Samadhi ist noch nicht das Ende: kaivalya

Foto:jplenio_pixabay
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(Am Ende des Textes gibt es eine Audiodatei mit den Sanskritbegriffen)

Der Text heißt Yogasutra. Sutra bedeutet Vers und auch Faden. Der Text ist in einer bestimmten Versform geschrieben. Die Verse sind durch einen „roten Faden“ verbunden. Durch diesen roten Faden sind die einzelnen Verse zu verstehen. Das erste Kapitel ist mit samādhi pāda überschrieben. Das bedeutet der Weg zu samādhi. Yoga und samādhi haben also etwas miteinander zu tun. Es handelt sich um eine Funktionsweise des Geistes, die sich von der uns bekannten Funktionsweise unterscheidet. Üblicherweise ist unser Geist ständig in Bewegung. Yoga bedeutet, dass die „Bewegungen“ (vritti) des Geistes zur Ruhe kommen (nirodha 1.2). Dann ist unser Geist im Zustand von samādhi. Er ist still und stabil und dann taucht etwas anderes im Bewusstsein auf. So wird es in den ersten drei Kapiteln beschrieben.

Yoga ist also samādhi. Ist damit nicht alles gesagt und könnte der Text nicht an dieser Stelle enden? Ja, wenn da nicht noch mehr wäre: kaivalya.

  • Was ist kaivalya?
  • Der Weg zu samādhi als Voraussetzung für kaivalya
  • Was sind die Schritte dieses Veränderungsprozesses?
  • Die Vertiefungszustände von samādhi bis zu kaivalya
  • Das Herzstück von Yoga im dritten Kapitel vibhūti pādasamyama
  • Die Vertiefungszustände von samādhi 3.5
  • Fazit

Was ist kaivalya?

Kaivalya wird beschrieben als ein Bewusstseinszustand, der außerhalb der Funktionsweise unseres Geistes liegt. Deshalb gibt es dafür keine geeigneten Worte. Das Yogasutra und auch andere Texte berichten von Erfahrungen eines solchen Zustandes, können jedoch nur wenig konkretes darüber aussagen. Sie beschreiben verschiedene Aspekte, um eine Idee zu geben für Menschen, die es wissen wollen. Aber der Zustand kann nur durch eigene Erfahrung erkannt werden. Damit beginnt der Text: yoga anusāsam (1.1). Das heißt: Yoga ist Erfahrung, ein Prozess, der nicht intellektuell erkannt werden kann. Wissen hilft zwar, aber Yoga selbst ist nur als Erfahrung möglich.

  • Glückseligkeit – ānanda 1.17

In diesem sutra wird in wenigen Worten der Prozess zu kaivalya beschrieben. Es ist der Zustand von vollkommener Glückseligkeit, beruhend auf völliger innerer Freiheit. Es ist ein Prozess, in dem sich das Wissen in Schritten (anugamāt) vertieft. Es ist das Wissen um das Ich und seine Identifikationen (sārūpyam 1.4). Das ist der Prozess von vitarka (grob) zu vicara (fein). Durch diese Erkenntnisse wird das Ich im Sinne von Ego immer mehr als das erkannt was es ist: eine Instanz, die sich immer wieder neu erschafft, indem es alles nicht nur als mein/zugehörig betrachtet, sondern sich damit identifiziert (ich bin glücklich, ich bin traurig, wütend). Dabei handelt es sich immer um Flüchtiges und Veränderliches (anitya 2.5). Im Laufe des Prozesses etabliert sich mehr und mehr eine beobachtende Instanz, die wahrnimmt, wie das Ich sich erschafft, erhält und ausdehnt. In dem Prozess verändert sich das Ich von demjenigen, der sich identifiziert und damit abhängig ist zu einem feinen, subtilen Ich (asmitā), dass frei von den Identifikationen ist und dem Selbst nahe kommt. Die Funktionsweise des Geistes, ein Ich zu produzieren, zu erschaffen nimmt ab. Es ist zwar alles noch da, aber ohne Identifikation. Dann erfährt es den Zustand von Glückseligkeit.

Aber auch diese Beschreibung ist limitiert, denn es ist die Frage, ob wir ānanda wirklich verstehen oder ob wir nicht unsere bisherigen Erfahrungen von Glücksgefühlen und -erlebnissen damit gleichsetzen. Diese Gefühle sind Gefühle unseres Egos und abhängig von bestimmten Bedingungen. Kaivalya und ānanda sind bedingungslos, jenseits unseres Ego.

  • „Der andere“ – anya 1.18

Im ersten Kapitel des Yogasutra wird der Zustand von kaivalya als „der andere“ – anya (1.18) bezeichnet, weil er intellektuell nicht verstanden, nicht beschrieben, nicht definiert werden kann. Deshalb heißt es nur anya – der andere. Worte würden uns nur verwirren und auf einen falschen Weg bringen, weil sie auf die Vorstellung unseres Geistes begrenzt sind. Eine andere Aussage ist: neti-neti. Es ist nicht dies, es ist nicht das. Wir können nur beschreiben, was es nicht ist. Und so wird klar, warum das Yogasutra mit yoga anusāsanam beginnt: Yoga ist Erfahrung. Denn unser Intellekt kann den Zustand nicht verstehen. Er kann nur unmittelbar erlebt werden.

  • Freiheit von Täuschung und Bindung-avidyā und samyoga 2.25

Der Begriff kaivalya taucht zum ersten Mal im zweiten Kapitel auf im Zusammenhang mit der Funktionsweise unseres Geistes. Kaivalya wird beschrieben als die Freiheit von der Täuschung unseres Ego (2.25). Was ist die Täuschung und was die Realität? In den vorhergehenden sutren wird unser Ego beschrieben. Dieses veränderliche Ego – z.B. ist das kindliche Ego ein anderes als das erwachsene – hält sich jedoch für das beständige, dauerhafte und wirkliche Ich (avidyā 2.5). Weil es so veränderlich ist, sucht es nach Sicherheit und kämpft dafür: durch Gier und Festhalten –rāga 2.7 (nicht nur materiell, auch Vorstellungen, Überzeugungen) oder durch Abwehr und Verdrängen-dvesa (2.8). Es braucht immer wieder Bestätigung. Es leidet auch unter Angst (abhinivesa 2.9), weil es die Veränderung (z.B. das Altern, Krankheit) nicht verhindern kann, obwohl es sich anstrengt. Alles das wird klesa (2.3) genannt und hält den Geist ständig in Bewegung. Das ist der veränderliche, sprunghafte, gestörte Zustand im Alltag-vyutthita citta. Weil er ständig in Bewegung ist, kann das wirkliche unveränderliche Selbst und der Zustand von ānanda nicht erfahren werden. Das Ego weiß nichts vom Selbst und hält sich für dieses Selbst. Als wesentliche Ursache dafür wird diese Verwechselung oder Täuschung gesehen (avidyā 2.4). Daraus entsteht samyoga (2.25)-die Bindung an das Ego. Kaivalya wird beschrieben als der Zustand in dem diese Täuschung aufgehoben ist und die Unterscheidungsfähigkeit – viveka kyate (2.26) zwischen Ego und Selbst gegeben ist.

  • Der Geist (citta) als die Reflektion des Selbst (purusa) 3.55

Desweiteren wird kaivalya als einen Bewusstseinszustand beschrieben, in dem der Geist das innere Selbst reflektiert. Wie kann das verstanden werden? Der Geist ist nicht das Denkorgan (manas) sondern seine Eigenschaft- das Denken. Es sind Bewegungen (cittavritti 1.2-1.5). Dieses Denken dreht sich nicht nur permanent um das Ego, es identifiziert sich mit den Gedanken. Deshalb heißt es, es nimmt dessen Form an (vritti sārūpyam 1.4.- rūpa heißt Form). Es denkt nicht „ich habe Gedanken“, sondern „ich denke, ich bin diese Gedanken“, „ich bin was ich denke bzw. denke zu sein“. Citta spiegelt also die klesa wider. Es reflektiert diese Gedanken üblicherweise. So bleibt es in der Täuschung.

Wenn der Geist still ist (nirodha 1.2), im Zustand von yoga bzw. samādhi, dann gibt es keine Bewegungen mehr. Folglich kann citta nicht die üblichen Bewegungen widerspiegeln. Dann wird das Selbst (drasta 1.3) sichtbar und citta reflektiert dieses Selbst. Das ist kaivalya. Der Bewusstseinszustand von samādhi ist die Voraussetzung für kaivalya.

  • Das vierte Kapitel kaivalya pāda- citta bleibt beim Selbst 4.26

Das vierte Kapitel befasst sich mit kaivalya. Hier heißt es, dass die Unterscheidungsfähigkeit zwischen Ego und Selbst so grundsätzlich, so tief ist (viveka-nimnam) ist, dass citta aufgrund der inneren Freiheit immer mehr zum Selbst tendiert (prāk bhāra). Es ist nicht mehr an den anderen Dingen interessiert. Das citta ist still von den anderen Bewegungen und den klesa. Die Bewegungen entstehen jetzt aus dem Selbst und bleiben stabil beim Selbst. Dann ist das citta frei von den klesa. Es ist nicht mehr mit ihnen identifiziert und daher auch nicht mehr mit dem Leid. Das ist ānanda-vollkommene Glückseligkeit.

Soweit zur Beschreibung von kaivalya. Es bleibt ein Geheimnis, das nicht beschrieben, nur entdeckt werden kann. Das Yogasutra hat den Anspruch uns dorthin zu führen. Welche Mittel, welche Wege zeigt es uns?


Der Weg zu samādhi als Voraussetzung für kaivalya

Kaivalya entwickelt sich aus samādhi. Jedoch ist samādhi eine große Herausforderung für unser citta, unseren Geist. Unser unbeständiger (viksepa) Geist besitzt nicht die Fähigkeiten und Voraussetzung den Prozess von samādhi zu erfahren und zu kaivalya zu gelangen. Deshalb bietet uns das Yogasutra einen Übungsweg, durch den der Geist sukzessive (krama 3.15) die Fähigkeiten entwickeln kann. Im dritten Kapitel wird der Weg folgendermaßen zusammengefasst (3.9):

Der übliche Zustand eines unreflektieren Geistes ist der sprunghafte (vyutthāna), leicht ablenkbare Zustand. Der Geist kann sich nicht auf ein Ziel fokussieren. Jede neue Erfahrung, ob angenehm oder unangenehm erzeugt eine Bewegung (vritti) im Geist. Jedes vritti hinterläßt einen Eindruck im Geist- ein samskāra. Die Sprunghaftigkeit des Geistes gründet auf den vyutthāna samskāra, den im Unterbewusstsein gespeicherten Erinnerungen der Unruhe. Wenn etwas erlebt wird, was sie in das Bewusstsein lockt, „triggert“, werden sie aktiv. Der so leicht störbare Zustand wird im ersten Kapitel im sutra über die Hindernisse (antarāya 1.30/1.31) als citta viksepa bezeichnet. Diese Hindernisse blockieren den Weg zu samādhi. Dieser Zustand wird auf dem Übungsweg weniger (abhibhava).

Nicht jedes vritti erzeugt neue Unruhe. Es gibt zweierlei Kategorien (1.5). Die vritti können klista, das heißt „bindend“ sein. Das sind die vrittis, die immer neue Identifikationen erzeugen. Sie erzeugen neue störende samskāra. Vritti können auch aklista sein, ohne Bindung. Deshalb können durch das regelmäßige Üben samskāra der Stille erzeugt (nirodha samskāra) werden. Im Prozess der Meditation (nirodha ksana citta anvaya) erzeugen die vritti der Stille neue samskāra der Stille, die dann wieder neue vritti der Stille hervorbringen. Durch beharrliches Üben werden sie immer mehr (prādurbhāva). Mit jedem Übungsschritt (krama) werden Veränderungen (parināma anyatve) angebahnt (3.15).
Die allmähliche Reduzierung der störenden Erinnerungen und die Zunahme der Erinnerungen der Stille im Geist führt zu einer Veränderung der Funktionsweise (nirodha parināma). Diese Veränderung war seinerzeit eine Erfahrung, die man mittlerweile mit bildgebenden Verfahren beobachten kann.

Es gibt einen Vergleich des Gärtnerns mit der Meditation. Das Unkraut im Garten (klesa, vritti) wird immer weniger, je mehr Blumen (vritti der Stille) gesät werden, die sich wiederum aussähen bis das Unkraut keinen Raum mehr hat.


Was sind die Schritte dieses Veränderungsprozesses?

Im zweiten Kapitel heißt es, dass durch kriyā yoga (2.1) die klesa reduziert werden. Die Täuschung nimmt ab, die Notwendigkeit der Aktivitäten aus Angst, Gier und Abwehr nimmt ab. Der Geist wird stiller. Das anfänglich dominierende Ego wird schwächer. Gleichzeitig nimmt der Zustand von samādhi zu.

1.ekāgratā / dhāranā (3.11/3.12 /3.1)

Die Veränderung geschieht allmählich. Es ist ein Prozess. Wenn der Geist allmählich weniger sprunghaft und ablenkbar ist, ist es möglich ihn zu fokussieren. Das Yogasutra bezeichnet diesen Zustand als ekā-gratā d.h. ein-punktig (3.11/3.12). Der Geist kann ausgerichtet werden. Er ist immer weniger (ksaya) mit vielen Themen oder Objekten beschäftigt (sarvārthatā) und zunehmend (udaya) auf ein Objekt (ekāgratā) ausgerichtet. Dieser Zustand wird auch als dhāranā (3.1) bezeichnet. Der Geist ist so gesammelt, dass er auf ein Thema ausgerichtet werden kann. Es ist der Beginn von yoga, von samādhi, von Meditation. Dazu bedarf es immer wieder der Bemühung. Immer wieder wird der Geist durch samyoga (2.17/2.23)- die Verbindung von Geist-Sinnesorgane- äußere Reize- oder durch die klesa und samskāra abgelenkt. Ist der Geist im Zustand von ekāgra wird er auch der gesammelte, stabile Geist genannt- samahita citta.

Wir brauchen immer wieder abhyāsa (1.12/1.13), die Fähigkeit, immer wieder den Geist zu sammeln und zu dem Thema zurückzukehren und tapas (2.1) die Leidenschaft, ein Element von kriyā yoga und den niyama (2.43), die uns die Kraft gibt für den Prozess, weil die „Einpunktigkeit“, die Konzentrationsfähigkeit uns immer wieder entgleitet.

2. dhyāna (1.3/3.2) und samādhi (3.11)

Wenn durch kontinuierliches Üben die nirodha-samskāra zunehmen, die klesa abnehmen und damit die Fähigkeit  des Geistes, für eine sehr lange Zeit fokussiert zu bleiben zunimmt, nennt man das dhyāna. Die Stille im Geist nimmt zu, die Phasen werden länger und intensiver. Auch in dhyāna bedarf es der bewussten Anstrengung, denn der Zustand ist noch nicht stabil. Und es gibt ein Ich (ahamkāra) das sich anstrengt. Wenn dieser Zustand von dhyāna für eine sehr lange Zeit bestehen kann, der Prozess sehr tief wird, wird das samādhi genannt. Dann ist ein Gewahrsein, ein Verständnis, ein Wissen da und das Selbst erlebt verschiedene subtile Zustände.

Der Prozess- parināma- ist eine Transformation des Geistes von viksepa zu dhāranā, zu dhyāna bis zu samādhi. Bis zu diesem Zustand gibt es ein Ich, das sich bemüht und das sich anstrengen muss, weil es eine Tendenz gibt, immer wieder herauszufallen. Wenn der Geist in nirodha ist, gibt es kein Ich (ahamkāra) mehr, dass sich bemühen kann. Das ist ein natürlicher Zustand ohne Anstrengung.

Die Veränderung im Zustand (citta bhūmi) findet also im Ich statt: Zuerst gibt es ein Ich, das sich mit allem Veränderlichen (anitya 2.5) identifiziert und sich dessen nicht bewusst ist. In dem Prozess des Erkennens (viveka 2.5) gibt es ein subtileres Ich, das alles beobachten kann, sich anstrengt und ein Macher / eine Macherin ist. Damit ist es möglich, sich zu konzentrieren und die Konzentration immer länger beizubehalten. Es ist fähig zur Meditation. Der Fokus kann immer feiner werden. Auch dieses Ich wird immer schwächer und es bleibt ein „Ich-Gewahrsein“ (asmitā).


Die Vertiefungszustände von samādhi bis zu kaivalya

Wie gelangen wir konkret zu samādhi und zu kaivalya? Der Wandel im Geist geschieht schrittweise (viniyoga 3.6). Die einzelnen Schritte werden auch als Glieder bezeichnet.

  • Die „äußeren“ Glieder (bahiranga-bahir:außen, anga:Glieder) im zweiten Kapitel sādhana pāda

Im zweiten Kapitel sādhana pāda- der Übungsweg- wird der Weg zu samādhi als achtgliedriger Weg bezeichnet, als astau angāni (2.29). As heißt acht und anga sind die Glieder. Hier taucht der Begriff der „Glieder“ zuerst auf. Unter diesem Begriff werden die Mittel oder Methoden zusammengefaßt, die den Veränderungsprozess im Geist vom Zustand eines unruhigen, ständig umherschweifenden Geistes zu einem stillen Geist bewirken sollen. Diese acht Aspekte haben die Menschen aus ihrer Erfahrung als wichtig und wirksam erachtet. Sie waren nicht die Ersten, die den Prozess so beschreiben und das Yogasutra (ca. 250 Jahre vor unserer Zeitrechnung) ist nicht der erste Text. Viele Jahrhunderte vorher und in verschiedenen Varianten, z.B. in den Veden – auch der Buddhismus hat sie übernommen- wurden diese Elemente als der Weg zu innerer Ruhe erachtet. Das Yogasutra fasst also längst vorhandene Erfahrungen und längst bekanntes Wissen zusammen. Es war schon zur damaligen Zeit nicht neu. Das Kapitel endet mit dem fünften Glied, pratyāhāra (2.54/2.55). Hier endet der „Übungsweg“ – zunächst. Warum werden  die drei letzten Glieder nicht hier aufgeführt?

Die Antwort findet sich im dritten Kapitel. Dort heißt es, im Vergleich zu den Gliedern im zweiten Kapitel (pūrvebhyah) seien diese letzten drei (traya) die „inneren“ Glieder- antaranga (3.7). Anta heißt innen. Diese inneren Glieder oder Mittel oder Instrumente sind dhāranā (3.1), dhyāna (3.2), samādhi (3.3) und werden unter dem Begriff samyama (3.4) zusammengefaßt. Die Schlussfolgerung: Wenn dies die inneren Glieder sind, ergibt sich daraus, dass die vorherigen die äußeren Glieder sind. Explizit werden sie nicht so genannt.

Wie unterscheiden sie die inneren von den „äußeren“ Gliedern? Mit den Begriffen äußere und innere Glieder umschreibt der Text unterschiedliche Schwierigkeitsgrade. An anderer Stelle wird von grob und fein gesprochen. Diese „äußeren“ Glieder im zweiten Kapitel sind intellektuell relativ einfach zu verstehen. Der Geist hat einen einfachen Zugang zu den yama wie Gewaltlosigkeit, Ehrlichkeit usw., zu den niyama wie Reinheit, Zufriedenheit usw. Auch die Körpererfahrungen – āsanaund Atemübungen –prānāyāmasind leicht zu verstehen und auch relativ leicht umzusetzen für unseren Geist. Sie bereiten den Geist auf den inneren Prozess vor. Sie sorgen dafür, dass er dazu fähig ist, denn der unbeständige Geist wäre nicht dazu in der Lage.

Die Wirkung dieser Glieder ist dhyāna. In dem Zusammenhang wird es im zweiten Kapitel erwähnt. Es zählt jedoch zu den inneren Gliedern. Als letzter Aspekt zählt pratyāhāra – das Zurückziehen der Sinne-zu den äußeren Gliedern. Das Zurückziehen der Sinne beschreibt den Prozess, dass der Geist frei wird von der Gewohnheit oder Notwendigkeit jedem äußeren Reiz zu folgen. Nur so kann er die Aufmerksamkeit nach innen richten, sonst zieht es ihn immer wieder nach außen. Somit ist diese Fähigkeit eine wichtige Voraussetzung für die Transformation des Geistes von viksepa (unruhig, instabil, wechselnd) zu nirodha (still) und für den Prozess von samādhi.

Folglich gehören die äußeren Glieder auch nicht zu Yoga. Der Prozess von Yoga beginnt im dritten Kapitel mit den inneren Gliedern. Dies macht einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Kategorien.


Das Herzstück von Yoga im dritten Kapitel vibhūti pāda- samyama

  • Die „inneren“ Glieder im dritten Kapitel vibhūti pāda 3.4

Mit den inneren Gliedern dhāranā (3.1), dhyāna (3.2), samādhi (3.3) beginnt Yoga. Sie betreffen subtile Funktionen des Geistes. Der Geist muss schon geschult und vorbereitet sein durch die vorherigen Glieder. Die Praxis hat, wie im zweiten Kapitel beschrieben, die Natur des Geistes bereits soweit beruhigt, dass es möglich ist, ihn bewusst auszurichten, ihm einen Fokus zu geben. Hier beginnt die innere Reise von samādhi zu kaivalya. Es handelt sich nicht um von einander zu trennende Glieder im eigentlichen Sinne. Vielmehr handelt es sich um die Intensivierung des Prozesses der Stille im Geist, beginnend mit dhāranā. Wer samyama meistert, erlangt die vollständige Erkenntnis (prajnā āloka 3.5). Das ist kaivalya.

  • Die äußeren Glieder im dritten Kapitel 3.8

Unmittelbar nach dem sutra 3.7 in dem diese drei (traya) als innere Glieder bezeichnet werden, kommt schon im nächsten sutra 3.8 eine Einschränkung. Im Vergleich zu einer weiteren Vertiefung sind sie selbst die äußeren Glieder. Die Vertiefung wird nirbija samādhi genannt. Damit bezieht sich der Text auf das erste Kapitel, das den ganzen Prozess von samādhi bereits enthält. Hier wird der Prozess quasi als Zusammenfassung (3.9) als parināma – wiederholt.


Die Vertiefungszustände von samādhi 3.5

Im dritten Kapitel heißt es, der Zustand, wenn citta, das Ego verschwunden ist, wird samādhi genannt.

Die Vertiefungszustände von samādhi werden im ersten Kapitel, das alle wichtigen Aspekte des Prozesses bis hin zu kaivalya beschrieben. Dieser Überblick hat den Vorteil, dass Menschen, die bereits auf dem spirituellen Weg sind und die Übungen des sādhana pāda nicht benötigen, direkt zum Ziel kommen.

Mit der Aussage, yoga cittavritti nirodha (1.2) ist der tiefste Zustand von samādhi ausgedrückt. In diesem Zustand ist das Bewusstsein, das Selbst (drastā 1.3) erreicht. Es ist ein natürlicher Zustand ohne Bemühen. Dieser Zustand ist am Anfang noch nicht stabil und dauerhaft. So beschreibt das erste Kapitel die verschiedenen Stadien dieses immer tiefer und stabiler werdenden Zustands:

  • samprajnāta samādhi 1.17 und samāpatti 1.41

Die Erkenntnisse werden in der Meditation nach und nach feiner, subtiler, tiefer: Von einem oberflächlichen / grobstofflichem Wissen (vitarka) wandelt der Geist zu einem tiefgreifenderen/ feinstofflichen Wissen (vicara 1.17). Dieser Prozess wird samāpatti (1.41) genannt: Von savitarkā (grobstofflichen Objekten/Wissen mit Worten 1.42) zu nirvitarkā (nir: ohne -hier Worte 1.43) zu savicārā (feinstofflichen/subtilem Wissen mit Worten) und nirvicārā (dem feinstofflichen, ohne Worte 1.44). Die Erkenntnis kann immer subtiler werden und dann passiert etwas und selbst das Ich verschwindet. Es ist kein Ich mehr da, das sich seiner selbst bewusst sein kann. Das was bleibt ist das Unbenennbare (alinga 1.45). Das ist der letzte Schritt von nirodha zu kaivalya. Dieses Unbenennbare ist das Selbst als das subtilste (ātma 1.47). Es ist jenseits des Geistes und kann nicht definiert, beschrieben, verstanden und benannt werden. Dieser Zustand wird auch citta prasādah (1.47) genannt. Der Zustand des Geistes ist der völliger Klarheit.

Hier wird die ganze innere Reise vom zerstreuten, unbeständigen Zustand (vyutthitha) im Geist mit einem starken Ego – ahamkāra, das sich anstrengt zu einem immer schwächeren Ego bis hin zu einem Ichsein-asmitā, beschrieben. Dieses Gewahrsein von Ich, das im Prozess auftaucht, verschwindet wieder, wenn wir es willentlich erfahren oder festhalten wollen. So subtil ist es. Und die Reise geht darüberhinaus zu nirodha und kaivalya.

  • sabija-samādhi 1.46

Diese vier samāpatti werden als sabija-samādhi bezeichnet (1.46).

Wird die Aufmerksamkeit aufrecht erhalten, verschwindet das Ego, das Ich, aber es gibt noch ein subtiles Ich-Gewahrsein, asmitā. Dieses Ich ist sich noch bewusst, wobei der Zustand immer feiner, subtiler wird. Es ist viel feiner als das Ego. Es erfährt den Zustand von ānanda-Glückseligkeit und vollkommene Erkenntnis – samprajnāta samādhi.

Weil es noch ein subtiles Ich-Gewahrsein gibt, wird es auch sabija-samādhi (1.46) genannt: ein samādhi, dass noch den Samen (bija) der klesa enthält. Die Samen können von Zeit zu Zeit aktiv werden und daher ist der Zustand von samādhi noch nicht stabil. Es gibt den tiefen Zustand der vollkommenen Erkenntnis, aber er ist wegen der Samen noch nicht dauerhaft. In diesem Zustand ist daher immer noch mit einem „Rückfall“ in das Ego zu rechnen. Bis hierher kann man den Weg noch beschreiben.

  • nirbija-samādhi 1.51 /3.8 – asamprajnāta samādhi

Die Silbe nir- bedeutet „ohne“. Es ist ein Zustand jenseits-ohne Worte. Darüber kann man nichts mehr sagen. Dies ist der Zustand von samādhi, in dem es auch keine Samen mehr gibt. In dieser Tiefe ist der Zustand stabil und unumkehrbar. Dies ist die höchste Stufe von samādhi. Wenn es keine Samen mehr gibt, also keine Spuren von Ego, kann es auch kein Ich mehr geben. Da es kein Ich gibt, kann es auch keine Bemühung, keine Anstrengung, keine Übung mehr geben. Das Ich ist verschwunden und es bleibt nur noch das reine Bewusstsein oder anya-was immer es auch ist. Das weiß nur jemand, der diesen Zustand erfahren hat. Hier beginnen die innersten Glieder, zu denen sich samyama- dhāranā (3.1), dhyāna (3.2), samādhi (3.3)- wie äußere Glieder (3.8.) verhalten. Das ist der Zustand von nirodha. Danach geschieht das Letztendliche, über das nichts mehr gesagt werden kann-kaivalya.

Bis zu nirodha gibt es noch einen Erfahrenden, ein Ich, das fokussiert, beobachtet und Objekte, die immer subtiler werden bis zum Ichsein. In ekāgra ist dieses Ich noch näher bei dem der sich anstrengt. Nach und nach werden alle diese Schichten des Ich durchschaut und erkannt und das Ich ist ohne Anstrenung-nur noch Gewahrsein (asmitā). Das ist der Prozess von samādhi, der tiefer und tiefer wird. In nirodha gibt es auch dieses Ich nicht mehr.

  • prasānta vahita 3.10

Durch wiederholtes Üben wird der Zustand dieser Stille im Geist (nirodha 3.9) erreicht (samskārat). Diese völlige Stille im Geist führt in den Zustand, der prasānta vahita genannt wird. Der Geist ist im tiefen Zustand von samādhi – kein Ich, das etwas wahrnehmen kann und kein Objekt, das wahrgenommen werden kann- die Stille im Geist. Diese Stille ist aber nicht statisch, „tot“. Sie ist fließend- von Moment zu Moment. Das ist kaivalya.


Samādhi ist kein Fixpunkt, sondern ein sehr langer Prozess durch den der Geist immer feiner und subtiler wird. Er durchläuft eine Transformation, die zu Anfang eine langes, ununterbrochenes Engagement (abhyāsa) braucht, damit aus dem unruhigen, instabilen, ungelenkten, von den klesa getriebenen Geist ein immer ruhigerer Geist wird, der in der Lage ist, sich selbst zu beobachten und die Aufmerksamkeit nach innen zu bringen (pratyāhāra 2.55). Dann muss er fähig werden, sich zu fokussieren (dhāranā 3.1). Das können am Anfang auch äußere Objekte sein, dann immer feinere-der Atem bis hin zum Ich. Die Schichten des Ich und seine Funktionsweise werden immer mehr erkannt und der Geist wird frei davon. Dann braucht es weiterhin eine regelmäßige Praxis, damit die Konzentration immer länger beibehalten werden kann dhyāna (3.2). Wenn der Fokus dann sehr lange bestehen bleiben kann wird der Prozess samādhi (3.3) genannt. Und dieser Prozess wird auch immer tiefer. Bis hierhin können wir üben, etwas tun, aber dann geschieht etwas, was wir nicht mehr tun können. Da gibt es nur noch das Selbst. Das ist kaivalya. Es ist zunächst noch nicht stabil, aber wenn der Prozess immer tiefer wird, wird dieser Zustand unumkehrbar.


Fazit

Der Zielzustand liegt für uns trotz der Beschreibungen im Nebel. Wir können -vielleicht- ahnen, was es sein könnte. Yoga anusāsanam- Yoga ist Erfahrung und damit die innere Forschungsreise zu unserem Ich, woher es kommt und darüberhinaus. Das was jenseits liegt, ist überall, unbegrenzt. Es ist also auch in uns und das ist der Grund, weshalb und was wir erforschen können. Es ist  unsere Aufgabe und das Ziel jeder Praxis- im Alltag mit den yama und niyama, in der Praxis von  āsana und prānāyāma den Zustand von samahita citta- dem stabilen, ausgerichteten Geist- zu konsolidieren. Indirekt verändern wir über die Praxis auch die samskāra, die Triebkräfte unseres Geistes. Wir nennen es heute somato-psychisch. Die Yogapraxis kann uns bis samādhi bringen, bis vor die Türschwelle. Die Erfahrungen dahinter kennen wir nicht.

Was wir aber sicher wissen ist, dass die Praxis unseren Geist und seine Funktionsweise verändert. Damit ist zu rechnen. Und so werden wir bewusster und klarer auf uns selbst und die Welt um uns herum schauen. Was sonst geschieht bestimmen nicht mehr wir mit unserem Geist und können uns dem was geschieht mit Vertrauen (shraddhā 1.20) hingeben (īsvarapranidhāna 2.1).

Audiodatei mit den Sanskritbegriffen