direkt oder indirekt Hingabe einfordert und eigentlich Abhängigkeit und Unterwerfung meint. Er ist eindeutig KEIN guru. Diese Menschen mögen trotzdem etwas zu geben haben, aber man sollte wachsam bleiben, was glaubwürdig ist und vor allem nichts tun, was einem selbst schadet und in eine mentale, emotionale noch materielle Abhängigkeit führen könnte. Hier brauchen wir Unterscheidungsfähigkeit, die im Yogasutra als viveka bezeichnet wird.
Was ist mit Hingabe –pranidhāna– gemeint?
Vom Wortstamm her bedeutet pranam Ehrerbietung oder Gruß und dana heißt Gabe. Wir ehren unser Selbst (isvara) mit einer Gabe. Die Opfergaben und Rituale in religiösen Zusammenhängen haben auch diesen Hintergrund. Oftmals sind sie dann aber an die Erwartung einer Gegenleistung geknüpft: Eine gute Ernte, Gesundheit, Reichtum oder die Unsterblichkeit. Im Yogasutra gibt es dafür keine Gegenleistung. Dort ist das kriya isvarapranidhāna eine der Voraussetzungen für samādhi.
Was bedeutet unser Wort „Hingabe“? Hingabe hat mehr mit Gefühlen als mit dem Intellekt zu tun. Es gibt keine halbherzige Hingabe, nicht ein bisschen Hingabe. Hingabe ist vollständig, ohne Einschränkung und ohne wenn und aber. Hingabe setzt Vertrauen voraus.
Welche Mißverständnisse kann es in Bezug auf Hingabe geben?
- Hingabe ist etwas anderes als Gleichgültigkeit oder Fatalismus. Im Gegenteil: Die Hingabe befreit von den klesa und ermöglicht empathisch und offen im Leben zu sein und das Leben in seiner Ganzheit zu begreifen und zu erleben. Diese Form der Hingabe an isvara führt in den Zustand von samādhi.
- Hingabe ist nicht blind und naiv. Sie ist eine bewusste Entscheidung, was und an was oder wen diese Hingabe und mit welchem Ziel geschieht.
- Hingabe ist Hinwendung zu etwas oder jemanden und unterscheidet sich von der Haltung des Weggebens um etwas loszuwerden. Wenn wir schenken ist es Hingabe: Wir wenden uns dem Beschenkten zu und übergeben ihm etwas. Es geht um Verbindung. Wenn wir etwas weggeben um es loszuwerden ist es uns egal.
- Hingabe ist nicht (Selbst-)Aufgabe und Unterwerfung. Hingabe geschieht aus freiem Herzen.
- Hingabe geschieht nicht aus Resignation oder Ohnmacht. Diese kommen aus den klesa. Hingabe bedeutet Vertrauen in den Fluss des Lebens und in die innere Führung.
Isvarapranidhāna und die niyama – Was hat das mit dem Umgang mit uns selbst zu tun?
Isvarapranidhāna ist das letzte der niyama. Der Zustand, das innere Selbst, unser Wesen zu erfahren ist das Ergebnis, wenn mit Hilfe der yama und der niyama die klesa beseitigt wurden. Denn wenn durch kriya yoga die klesa reduziert werden, kann das wahre, göttliche Wesen, unsere Essenz oder bildlich gesprochen unser inneres Licht (YS 1.36/3.32) durchscheinen (YS 2.2). Damit ist auch gesagt, dass nicht wir das Licht scheinen lassen können. Nicht wir können den Zustand von samādhi erschaffen, sondern das vollkommene Wissen zeigt oder offenbart sich uns.
Dies ist jedoch nur möglich, 1. wenn unser Geist im Zustand von nirodha (YS 1.2), d.h. still ist und das ist gleichbedeutend mit frei von klesa 2. unser Geist bereit und offen dafür ist. Das ist dann die Hingabe isvarapranidhāna.
Die Hingabe ist nicht etwas einmaliges, sondern ein stetiger Prozess. Zu diesem Prozess gehören die yama und die niyama. Die Hingabe ist die anspruchvollste und höchste Form.
Wir handeln in der Welt immer mehr mit der Haltung von yama:
- Gewaltlosigkeit, ohne Wut, ohne Aggression (ahimsā)
- Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit (satya)
- Freiheit von Habenwollen, Gier (asteya)
- Genügsamkeit (aparigaha)
- angemessenem Umgang mit unseren Bedürfnissen (brahmacharya)
und verändern unseren inneren Zustand (niyama)
- durch diesen Reinigungsprozess der uns von den klesa befreit (sauca)
- in einen Zustand der Zufriedenheit (samtosa).
Wir brauchen dafür:
- ein tiefes inneres Verlangen und Feuer (tapas)
- das Selbststudium zum Erkennen der klesa (svadhyāya) die wir
- dem isvara, unserem höheren Selbst hingeben. (isvarapranidhāna). Damit ist die Frage, was wir hingeben, was unsere Gabe ist, beantwortet: Unser Ego.
Steht Hingabe nicht im Widerspruch zum kriya yoga, dem Yoga des Handelns? Wie kann Hingabe ein Teil davon sein?
Isvarapranidhāna ist Teil eines Prozesses, dem sādhana pāda, im zweiten Kapitel. Es meint das Handeln (kriya) aus unserem innersten Selbst.
Wir handeln im Alltag aus unseren aktiven klesa, unserem Ego. Wir betreiben zum Beispiel Sport oder Yoga, weil wir Angst davor haben, dass der Körper degeneriert, schwach wird und sogar Schmerzen bekommt, wir krank werden und sterben. Oder wir ernähren uns aus dem gleichen Grund gesund. Das klesa ist abhinivesa-die Angst. Und diese Angst wollen wir nicht (dvesa). Sport und gesunde Ernährung ist für den Körper natürlich besser als sich nicht um ihn zu kümmern. Aber alle diese Anstrengung ist keine Garantie und kann uns deshalb nicht von unserer Angst befreien. Vielmehr ist es sicher, dass der Körper eines Tages stirbt. Wie gehen wir damit um, wenn wir trotz einer gesunden Lebensweise krank werden? Wenn die Angst dann größer wird strengen wir uns dann noch mehr an?
Wir lernen für eine Prüfung, wir planen ein Projekt. Warum? Wir wollen bzw. haften an einem Ergebnis (rāga). Es ist die Angst des Ego zu versagen und damit vor der Verurteilung, Beschämung, vor Schuldgefühlen, was auf der emotionalen Ebene eine existenzielle Bedrohung darstellt. Oder es ist asmitā, die Ichsucht, die Sucht nach Anerkennung, der Stolz, der Ehrgeiz besser zu sein, mehr zu verdienen, besser dazustehen, zu glänzen. Und wenn es nicht gelingt, sind wir in dem Kreislauf immer mehr zu leisten. Aber wie immer wir uns auch anstrengen, es gibt uns keine Garantie und keine Sicherheit, die uns die Angst nimmt. Weil die Angst immer (unterschwellig) da ist, gibt es keinen Ausweg. Diese Verhaltensweisen schaffen unserem Ego nur die Illusion von Kontrolle, der Kontrolle über unser Leben.
- Handeln aus isvarapranidhāna
Mit isvarapranidhāna handeln wir aus unserem Selbst und damit aus anderen Motiven und gehen mit dem Ergebnis anders um. Das Handeln, gemeint ist unser Denken, Sprechen und Tun, widmen wir isvara. Kriya yoga bedeutet, sein ganzes Handeln auf diesen inneren Lehrer auszurichten. Das ist unter dem Begriff karmayoga bekannt. Wir tun es nicht für uns, unser Ego, sondern für unseren inneren guru, für unser höchstes Selbst. Warum? Als Teil des Ganzen/der Essenz bekommen wir alles was wir brauchen von dort und durch unser Handeln geben wir wieder etwas dorthin zurück. Ein solches Handeln wird bhakti yoga genannt. Bhakti bedeutet Liebe. Alles was wir tun, tun wir nicht aus Angst oder Pflichtgefühl, sondern weil wir es lieben. Wir lieben es, weil es richtig ist, es zu tun. Die innere Einstellung ist, das alles aus derselben Essenz für dieselbe Essenz geschieht. In dieser Haltung handelt nicht unser Ego, sondern die Essenz wirkt durch uns, z.B. wenn wir helfen. Deshalb ist jede Möglichkeit des Handelns eine Chance, mit dieser Essenz in Kontakt zu kommen. Es gibt keine Verwirrung, ob ich etwas tun soll oder nicht, ob es richtig ist oder nicht und viele (innere) Konflikte lösen sich auf.
- Loslassen aus isvarapranidhāna
Wenn wir mit dieser Einstellung handeln, können wir auch unsere Ergebnisse isvara hingeben. Wir geben unser Bestes und lassen die Vorstellung eines bestimmten Ergebnisses los. Es ist nur die Vorstellung, die wir loslassen und die unser Ego brauchte, denn das das Ergebnis unseres Handelns allein unser Ergebnis ist war eine Illusion. Wir beharrten auf dieser Ilusion weil sie uns die Kontrolle über unser Handeln und unser Leben vortäuschte. Das Ergebnis des Handelns- das haben wir immer wieder erlebt- liegt nicht in unserer Hand. Im Yoga spricht man davon, die „Früchte des Handelns“ loszulassen. Dann können wir jedes Ergebnis akzeptieren. Wie ein Gärtner, der sich bestens um seine Pflanzen kümmert und das Ergebnis akzeptiert, sei es eine kleine oder große Ernte. Dies wird vairāgya (YS 1.12) genannt, ein Loslassen aus Erkenntnis und im Vertrauen zu unserem höheren Selbst und dem Leben. Wir können abwarten und geduldig sein, bis die Dinge reif sind statt hektisch zu agieren, in die Zukunft vorzupreschen und zu kontrollieren. In diesem Vertrauen sind wir frei von Zweifeln. Und wir entwickeln die Fähigkeit zu erkennen, wann es Zeit ist, sich dem Geschehen hinzugeben und wann es Zeit ist zu handeln. Wenn wir aufhören, zu strampeln kann sich ein Raum in uns entfalten und das Wissen, das Göttliche, einströmen.
Es ist für uns so schwer dies umzusetzen, weil wir seit Generationen in unserer DNA Überzeugungen gespeichert haben wie z.B. „Ohne Fleiß kein Preis, zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen….von nichts kommt nichts, Leistung wird belohnt. Nur wer etwas leistet, erfolgreich und reich ist und einen Status besitzt, ist etwas wert“. Diese Überzeugungen halten uns im Kreislauf der klesa.
Da die Quelle unseres Handelns eine andere ist, sind wir befreit von der Notwendigkeit von Erfolg, Anerkennung, Belohnung und der Last des Mißerfolgs. Wir sind unabhängig von einer Gegenleistung, ohne die unser Ego sich ausgenutzt und um den „gerechten Lohn“ betrogen fühlen würde. Wir tun etwas, weil es gut ist es zu tun, unabhängig vom Ergebnis. Wir können Mißerfolge und Fehler akzeptieren statt uns darüber zu ärgern. Unsere Gedanken, Worte und unser Handeln werden nicht von unserem Ego bestimmt, das alles festhält und Ergebnisse erwartet.
Isvarapranidhāna in der Praxis
- Auf der Yogamatte können wir Hingabe üben. Wir können mit der Einstellung üben und meditieren, für unser Selbst zu praktizieren. Wir erkennen es daran, dass unser Geist ruhiger wird (nirodha). Es ist ein Zustand der Abwesenheit von Gedanken aus dem Ego z.B. äußerlich einen möglichst perfekten Eindruck zu machen und stolz darauf zu sein oder in Eile zu sein, die Praxis aus einem Zwang und einer Rigidität ohne Rücksicht auf die reale Situation heraus zu machen und wenn es mal nicht möglich ist, sich zu ärgern oder auf andere wütend zu sein, die die Praxis stören bzw. auf uns selbst wütend zu sein, weil wir uns stören lassen. In isvarapranidhāna praktizieren wir wie es uns möglich ist und nehmen das Ergebnis als Geschenk an. Vielleicht fiel sie uns mal leicht, vielleicht waren wir mal unkonzentriert. Statt Ego-Yoga üben wir Isvarapranidhāna–yoga.
- In der Meditation können wir unsere Aufmerksamkeit auf die Frage lenken: Wer ist die/der Meditierende? Wer ist die/der Erfahrende? Wer ist das, die/der dies alles erlebt?
- Spezielle Übungen für isvarapranidhāna können sein z.B. das Tönen der Silben OM oder von Mantren. Das OM ist im Hinduismus gebräuchlich, aber es wird im Yoga neutral verwendet als Erinnerung an das Göttliche. Es ist aber selbst nicht das Heilige oder Göttliche. Auch das Tönen von Mantren, Japa oder der Kirtan ist eine Verehrung und Erinnerung an unser göttliches Selbst. Affirmationen wie so ham oder tatvam assi (ich bin das) erinnern unseren Geist an unser Selbst und wir richten uns darauf aus. Es muss aber nicht Sanskrit sein, sondern kann alles sein, aus der jeweiligen Religion oder Philosophie. Auch das Studium von Texten kann uns zum Selbst führen. Eine andere Möglichkeit ist auch eine Herzmeditation, denn das Herz steht für Liebe und Güte.
- Im Alltag können wir jede Handlung zu einer Übung mit isvarapranidhāna machen. Wenn wir bewusst essen und die Nahrung als Geschenk des Göttlichen wahrnehmen, wieviel Liebe und Mühe, wieviel Sonne, Erde, Luft und Wasser in der Nahrung und alles dieselbe Essenz hat und sich nur in der Form unterscheidet. Wenn wir die Natur bewusst wahrnehmen und jedes Lebewesen mit den Augen unseres Selbst betrachten. Wenn wir alles tun, weil wir es lieben.
Fazit:
Isvarapranidhāna ist ein Seinszustand, der unberührt ist vom Kreislauf der Spannungen, die aus den klesa entspringen, von den aus diesen Spannungen entstandenen Handlungen, von den Ergebnissen (Früchten) und den psychischen Eindrücken (samskara),die wiederum zu neuen Spannungen führen. Es ist unser Potential was möglich ist.
Isvarapranidhāna läßt uns wieder Vertrauen in den Fluss des Lebens finden. Wir leben voller Vertrauen auf diese universelle innere Führung, auch wenn wir die Zusammenhänge nicht oder erst später erkennen. Wir kennen solche Momente des „flow“. Aus diesem Urvertrauen entsteht Gleichmut, Zufriedenheit, innerer Frieden und Klarheit.
Isvarapranidhāna schenkt uns die Geduld, die Früchte der Handlungen voller Vertrauen zu empfangen. Wir vertrauen darauf, dass alles so kommt, wie es für das große Ganze, dessen Teil wir sind, kommen soll ohne Erwartung und ohne das Gefühl, etwas perfekt machen zu müssen. Wir können die anstrengende Kontrolle oder besser: Kontrollversuche oder -bemühungen aufgeben. Sie hindern uns daran, im Fluss zu sein.
Isvarapranidhāna bedeutet, sich verbunden statt getrennt zu fühlen. So wie ein Wassertropfen im Meer nie getrennt sein kann vom ganzen Meer, sondern als Teil des Meeres immer verbunden ist.
Isvarapranidhāna bedeutet nicht mehr das Gefühl zu haben, alles alleine schaffen und alle Probleme und Krisen allein lösen zu müssen. Als Teil des Ganzen fließt uns Energie und Hilfe zu. Wir erleben eine neue wirkliche Kraft, Stärke und eigene Möglichkeiten.
Wenn wir uns von unserem Ego befreit haben, können wir das Leben in seiner Ganzheit akzeptieren ohne zu urteilen. Wir leben nicht mehr aus einer egozentrischen Sichtweise, die nur das ich, mein, mir und mich als Teil der Realität wahrnimmt, sondern haben das Ganze im Blick, denn wir sind das Ganze.
Wir müssen „unser Haus“ von allem Müll, an dem wir festhalten, reinigen, damit Platz ist für isvara. Unser Selbst ist immer da und wenn wir innerlich Raum schaffen, offen sind, dann kann es sich darin ausbreiten und zeigt sich uns. Unsere Aufgabe ist das Aufräumen und uns dann hinzugeben und offen und präsent sein, damit wir es nicht verpassen. Mehr können wir nicht tun. Nun kann sich alles Weitere in der eigenen Zeit entfalten. Allerdings fordert das Aufräumen alles von uns.
Im Zustand von isvarapranidhāna ist samādhi möglich, der Zustand der Erkenntnis, wer wir wirklich sind, warum es uns gibt und das vollkommene Wissen über alle Zusammenhänge. Wir gewinnen innere Freiheit und Leichtigkeit und haben mehr Handlungsmöglichkeiten und mehr Präsenz. Es bedeutet ein freies, reiches, entspanntes und leichtes Leben.
Du bist kein Tropfen im Ozean,
Du bist ein gesamter Ozean in einem Tropfen.
(Rumi)