
(Am Ende des Textes gibt es eine Audiodatei mit den Sanskritbegriffen)
Im zweiten Kapitel, sādhana pāda, wird die feste Anbindung (samyoga) des Selbst (drastr) an „das Gesehene“ (drsya) als Ursache von Leid betrachtet (2.17). Oder anders ausgedrückt: Die feste, ununterbrochene Verbindung unseres Geistes an die Sinnesreize oder -wahrnehmungen führt zu Stress, Unruhe, Krankheiten. Wir kennen diese Erfahrung aus unserem Alltag, denn wir erleben Reizüberflutung, die uns stresst und nicht zur Ruhe kommen läßt. In diesem Sutra heißt es, dass nicht die Reize, also nicht die Umwelt die Ursache für unseren Zustand sind, sondern unser Umgang damit. Unser Geist ist damit so fest verbunden, dass er sich auch selbst Reize sucht. Im Hinblick darauf, dass unser Einfluss auf die Reize begrenzt ist, bietet Yoga uns einen Weg, von der Notwendigkeit, sich ständig damit zu beschäftigen, zu befreien oder zumindest wieder freier zu werden, so dass sie kein Leid erzeugen. Die Yogapraxis kann Stress reduzieren, besser schlafen und stabiler fühlen lassen.
- Was ist die „feste Anbindung“?
- Das „meinende Selbst“ citta?
- Avidyā als die Ursache von Leid 2.24
- Das Selbst (drastr) und das „meinende Selbst“ (citta)
- Die Objekte und der Weg zu kaivalya
- Askese als Weg zu kaivalya?
- Wie können diese Sutren im Alltag von Nutzen sein?
- Was ist die „feste Anbindung“?
Der Kontakt zu unserer Umgebung geschieht mittels unserer Sinnesorgane. Alles Lebendige hat diese Fähigkeit, denn sie ist existenziell, über-lebenswichtig. Alle Lebewesen haben ihre eigene Form der Wahrnehmung entwickelt, eine, die am besten zu ihrer Umgebung passt und am besten das Überleben ermöglicht. Selbst Pflanzen reagieren auf Temperatur (Keimen), Licht (Blüten und Blätter öffnen und schließen) und Geräusche oder Musik, wie Experimente gezeigt haben. Der Unterschied zu der menschlichen Wahrnehmung ist ein späteres Thema.
Die Sinne sind notwendigerweise ständig „auf Empfang“, weil sie eine Grundfunktion des Lebens selbst sind. Sie funktionieren rezeptiv, d.h. sie sind nicht proaktiv, sondern reagieren auf alle Reize aus der Umgebung- auf Farben, Töne, Temperatur. Das ist eine feste Anbindung.
Die Wahrnehmungen oder Eindrücke unserer Sinnesorgane sind nicht Selbstzweck, sondern dienen dem Leben. Sie sind selbst nicht entscheidungs- oder handlungsfähig. Deshalb werden die Reize mittels Nerven an ein Organ weitergeleitet, das eine Entscheidung treffen kann: das Gehirn (manas). Hier wird rasend schnell entschieden, ob etwas bedrohlich ist und das Leben sich durch Kampf oder Flucht schützen muss, oder ob etwas neutral oder angenehm ist und der Organismus entspannt bleiben kann. Auch das kann man bei Pflanzen (Absonderung von Giftstoffen, Schließen der Blüten) und Tieren beobachten. Die Entscheidung wird auf einer biologischen, „programmierten“ Grundlage getroffen. Es gibt nur das immer gleiche, standardisierte Verhalten bei gleichen Reizen, denn es muss schnell gehen. Das ist auch bei uns Menschen so. Bis zu diesem Punkt ist nicht erkennbar, wie daraus Leid entstehen kann. Vielmehr wird versucht, zukünftiges Leid (Schmerz, Verletzung) zu verhindern.
- Das „meinende Selbst“ (citta)
Der Unterschied zu anderen Lebewesen ist, dass der Mensch über ein Bewusstsein verfügt, im Yoga citta genannt. Dieses Bewusstsein verfügt über Fähigkeiten, die Reize oder Informationen zu verarbeiten, die differenzierter und deshalb langsamer sind. In echten und vermeintlichen Gefahrensituationen ist es zu langsam, weshalb dann das alte Programm zum Zuge kommt. Die Anbindung der Sinnesorgane an dieses Bewusstsein kann als Leid erfahren werden. Da Tiere über diese Form des Bewusstseins scheinbar nicht verfügen, leiden sie aus diesem Grund nicht, wohl aber bei Schmerz.
Citta ist der Sanskritbegriff, der mit „Geist“ übersetzt wird. Im Unterschied zum Gehirn (manas) ist damit das nicht-stoffliche Denken und Fühlen gemeint. Es ermöglicht eine Einschätzung, Bewertung und Abwägung der Sinneseindrücke. Dafür braucht der Geist Kriterien. Daraus ergibt sich, dass der Geist keine neutrale, weiße Leinwand sein kann. Abhängig von der Qualität der „Leinwand“ können die Tätigkeiten von citta Probleme, Unruhe und Leid erschaffen (klista) oder Klarheit und Wissen hervorbringen (aklista, 1.5).
- Avidyā als die Ursache von Leid 2.24
Von welchen Bedingungen hängt es ab, ob die Funktionsweise des Geistes, citta, zu einer „festen Anbindung“ des sehenden Selbst und zu Leid führt? Nach welchen Kriterien geht der Geist in Kontakt zur Außenwelt?
Die Beziehung des Geistes zur Welt geschieht nicht in einer objektiven, neutralen Art und Weise. Der Geist selbst ist „verwickelt“. Diese Verwicklung beruht auf avidyā (2.24, 2.3-2.5). Er nimmt die Welt aus seiner subjektiven Sicht wahr. Die Wahrnehmungen der Sinne werden danach beurteilt, ob sie subjektiv betrachtet dem Geist (asmitā 2.6) dienen oder nicht. Auch wenn wir glauben wir denken komplex, nachhaltig, an andere, würden wir nichts tun, was diesem Geist zuwider handelt. Wenn wir diese Intention verdrängen oder weg-rationalisieren ist das nur oberflächlich. Und wir wissen das im Innersten. Aus dieser Verwicklung mit der Welt entsteht immer wieder Leid-für uns und für andere.
Avidyā bedeutet Täuschung. Unser „meinendes Selbst“, auch Ego genannt, unterliegt auf verschiedenen Ebenen der Täuschung. Das beginnt mit der Selbsttäuschung. Zum einen hält das Ego (asmitā) sich selbst für die einzige reale Existenz, für unser Ich, Selbst. Das als das Selbst, das Sehende (drastr), das Transpersonale, ewige Existenz oder Seele bezeichnete Wesen, wird nicht erkannt. Das einzige Selbst das es gibt, ist für citta unser Ego. Andererseits macht unser Ego die Erfahrung, dass es nicht unsterblich, nicht ewig ist. Das löst das unangenehme Gefühl von Angst aus (abhinivesa 2.9). Aus dieser Erfahrung ist es verständlich, dass es sich schützen und wehren will und muss, weil das Leben permanent bedroht sein könnte und es manchmal auch ist. Citta ist über die Sinne (indriya) ununterbrochen in Kontakt mit der Welt um Gefahren zu erkennen und abzuwehren (dvesa 2.8) und auf vielfältige und kreative Weise für ein Sicherheitsgefühl zu sorgen (rāga 2.7). Dazu gehört möglichst viel Besitz, Macht, Beziehungen, Informationen, Kontrolle. Das ist samyoga: Die Verstrickungen durch diese Tendenzen im Denken und Handeln, genannt klesa (2.3), ausgelöst durch avidyā.
Anders als das Bewusstsein der Tiere, das im jetzigen Moment ist und nach der Beseitigung einer Gefahr sich wieder entspannt verhält, hat unser Bewusstsein – nach dem Yogasutra – fünf Fähigkeiten, die unseren Geist fest anbinden können (1.6): So können wir uns immer und immer wieder an eine bestimmte Situation, sei es angenehm oder unangenehm erinnern und dann ist unser Geist darin verwickelt (smrti). Wir können uns auch Vorstellungen (vikalpa) von der Zukunft machen und dann dreht sich der Geist um unsere Wünsche, damit verbundene Erwartungen, Ängste, Enttäuschungen. Auslöser sind die im Geist gespeicherten Erfahrungen- samskāra (1.18 ). Sie setzen neue vritti in Gang, die wiederum die klesa stärken. Dies können richtige (pramāna) oder falsche (viparyaya) Wahrnehmungen sein. Der Geist wird also nicht nur durch die Sinnesreize im jeweiligen Moment gebunden, sondern durch die fünf Funktionen von citta. Sie sind nicht grundsätzlich schlecht. Vielmehr brauchen wir diese Fähigkeiten, um im Alltag zu funktionieren. Aber wenn sie, wie meistens, unbewusst ablaufen und nicht zur Ruhe kommen entsteht das Leid (samskāraduhkha 2.15).
Unser Ego, asmitā, ist nicht nur verstrickt, es identifiziert sich sogar mit allem was es als „ich“ oder „mein“ betrachtet: Körper, Gefühle, Freude, Trauer, Wut, Empfindungen, Schmerz, Gedanken, Überzeugungen, Erfahrungen, Kleidung, Haus, Auto, Urlaub, Familie, Beruf, Beziehungen, auch Yoga und sogar das Leben. Es identifiziert sich mit materiellen und subtilen Objekten (visesa /avisesa 2.19). Und je mehr es gibt, was es „mein“ nennt, sich bildlich gesprochen einverlaibt (von Laib, Körper), desto sicherer fühlt es sich. Das gelingt (nur) vorübergehend, denn die Bedrohung verschwindet nicht. In der Psychologie wird von Internalisierungen gesprochen. Sie sind unbewusst und stellen die Konditionierungen dar, die immer wieder zu denselben Denk-und Reaktionsmustern führen, wenn sie nicht erkannt werden.
Samyoga, die Anbindung an das Gesehene, ist auch deshalb so intensiv, weil das Ego den Objekten die Entstehung seiner Existenz verdankt. Und es kann ohne die Anbindung an das „Gesehene“ nicht existieren, denn wenn wir gedanklich alles streichen, was wir mit „ich“ und „mein“ (oder „unser“) bezeichnen, was ist das was bleibt? Was ist das Selbst?
- Das Selbst (drastr) und das „meinende Selbst“ citta
Das Selbst wird drastr (2.17) oder drasta (1.3) genannt, was das Sehende bedeutet. Sehen steht für Erkennen. Es gibt einen Unterschied zwischen unserem „meinenden Selbst“ (citta) und diesem „Sehenden Selbst“. Sprachlich ist es irritierend in beiden Fällen vom Selbst zu sprechen.
Drasta oder drastu (oder eine andere Schreibweise) wird dann sichtbar, wenn die Tätigkeiten des Geistes (cittavritti) zur Ruhe kommen (nirodha 1.2). Wenn also diese Beschäftigung aufgrund der Verstrickungen und damit die klesa zur Ruhe kommen, ist das Selbst unverfälscht oder „in seiner eigenen Form“ (svarūpa 1.3 / 2.23). Näher kann dieses Selbst, dieser Seher nicht beschrieben werden. Es gibt Zuschreibungen wie unendlich, ohne Anfang, ohne Ende, das wirkliche Wissen, Teil eines großen Ganzen, nicht identifiziert, nicht verwickelt (suddha 2.20), ohne klesa.
Im ersten Kapitel wird das Selbst īsvara genannt (1.24), der „Herr“ oder ein besonderer purūsa, wie es im dritten Kapitel heißt. Purūsa bedeutet übersetzt „Bewohner“. Īsvara ist kein gewöhnlicher Bewohner, er ist besonders, er ist anders. Und das hängt mit seiner Qualität von nicht verwickelt sein zusammen. Diese Bezeichnung erinnert an das Zitat von Theresa von Avila, gut für den Körper zu sorgen, damit die Seele Lust hat, darin „zu wohnen“. Da dieses Selbst, der Seher, dieses Bewusstsein unbegrenzt ist, ist es nicht auf den Körper begrenzt. Ein anderer Begriff ist „swāmisakti“, die innere Kraft (2.23)- oder wie es „das was die Welt im Innersten zusammmenhält“ in Goethes Faust heißt. Das sind alles Beschreibungen mit denen unser Geist nicht viel anfangen kann, verwirrt ist oder sie ablehnt. Es gibt Menschen, die diesen Bewusstseinszustand erlebt haben. Alle Quellen sagen, dass es nicht wirklich beschrieben, nur erfahren werden kann. Im Yogasutra heißt es deshalb einfach nur „anya“ (1.18)- das Andere.
Zu diesem „Sehenden“ sagt das Sutra 2.17, dass die feste Anbindung (samyoga) dieses Selbst (drastr) an das Gesehene oder die Objekte (drsya) die Ursache von Leid sein kann (heyahetu). Wie kann das Selbst angebunden, verwickelt sein?
Citta hat die Funktion eines Boten oder Vermittlers zwischen den Sinnen bzw. dem Gesehenen und dem Selbst (drastr). Das Selbst braucht citta, weil es nicht wahrnehmen kann. Von der Beschaffenheit der Informationen, die citta liefert, ist abhängig, ob die „feste Anbindung“ zu Leid führt oder ob drastr zum Vorschein kommt (svarupa uplabdhi 2.23). Sind die Wahrnehmungen des Geistes durch avidyā verfälscht, so färbt das auf das Selbst ab (sarūpyam 1.4).
Die Bewegungen des citta, die vritti, können uns verwickeln (klista) oder auch daraus befreien (aklista). Unter der Verwicklung liegt das Selbst. Und so kann das „Sehende Selbst“ die Ursache von Leid sein. Andererseits kann diese Verbindung zur Klarheit über das Selbst führen, zunächst über vritti, die aklista sind und dann über die Ruhe im Geist – nirodha.
- Die Objekte und der Weg zu kaivalya
Der Zustand, in dem die Verwechselungen, avidyā, zurückgehen und das Selbst frei ist, wird kaivalya (2.25) genannt. Der Weg von samyoga (2.17) zu kaivalya (2.25) ist nichts geringeres als der Prozess der Selbst-Verwirklichung, der Selbst-Realisation, der Erkenntnis, wer wir wirklich sind. Damit ändert sich dann die ganze Wahrnehmung der Welt – nicht die Welt selbst – folglich die Beziehung und den Umgang mit und das Sein in der Welt. Die Welt ist da, aber für den Selbstverwirklichten ohne Verwicklung (krtāta pratinasta 2.22).
Vielleicht gibt es in unserem Geist ein samskāra, eine Erinnerung (smrti) an dieses Selbst, dieses Gewahrsein aus der Zeit als Baby? An den Bewusstseinszustand ohne die Prägungen und Konditionierungen (klesa)? Der Geist war auf natürliche Weise an die Sinne gebunden, aber ohne jegliche Identifikation, vielmehr verbunden mit allem. Nährt diese unbewusste Erinnerung (samskāra) vielleicht die Sehnsucht nach dem Selbst in uns?
Welche Rolle spielen die „Objekte“? Die wörtliche Übersetzung für drsyasya (2.21) lautet „das Gesehene“, im Sinne von wahrgenommen von allen Sinnen, nicht nur über die Augen. Übersetzt wird es oft mit „Objekte“, was aber in unserem Sprachgebrauch eine eingeschränkte Bedeutung hat. Objekte sind alles, was dem Prinzip der Veränderung unterliegt. Der Begriff dafür ist guna: Rajas, das, was alles bewegt, tamas was alles stabilisiert / erhält, das träge Moment und sattva, das Sein, sind die drei Elemente, die alles verändern. In 2.18 heißen diese Elemente prakasa (Licht), kriya (Aktivität) und sthiti (Festigkeit, Trägheit). In dem Sinne des Wahrgenommenen gehört auch unser Geist, citta, zu den Objekten. Wir können unsere Aktivitäten in der Reflektion oder Meditation beobachten. Das einzige, was nicht wahrgenommen werden kann, ist das Selbst. Wie soll man etwas beschreiben, was nicht wahrgenommen werden kann? Es kann nur unmittelbar erfahren werden.
Der einzige (eva) Zweck (tad artha), dem die „Objekte“ dienen, ist, dass sie vom Selbst (hier: drsyasya ātma) wahrgenommen werden (2.21). Das reine Bewusstsein erfährt sich über das Gesehene, die Objekte. Das Wahrnehmen der Objekte und insbesondere unseres Geistes führt uns zum Selbst, zu kaivalya. Wir ent-wickeln uns aus den Verstrickungen (klesa) durch die Unterscheidungsfähigkeit (viveka 2.26). Mithilfe der Sinneseindrücke können wir erkennen, was wir nicht sind: Alles Veränderliche, alles Erlebte, Gesehene. Selbst der Geist wird gesehen um mehr und mehr zu unserem wirklichen Selbst zu gelangen. In den Veden heißt es: neti, neti – (ich bin) nicht dies, nicht das. Wir erkennen, dass alles Objekte sind und nicht unser Selbst. Was wir sind, kann sich uns nur zeigen. Wir können es nicht durch den Geist „erzwingen“.
Das Mittel (ūpaya 2.26) ist der dauernde (aviplavā) Zustand der Einsicht, der Erkenntnis (khyāti) und des Verständnisses von dem was ist und was nicht ist (viveka). Dieses Mittel führt zum Ziel, frei von Leid in welcher Form auch immer, zu werden (hānopāya 2.26). Am Anfang ist der Zustand nicht von Dauer. Das ist ein Prozess.
- Askese als Weg zu kaivalya?
Schon vor langer Zeit war das Wissen um die Anbindung der Sinne als Hindernis auf dem spirituellen Weg bekannt. Es gab und gibt verschiedene Ansätze, das Hindernis aufzulösen. Eine schon in früher Zeit und bis heute praktizierte Weise ist die Askese (tapas), die Entsagung. In der extremen Form lassen Menschen alles hinter sich und ziehen sich in die Natur zurück oder haben nur das, was sie am Körper tragen und erbetteln, was sie brauchen. Eine Form von Askese ist das klösterliche Leben, in Indien ashram genannt. Die Mönche und Nonnen verzichten auf jeden Privatbesitz, haben nur die notwendige Kleidung und ein Zimmer und stellen ihre Arbeit in den Dienst der Gemeinschaft. Sie verzichten damit auch auf den Erfolg ihres Tuns. Die Erfahrung durch eine befristete Zeit im Kloster (Exerzitien, Retreat) auch mit wenig Besitz kann eine heilsame Erfahrung sein. Aber zu glauben, der Geist wäre dann frei, ist eine Illusion (avidyā). Er kann sich auch an den einfachsten Dingen festhalten (meine Yogamatte, mein Platz). Wir nehmen den Geist immer mit, egal wie weit wir reisen. Die eigentliche Arbeit ist die geistige Arbeit. Der können wir nicht entrinnen, wenn wir uns entwickeln wollen.
- Wie können diese Sutren im Alltag von Nutzen sein?
Die Möglichkeiten, uns in der Welt zu „verwickeln“ ist ungleich größer als zu Zeiten des Yogasutra. Gleichzeitig sind wir mit Sinnesorganen unterwegs, die hervorragende Werkzeuge sind, um uns in unserer unmittelbaren Umgebung zu bewegen. Unser Geist hat die Fähigkeit und Kapazität, viele Eindrücke zu verarbeiten. Und er hat einen Filter, der Eindrücke aussortiert, so dass wir nicht überfordert sind. Das hat viele Jahrtausende ausgereicht.
In den letzten 100 Jahren hat sich durch die fortschreitende Technik die Menge der zu verarbeitenden Eindrücke vervielfacht. In der unmittelbaren Umgebung gibt es mehr Geräusche, Gerüche, Begegnungen, Bilder, die unsere Sinne fordern und manchmal überfordern. Durch die Medien bekommen wir außerdem Eindrücke aus der ganzen Welt und selbst aus dem All, die den Geist auch verwickeln. Außerdem sind wir rund um die Uhr durch das Internet verbunden. Auch das es keine Auszeit gibt, keine Pause, ist für unseren Geist neu. Dafür sind unsere Sinne und unser Geist von der Natur nicht ausgerüstet. Das kann zu Stress und Stressfolgen, zu dukha, Leid, führen. Wie es in 2.16 heißt, kann zukünftiges Leid vermieden werden.
Wie kann uns Yoga helfen, mit dieser Situation umzugehen ohne neues Leid zu erzeugen?
- Das Wissen um die Funktionsweise des citta, des Ego, sich mit den Eindrücken zu identifizieren kann uns zu der Frage führen „Hat das etwas mit mir zu tun?“ Bei Eindrücken in der nahen Umgebung können wir handeln, ggf. an der Situation etwas verändern. Bei vielen anderen Eindrücken, die den Geist beschäftigen, haben wir die Möglichkeit nicht. Wie können wir dann mit dem Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht umgehen? Wenn wir keinen Einfluss haben, können wir es dann dort lassen, wo es ist? Also vairāgya praktizieren, das Loslassen (1.15 / 3.2) ? Wie können wir gleichzeitig empathisch bleiben, im Mitgefühl, karunā (1.30)? Gelingt es vielleicht sogar besser, wenn wir uns nicht identifizieren, sondern ein bisschen Abstand halten und mehr aus dem Selbst agieren?
- Wenn es etwas mit uns zu tun hat, dann können wir die Art der Beziehung untersuchen. Sind wir durch die klesa verwickelt? Lösen diese Eindrücke Angst, Abwehr, Wut, Festhalten aus? Warum ist diese Information für uns wichtig? Fühlen wir uns sicherer, haben wir die Illusion von Kontrolle wenn wir es wissen? Wollen wir nicht als uninformiert gelten? Ist die Information wichtig oder fühlt sich das Ego dann einfach nur besser? Wenn die Information für uns wichtig ist, auch über den Alltag hinaus, wie gehen wir damit um? Wir können viveka, Unterscheidungsfähigkeit, entwickeln und dadurch Leid vermeiden.
- Wir können Unterscheidungsfähigkeit entwickeln um zu erkennen, was wesentlich für uns ist. Und was aus unserem Selbst, drastr, kommt. Jetzt können wir diese Entwicklung von samyoga zu kaivalya beobachten, wenn wir unsere Beziehung zur Welt in Gedanken und im Handeln – Stichwort yama (2.29/2.30) und niyama (2.32), den beiden Gliedern des astanga yoga (2.28) – reflektieren. Ändert sich im Alltag etwas in diesem Sinne? Führt mich die Art der Beziehung zur Welt weg von mir, vom Selbst, zu den klesa?
- Wir brauchen tapas, die Entschlusskraft, und abhyāsa, das Durchhaltevermögen, um die Bindung der Sinne an den Geist mehr und mehr zu lösen. Die klesa sind hartnäckig. Besonders das klesa rāga kann uns davon abhalten, indem es eine Sucht wird, ständig informiert sein zu wollen. Jede Information hinterläßt einen Eindruck – samskāra- im Geist, der wieder vrittis und klesa generiert und zu einer „Dauerschleife“ wird.
- Oder neurologisch ausgedrückt: Jede Information führt zu einer Erregung im Geist, die zur Ausschüttung von Hormonen führt. Und dieser Zustand kann zur Sucht werden und ein anderer Zustand als unangenehme Langeweile oder Leere erlebt werden. Der Geist reagiert auch auf Fiktionen, wie Filme und podcasts. Und ebenso wie andere Suchtmittel (Zucker, Alkohol) sind die Informationen immer und überall und schnell verfügbar. So wird die feste Anbindung sogar verstärkt. Damit ist zu rechnen und wir können uns darauf einstellen. Wir brauchen eine bewusste und verbindliche Entscheidung. Das ist nicht zu unterschätzen.
- Wir haben die Freiheit, Entscheidungsmöglichkeit und Verantwortung, ob wir die Objekte dazu verwenden, das Ego zu stärken, die feste Anbindung des Geistes an die Welt weiter zu festigen. Das wird boga (2.18) genannt, der Genuss, die Anziehung. Oder nutzen wir die Objekte, die dem Selbst dienen sollen als Spiegel um über unseren Geist zu erfahren. Das ist aparvaga (2.18), befreiend, das Thema ist erledigt. Wollen wir uns weiter verwickeln und entwickeln?
- Sādhana pāda mit dem kriyā yoga und dem astanga yoga (2.28ff.) ist eine Methode, ein Mittel, upāya (2.26) die Bindung zwischen den Sinnen und dem Geist zu mindern und das Selbst zu erfahren. Es ist weder eine Weltflucht, noch eine Weltmissionierung, sondern eine freie und echte Beziehung zur Welt und ihren Erscheinungen. Eine regelmäßige Zeit der Stille ohne äußere Reize erzeugt ebenfalls neue samskāra. In diesem Fall sind sie erwünscht, denn es sind solche der Stille. Sie unterbrechen die „Dauerschleife“. Wir können dann reflektieren, wie die klesa uns vor sich hertreiben und wir können dann die Täuschung (avidyā) reduzieren.
- Pratyāhāra (2.54): Deshalb ist eine Stufe des folgenden astanga yoga (achtgliedriger Weg) das Zurückziehen der Sinne als Übung vom samyoga zu vairāgya zu kaivalya. Die Fähigkeit, die Anbindung des Geistes an die Sinnesreize für eine bestimmte Zeit zu unterbrechen ist die Voraussetzung dafür, die Aufmerksamkeit nach innen, auf das innere Geschehen, das innere „Gesehene“ richten zu können.
- Zwei Fragen für die innere Aufmerksamkeit:
1. Was wird wahrgenommen? Dann werden alle Objekte erkannt 3.33
2. Wer oder was ist das, was wahrnimmt? hrdaye citta samvit 3.34: Die Meditation auf das Herz bringt Wissen über citta.
Das innere Licht (jyoti 3.32) ist da. Es ist das, was wir sind. Wenn wir die Verhüllung entfernen (2.28) führt das zu vairāgya, Selbstverwirklichung.
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Disclaimer: Der Text wurde ohne KI erstellt. Alle Fehler und Irrtümer verantwortet die Autorin.