YS 1.5: Gedanken sind bindend oder befreiend-Haben wir eine Wahl?

(Am Ende des Textes gibt es eine Audiodatei mit den Sanskritbegriffen)

Yogasutra 1.5: vrittayah pancatayyah klista-aklista

„Es gibt fünf (pancataya) Kategorien von Bewegungen (vrittaya) im Geist. Sie können sowohl befreiender (aklista) als auch bindender (klista) Natur sein.“ Dieses fünfte Sutra zu Beginn des ersten Kapitels wirkt auf den ersten Blick nüchtern und unspektakulär. Bei näherer Betrachtung ist es eine wichtige Kernaussage im ganzen Text. Ohne diese Annahme würde die Yogapraxis keinen Sinn ergeben.


Alles im Yoga dreht sich um den Geist

  • Der stille Geist – yogah cittavritti nirodah (1.2)

Das erste Kapitel beginnt mit der Definition von Yoga als Erfahrung (yogā anusāsanam 1.1) von Stille im Geist. Die Stille im Geist ist der Weg (pāda) zu samādhi. So lautet die Überschrift dieses ersten Kapitels. Denn der Zustand von Stille im Geist ist nicht Selbstzweck, sondern die Voraussetzung für die Erfahrung des Selbst oder „Seher“ (tadā drastu svarūpe avasthānam 1.3). Dies ist eine von verschiedenen bildhaften Begriffen für eine Bewusstseinserfahrung, wenn der Geist still ist. Was ist dieser Bewusstseinszustand im Unterschied zu unserem Alltagsbewusstsein?

Der Yogaweg wird als eine geeignete Möglichkeit betrachtet, diesen Zustand zu erfahren. Er richtet sich an Menschen, die eine spirituellen Erfahrung anstreben. Es gibt an keiner Stelle einen Absolutheitsanspruch, Alleinanspruch oder andere fundamentalistische Prägungen.

  • Der unruhige Geist -citta viksepa

Von Natur aus ist unser Geist unruhig, in Bewegung (cittavritti 1.2). Wie ist es möglich, dass der Geist still wird? Wir können uns vornehmen oder beschließen, dass der Geist ruhig ist – nur funktioniert das leider nicht wie gewünscht. Warum nicht? Dazu heißt es im Yogasutra: „vritti sarūpyam itaratra“ (1.4): Andernfalls, wenn der Geist nicht ruhig ist, sind die Bewegungen beeinflusst „von etwas anderem“. Das lässt als erstes den Umkehrschluss zu, dass der vorher genannte „drastu“ ( der „Seher“ im Sinne eines Bewusstseinszustandes) unbeeinflusst von diesem, an der Stelle nicht näher bezeichneten, „anderen“ sein muss. Das ist der entscheidende Unterschied dieser beiden Bewusstseinsebenen und führt zu ganz unterschiedlichen Erkenntnissen und Erfahrungen über das Leben und die gesamte Existenz.

Das Sutra führt dann zu der Frage: Was ist dieses andere? Denn wenn die Quelle der Unruhe und ihre Funktion für den Geist bekannt sind, liefern diese Erkenntnisse Ansatzpunkte wie der Geist ruhig werden kann. Im zweiten Kapitel beginnt der Übungsweg (sādhana pāda) deshalb mit dem Erfordernis des Selbststudiums (svādhyāya 2.1)


Wie kommt der Geist zu Ruhe?

Um „das andere“ zu erkennen, müssen wir nicht „im Nebel stochern“. Das Yogasutra macht es uns leicht, indem es uns verschiedene Ursachen für die Unruhe präsentiert. Es führt uns die Richtung, in der wir fündig werden können. Allerdings enthebt es uns nicht der Aufgabe, es für uns selbst herauszufinden.

  • Die fünf Kategorien der Bewegungen unseres Geistes (1.5)

Eine erste allgemeine Betrachtung ist die Kategorisierung der Bewegungen des Geistes, die uns zur Funktionsweise führt:

1. Die Beschäftigung mit der Wahrnehmung ist eine ständige Tätigkeit unseres Geistes. Er ist ständig beschäftigt, alles wahrzunehmen. Das ist eine biologische und auch eine psycho-mentale Funktion. Wir nutzen sie nicht nur wenn sie nötig ist, sondern entwickeln eine Gewohnheit, einen Zwang, können nicht mehr abschalten (Internet, soziale Medien, Bücher….). Nicht die Wahrnehmungstätigkeit, sondern diese Gewohnheit ist klista und verstärkt sich immer wieder.

2. Es gibt eine Form der richtigen und der falschen Wahrnehmung. Letzteres ist die Verblendung. Wir nehmen die Wirklichkeit, uns selbst und die Welt verzerrt wahr oder blenden Tatsachen aus. Dies führt eher zu einem unruhigen Geist, weil dadurch Probleme entstehen. Die richtige Wahrnehmung ist aklista, frei, die falsche Wahrnehmung ist gebunden an unsere Verzerrung und daher klista.

3. Die Vorstellungskraft ist ständig damit beschäftigt, was wir uns wünschen, was wir fürchten und wie wir unser Ziel erreichen können. Es sind Überlegungen, die mit der Zukunft zu tun haben. Die Vorstellungskraft an sich ist eine wunderbare Fähigkeit. Doch gilt auch hier: Können die Gedanken zur Ruhe kommen, wenn wir unsere Vorstellungskraft nicht brauchen – aklista oder ist auch das eine Gewohnheit und ein Hindernis für die Stille im Geist, die Tendenz zu klista?

4. Im Tiefschlaf scheint der Geist still zu sein, aber es gibt Bewegungen, wie man mittlerweile weiß. Nur wir erinnern uns nicht daran und haben keinen unmittelbaren Einfluss.

5. Die Erinnerung ist ebenfalls eine Tätigkeit des Geistes. Sie gibt es ebenfalls in der nützlichen und wichtigen Form und in der Form als Hindernis. Sie bindet uns an die Vergangenheit. Manchmal wiederholen wir etwas ohne uns dessen bewusst zu sein. Auch das beruht auf einer Erinnerung. Und wir projezieren diese Vergangenheit in die Zukunft, d.h. wir erwarten, dass etwas wieder so sein wird. Das ist klista. Wir glauben, wir denken in die Zukunft und sind gleichzeitig an unsere Vergangenheit gebunden.

Alle diese geistig-psychischen Tätigkeiten gibt es in der Form, die sinnvoll ist (aklista) und in der Form die das Hindernis ist, weil sie unseren Geist beschäftigt hält (klista)- als Gewohnheit, Zwang, Sucht, Vermeidungsstrategie, Kontrollbedürfnis……. Der Übungsweg der Selbsterforschung und -erfahrung führt zu viveka (2.26) der Unterscheidungsfähigkeit zwischen den beiden und damit zur Selbsterkenntnis und dann zu prasādana (1.33), der Klarheit im Geist, zum Verständnis der Funktionsweise unseres Geistes und damit zu Möglichkeiten der Veränderung.

Man kann sagen, der Geist ist zugleich die Ursache des Problems und das Werkzeug, um ihn zu verändern. Dies ist nur deshalb möglich mit der Erfahrung, dass der Geist das Potenzial in sich trägt auch aklista zu sein, zu freien Gedanken und zu neuen Erkenntnissen fähig. Das ist ein Grund, warum das sutra 1.5. ein Schlüsselsatz ist.

  • Die neun geistig-psychischen Hindernisse 1.30

Nach diesen allgemeinen Kategorien wird das Yogasutra konkreter. Denn die Frage ist, was veranlasst den Geist, wie aktiv zu werden? Ist das Zufall oder gibt es dafür Quellen? Es kann erforderlich sein, tiefer zu schauen, um die Ursache verändern zu können. Im ersten Kapitel gibt es eine Aufzählung von inneren Quellen. Nicht um die Anlässe der äußeren Welt für den unruhigen Geist, sondern den Zustand des Geistes selbst geht es hier. An dieser Stelle werden sie aufgezählt und auch die Symptome (1.31) an denen wir den Zustand erkennen, werden genannt. Wenn wir uns hier wiederfinden, müssen wir uns um diese Themen kümmern und Lösungen suchen. Sonst halten diese Themen den Geist beschäftigt (citta viksepa) und er kommt nicht zur Ruhe:

Es sind dies
-Krankheit/Unwohlsein
-Trägheit/Schwere im Geist (Gleichgültigkeit, Niedergeschlagenheit, Depression)
-Unentschiedenheit (ständiger Zweifel, nicht ins Tun kommen)
-Hast (Hektik)
-Faulheit (Anstrengungen meiden)
-Abgelenktheit/Unruhe (Konzentrationsschwierigkeiten)
-fehlende Zielstrebigkeit ( immer Neues beginnen ohne das Vorherige zu Ende zu bringen)
-Mangel an Beharrlichkeit und Vision (bzw. Anstrengungsbereitschaft )
-Verblendetheit (falsche Selbsteinschätzung)

Bei diesen Hindernissen müssen wir uns auf körperlicher, psychischer und mentaler Ebene um eine Lösung kümmern, sonst kommen wir nicht weiter. Denn der Geist bleibt andernfalls darin gefangen, er kann nicht frei agieren.

Diese Hindernisse sind die Ursache für den unruhigen Geist (viksepa) und klista. Sie gelten als Unreinheiten des Geistes (ashuddhi 2.28), die den Geist immer wieder stören und ablenken. Aufgabe der Yogapraxis ist die Beseitigung dieser Störungen. Dann scheint das Wissen, das Bewusstsein durch (jnāna dīpti 2.28). Das erste Element der niyama, des achtgliedrigen Weges (astanga yoga 2.25) ist sauca (2.40), die Reinigung auf allen Ebenen.

  • Die Welt, unsere Sinne und der Geist- indriya (2.18/2.54/2.55) und samyoga (2.17)

Im zweiten Kapitel stellt das Yogasutra eine Quelle für die Unruhe im Geist vor, die für uns vielleicht nicht von Anfang an offensichtlich ist. Es ist eine subtile Beobachtung der Zusammenhänge von Wahrnehmung und Umgang mit der Wahrnehmung.

Im Alltag sind unsere Sinnesorgane und tatorientierten Wahrnehmungsorgane nach außen gerichtet. Wir können die Sinne fokussieren und die Aufmerksamkeit steuern, z.B auf diesen Text oder auf das Essen, das Händewaschen usw. Wenn wir die Sinne nicht ausrichten, sind sie unruhig und wandern scheinbar spontan hin und her-was gerade spannend, neu, interessant oder gefährlich ist und ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht. Durch ihre Verbindung zum Geist (samyoga) wird der Geist permanent mit neuen Informationen geflutet. Wie wir wissen, sind manche Eindrücke so flüchtig, dass sie unter unserer Verarbeitungsschwelle sind. Viele Eindrücke beschäftigen den Geist vielleicht nur kurz- jemand geht an uns vorbei-wir nehmen es wahr und vergessen es auch wieder. Es ist jedoch nicht nur diese Verbindung allein, sondern die daraus folgende Aktivität des Geistes, die ihn nicht zur Ruhe kommen lässt. Es ist dies die Vermischung dieser Informationen mit bereits gespeicherten Informationen, z.B. ob diese Informationen kompatibel sind mit den vorhandenen Informationen, Meinungen, Werten und Bewertungen. Daraus resultieren dann gedankliche, sprachliche oder handelnde Reaktionen. So entstehen permanent Gedankenketten und der Geist ist unruhig.

Solange diese Verbindung besteht, ist es schwer, den Geist zur Ruhe kommen zu lassen. Deshalb  ist es erforderlich, diese Verbindung zu unterbrechen. Wie kann dies geschehen? In dem Sutra 2.54 des achtgliedrigen Yogaweges zur Stille im Geist ist es das fünfte Element, das eine Lösung anbietet. Es wird pratyāhāra genannt: Die Sinne werden nach innen gerichtet. Wie geschieht das? Wir können die Augen schließen und die visuellen Sinneseindrücke reduzieren. Auch die Ohren, die Nase können wir verschließen. Dann richten wir die Aufmerksamkeit, die Bewegung des Geistes nach innen. Wenn äußere Geschehnisse, z.B. Geräusche auftauchen, merken wir wie stabil die Beziehung der Sinne und des Geistes nach außen ist. Mit der Zeit und mit regelmäßiger Übung gelingt es immer besser und die Verbindung der Sinne zum Geist wird immer freier (aklista). Die Umgebung stellt keine Ablenkung mehr da. Der Geist bleibt ruhig, was immer auch geschieht. In einem alten Text (Katha upanisad) ist der Geist die Zügel, mit deren Hilfe der Kutscher (Intellekt) die Sinne (Pferde) steuert. Ist der Kutscher unaufmerksam und läßt die Zügel schleifen, lassen die Pferde sich vom Weg ablenken. Mit pratyāhāra kommen die Sinne unter die Kontrolle des Geistes (2.55).

Wer dem Problem voll und ganz auf den Grund gehen will, kommt jedoch an den klesa nicht vorbei. Die klesa sind die fünf Triebkräfte, die den Geist und die Sinne steuern. Es handelt sich um unsere biologischen Lebens- und Überlebensinstinkte. Weil sie so stark mit unserer Existenz verbunden sind, können wir sie nicht ausschalten und sollten wir auch nicht, denn sie haben ihren Sinn. Wie sind sie mit dem Geist verbunden? Beide Begriffe- klista und klesa – haben dieselbe Wurzel: klebend, bindend, eng. Sie binden unseren Geist und lassen ihn nicht zur Ruhe kommen. Aber – so unser Sutra – es besteht die Fähigkeit und damit die Möglichkeit, nicht davon gesteuert zu sein, sondern frei davon, aklista. Was können wir tun?

Die klesa sind das Ego (asmitā 2.6), das Angst hat vor der Vernichtung, dem Tod ((abhinivesa 2.9) und sich deshalb an alles klammert (rāga 2.7), was äußere Sicherheit verspricht und gegen alles kämpft (dvesa 2.8), was real oder vermeintlich die Existenz bedroht. Der zugrundeliegende Irrtum (avidyā 2.4) ist zunächst der, dass es eine wirkliche äußere Sicherheit gibt. In jedem Moment des Lebens kann sich alles ändern – im kleinen und im großen. Der Irrtum besteht darüber hinaus darin, dass unsere Existenz auf dieses Ego – Körper und Geist – beschränkt ist. Wenn dem so ist dann endet unsere Existenz mit dem Tod.

Das ist nicht die Wahrheit sagt das Yogasutra und sagen viele spirituelle Quellen. Es gibt eine unsterbliche, ewige Existenz vor der Geburt dieses Ego und nach dessen Tod. Das ist die wirkliche Sicherheit. Wenn es etwas gibt, das unsterblich ist, hat es keine Angst vor dem physischen Tod, es muss sich an nichts klammern und gegen nichts kämpfen. Das führt zur Ruhe im Geist.

Die klesa  verunreinigen den Geist (ashuddhi 2.28). Yoga ist ein Reinigungsprozess (kriyā yoga 2.1/sauca 2.40), der den Geist von den klesa befreit. Dann leuchtet das wirkliche Wissen auf und die absolute Wahrheit wird erkannt.


Die Bedeutung von „vrittayah pancatayyah klista-aklista“ im Yoga

Die klesa könnten uns hoffnungslos zurücklassen. Wie können wir einen Geist, der auf derlei Art funktioniert zur Ruhe bringen? Das ist möglich, weil unser Geist nicht nur aus den Trieben besteht, dem Klein-und Stammhirn wie bei den Tieren. Tiere müssen ihrem Instinkt folgen: Ein Hund kann nicht entscheiden, ob er bei Gefahr, ob echt oder vermeintlich (Jogger, Briefträger), zubeißt. Sein Trieb läßt ihm keine Wahl. Das ist klista.

Anders wir Menschen. Wir haben neben unseren Trieben einen weiteren Bereich: den Neocortex. Der Bereich des Bewusstseins liegt hinter der Stirn. Die Inder bezeichnen den Bereich metaphorisch als Drittes Auge. Zufall? In diesem Bereich ist die Fähigkeit vorhanden, uns selbst zu beobachten, uns als handelnde Person, als Subjekt zu sehen, zu hinterfragen, zu analysieren, zu reflektieren und zu wählen, kurzum die Möglichkeit zu aklista. Mit Hilfe dieser Fähigkeit können wir unsere Muster und Strukturen erkennen und wenn sie den Geist unruhig werden lassen in eine andere Richtung lenken. Das ist die wichtige Botschaft dieses Sutra. Und es gleich zu Anfang des Yogasutra zu platzieren, liefert den Grund für den ganzen Weg überhaupt, auch für das Durchhalten, die Anstrengungen (abhyāsa 1.12). Und es rechtfertigt auch den Satz „heyam duhkam anāgatam 2.16: Zukünftiges Leid kann vermieden werden. Will heißen: Wir können aussteigen aus dem Teufelskreis, aus den klesa-karma (4.30). Und damit ist es möglich, völlig frei von den klesa zu werden. Der Geist wird still und damit kann die Tür aufgehen zu samādhi, dem Bewusstsein der Wirklichkeit.


Die Bedeutung von „vrittayah pancatayyah klista-aklista“ im Alltag

Wie können wir diesen Satz im Alltag nutzen?

  • Bewusstes Handeln

Zum einen sind wir sensibilisiert in der Gestaltung unseres Alltags, unserer Beziehungen und Aufgaben, ob wir aus einem Muster/Stereotyp/Impuls handeln oder ob wir uns unseres Handelns und der Situation, so weit es geht, bewusst sind. Dadurch lassen sich Fehler, Konflikte, Probleme öfter vermeiden oder im Nachhinein „heilen“.  „Nur wer weiß was er tut, kann tun was er will“ stellte Moshe Feldenkrais, Begründer der gleichnamigen Methode, fest. Man könnte ergänzen: Nur wer weiß was er warum tut, kann tun was er will. Je mehr das zu unserer „zweiten Natur“ wird, desto leichter und selbstverständlicher wird es. Wir erleben mehr inneren und äußeren Frieden, unser Geist wird bzw. bleibt ruhig.

  • Verständnis

Desweiteren schenkt uns dieser Satz ein besseres Verständnis nicht nur, aber auch für das eigene Verhalten und das anderer Menschen. Wir kennen bei uns selbst den Zustand der klesa und verstehen daher manche Verhaltensweise ohne mit Wut oder Verurteilung darauf reagieren zu müssen. Auch so erhalten wir unseren ruhigen Geist.

  • Der freie Wille

…ist Gegenstand vieler philosophischer und neurologischer Untersuchungen mit unterschiedlichen Ergebnissen. Die Frage ist, welche Freiheit? Wovon? Wofür? Grundsätzlich? Im Kontext?

Aus dem Yogasutra kann man lesen, dass es einen vollkommen freien Willen nicht gibt, aber auch keinen Determinismus. Auf der Basis der vāsanā (4.8), die wir in dieses Leben mitbringen, in heutiger Sprache die Gene und die Epigenetik, mystisch die Seele, bringen wir schon einen vorgeprägten Geist mit. Ob und wann die vãsanã sich zeigen, hängt von den „Umweltfaktoren“ ab, in die der Mensch geboren wird und in denen er lebt. Der Einfluss der Familie und des Umfeldes auf die Prägung des Kindes ist ein Wechselspiel. Ein Mensch kann nicht zu etwas geformt werden, was er nicht mitbringt. Andererseits können Fähigkeiten und Defizite durch die Prägung verstärkt werden.

Dazu kommen die klesa, die die Ursache für unser Handeln sind. Wir können sie unser Leben gestalten lassen oder wir versuchen, einen Umgang mit ihnen zu finden oder sogar zu reduzieren. Das ist allein durch Erkenntnis möglich. Je weniger uns die klesa beherrschen, je mehr wir uns von diesen psychisch-mentalen Unreinheiten reinigen können, desto mehr Freiheit entsteht in unserem Geist. Das meint im ersten Kapitel der Begriff „vairāgya“ –  das Loslassen (1.12). Vairāgya und aklista gehen Hand in Hand.

Den absolut freien Willen gibt es wohl nur in samādhi bzw. kaivalya

  • Verantwortung

Dieser Satz bedeutet auch, dass wir Verantwortung für unser Handeln tragen. Wir haben die Wahl und damit die Verantwortung. Auch unabhängig von Yoga. Wir haben die Fähigkeit zur Reflektion, Analyse, zu Mitgefühl und Verständnis. Das haben wir schon selbst erfahren. Wir können uns aber auch den klesa überlassen. Dazu müssen wir den Begriff nicht kennen, denn auch das kennen wir aus unserem Leben. Und auch das ist eine Entscheidung. Daraus wächst Verantwortung. „Niemand hat das Recht zu gehorchen…“, sagte die deutsch-jüdische Philosophin Hannah Arendt(1906-1975). Verantwortung lässt sich nicht delegieren.
Damit ist nichts über eine Schuldfrage ausgesagt, weder juristisch, noch moralisch oder religiös.

  • karma 1.24

Das Konzept von karma beruht auf dem Gedanken der Verantwortung für das eigene Denken, Sprechen, Handeln oder Nichthandeln. Nur wenn das Individuum Verantwortung hat, kann es auch ein „eigenes“ karma erzeugen. Karma zeigt sich nicht nur einer zukünftigen Existenz, sondern auch in diesem Leben. Es heißt nämlich, dass das karma, das in diesem Leben nicht ausgeglichen werden kann, in weitere Existenzen wirkt (2.12). Also ganz klar: Auch jetzt haben wir es mit karma zu tun. Handlungen aus den klesa führen regelmäßig zu neuem karma. Sie bleiben als bewusste oder unbewusste Eindrücke im Geist. Das sind die samskāra (1.18/1.50). Solange die Handlungen aus den klesa kommen, wird es neues karma geben. Der Yogaweg führt zu einer Abschwächung oder Reduzierung der klesa und somit der samskāra und des karma.

Wir haben die Möglichkeit, die Wahl, in welcher Weise wir unseren Geist nutzen wollen. Nur deshalb kann echte Veränderung und Transformation geschehen. Dazu gibt es eine kleine Geschichte von den zwei Wölfen. Ein einfaches, einprägsames Bild.


Durch den Übungsweg des Yoga lösen sich die Unreinheiten im Geist auf und die Weisheit leuchtet unendlich! 2.28

Audiodatei mit den Sanskritbegriffen