(Am Ende des Textes gibt es eine Audiodatei mit den Sanskritbegriffen)
Die ersten beiden antarāya vyādhi, das Unwohlsein und die Krankheit, und styāna, die Trägheit, haben außer einem psycho-mentalen Aspekt auch einen starken körperlichen Bezug. Das dritte Hindernis samsaya, ist ein rein psychisch-mentales Hindernis. Es ist die Tendenz zum Zweifeln. Nicht jeder Zweifel muss ein Hindernis sein. Mit samsaya ist eine bestimmte Art des Zweifelns gemeint.
Zweifeln ist eine Fähigkeit und eine Tätigkeit des Geistes, ein cittavritti. Vritti, d.h. die Bewegungen des Geistes sollen zur Ruhe kommen und der Geist in den Zustand von nirodha (YS 1.2). Erst dann kann unser Selbst (drasta YS 1.3), unsere wirkliche Essenz, das unendliche Bewusstsein hervortreten und wir können aus diesem freien Bewusstsein leben. Ein Leben aus diesem Bewusstsein befreit uns von dem Leid, das wir aus unseren Konditionierungen und Trieben, den klesa immer wieder hervorbringen. Der normale Zustand unseres Geistes ist aber nicht der nirodha-Zustand, sondern der von viksepa- der Unruhe, der leichten Ablenkbarkeit und dem Mangel an Konzentration. Deshalb brauchen wir einen Weg, der uns immer mehr von viksepa zu nirodha bringt.
Aus der Sicht von Yoga bringt das ständige Zweifeln den Geist in Unruhe und vor allem ist es immer wieder ein Hindernis, weil es Entwicklung blockiert.
Was ist Zweifel?
In dem Wort Zweifel steckt die Zahl zwei, die Dualität. Wer zweifelt, ist un-eins mit sich. Der Geist schwankt zwischen zwei oder mehreren unterschiedlichen, mitunter gegensätzlichen, Standpunkten und ist nicht in der Lage, sich für eine der Alternativen zu entscheiden. Der Zweifel verhindert die Einheit. Er ist ist in vielen Zusammenhängen möglich: Bedenken an der Richtigkeit einer Entscheidung, eines Sachverhaltes, einer Tat, einem Ziel, einer Vorgehensweise, an den eigenen Fähigkeiten, denen anderer oder an deren Motivation und Intention.
Der Zweifel beinhaltet Ungewissheit, Unsicherheit oder auch Misstrauen. Wer zweifelt stellt etwas in Frage. Damit wird ein laufender Prozess angehalten und gerät ins Stocken. Samsaya ist ein Zustand der Ungewissheit, der es unmöglich macht, eine Entscheidung zu treffen, sei es freiwillig, aus Unwissenheit oder aus psychologischer Schwäche.
Zweifel erschüttern und zerstören, sie zerstreuen den Geist und die Energie. Die Zerstreuung von Energie ist Zweifel.
Guter Zweifel-schlechter Zweifel?
- Im Alltag
Es heißt, es gäbe nur zwei Arten von Menschen, die nie zweifeln: Fanatiker und Selbstverwirklichte („Erleuchtete“).
Es gibt eine konstruktive Art zu zweifeln, die uns im Alltag und im Leben weiterbringt. Dieser Zweifel entsteht aus einem klaren Geist, der etwas noch nicht erkannt, erfasst oder verstanden hat. Aus diesem Nicht-wissen heraus ist er unsicher und zweifelt an der Situation, der Einschätzung oder dem weiteren Vorgehen. Diese Unruhe im Geist ist produktiv, denn der Geist ist offen für Möglichkeiten, stellt Fragen und sucht nach einer Gewissheit, aus der er handeln kann. Ein solcher Zweifel ist ein Motor, sich mit dem Thema zu beschäftigen und tiefer einzudringen. Er zeigt uns, dass noch etwas fehlt oder wir noch nicht alles verstanden haben und worum wir uns noch kümmern oder bemühen sollten. Bestimmte Dinge müssen klar sein, es muss in die richtige Richtung gehen, bevor wir agieren.
Auch die Skepsis zählt zu den Zweifeln. Sie ist eine misstrauische Vorsicht. Wir prüfen noch mal nach, wägen die Bedenken ab und schauen nach möglichen Problemen. Zweifeln an sich ist erst mal gesund, solange es nicht zu lange dauert oder in ein selbstzerstörerisches Grübeln mündet.
- Im Yoga
Darf es im Yoga nun gemäß Yogasutra keinen Zweifel geben, weil er als Hindernis gesehen wird?
Zu Beginn des Yogaweges gibt es verschiedene Ungewissheiten und Zweifel. Der Zweifel beginnt bereits mit der Auswahl des Yoga-oder Meditationskurses und des Lehrers/der Lehrerin. Welcher Kurs ist der richtige von den vielen Möglichkeiten? Je mehr Webseiten man liest, desto verwirrender kann es werden. Die Zweifel, Unsicherheit und Verwirrung beruht auf dem bisherigen Nichtwissen. Man kann sie nutzen, um sich in dem Bereich Klarheit zu verschaffen, indem man durch Nachfragen oder eine Probestunde die Zweifel klärt. Dann haben die Zweifel ihren Sinn gehabt, weil sie zu neuen Erkenntnissen und Entwicklungsmöglichkeiten geführt haben.
Während der Praxis können wir zweifeln, ob das āsana richtig ausgeführt wird oder ob wir richtig atmen oder richtig meditieren. Der Zweifel gründet erstens auf unserem Konzept, dass es nur richtig oder falsch gibt und wir es richtig machen wollen, es zweitens auf das Ergebnis ankommt und drittens auf der fehlenden Körpererfahrung. Deshalb soll der Lehrer/die Lehrerin uns sagen, ob wir die Übung richtig machen und uns gegebenenfalls korrigieren. Wir lernen mit der Zeit, dass es auch andere Ansätze gibt. Es kommt nicht darauf an, eine bestimmte äußere Form zu erreichen, sondern eine bestimmte innere Qualität von Leichtigkeit und Entspannung. Auch ist der Weg in das āsana Teil der Übungserfahrung, in der wir über unseren Körper lernen und nicht nur die Endhaltung das Wichtigste ist. Und je mehr Gefühl wir für den Körper entwickeln, desto mehr fühlen wir, ob wir ein āsana so ausführen, wie es gemeint ist. Die Zweifel werden also im Laufe der Zeit weniger je mehr wir üben.
Auch weiterhin können Zweifel aufkommen, z.B. wenn nach anfänglichen Fortschritten die Praxis stagniert. Diese Zweifel sind wichtig, weil sie vor Routine schützen und darauf aufmerksam machen, dass eine Veränderung ansteht. Auch können die Zweifel verhindern, eine falsche Richtung einzuschlagen.
Manche Schüler (sadhana) beginnen in der Erwartung, übernatürliche Kräfte verschiedenster Art in kürzester Zeit zu erlangen. Tritt dies nicht ein, sind sie enttäuscht, zweifeln an den Übungen und hören mit der Praxis auf.
- Spirituelle Zweifel
Im Yogasutra wird über etwas gesprochen, was in unserer Kultur zwar vorkommt, aber ein Randthema ist: Die spirituelle Erfahrung, die von Mystikern „Gotteserfahrung“ genannt wurde und im Yogasutra samādhi. Die Täuschung (avidyā) über unser Ego, das nicht unser wirkliches Selbst sein soll, sondern ein mit Störungen behaftetes Wesen und Ursache für unser Leid, löst sich auf. Dagegen ist die Seele, die (bisher) noch niemand gesehen hat, auch nicht mit den neuesten technischen Geräten und die im Yogasutra drasta oder īsvara heißt unser wirkliches Selbst. Es ist frei und leidet deshalb nicht. Gerade in unserer Kultur mit der Betonung auf Wissenschaft und wissenschaftlichen Beweisen kann unser Geist ins Zweifeln kommen. Ist das nicht alles nur Esoterik? Mache ich mich damit lächerlich und zum Gespött? Wir sind Jahrzehnte lang darauf konditioniert, dass nicht zweifeln naiv ist und Zweifel ein Beweis für den höheren Verstand sind, dass Fortschritt nur möglich ist, wenn man die bestehenden Erklärungsversuche anzweifelt und Zweifel somit auch etwas positives sind.
Früher oder später tauchen Zweifel auf, die als „spirituelle“ Zweifel bezeichnet werden und zu einer spirituellen Krise werden können:
- Gibt es so etwas wie Selbstverwirklichung überhaupt?
- Kann ich es tatsächlich selbst erreichen?
- Befinde ich mich auf dem richtigen Weg dorthin?
- Ist der Mensch oder der Guru, dessen Tradition ich folge, der Richtige? Kann er mich richtig führen?
- Ist das, was ich jetzt gerade praktiziere, überhaupt das richtige?“
Solche Fragen kommen oft auch noch nach Jahren der Praxis.
Zum Hindernis werden diese samsaya, wenn sie uns an der Praxis hindern, weil sie uns lähmen. Sie schwächen uns, wenn wir zwar unsere Praxis fortführen, aber sie aufgrund des Zweifels nur halbherzig ausführen.
- Die Quellen von samsaya
Übermäßiger Zweifel und Unentschlossenheit können im besten Fall lähmen und wir sind nur halbherzig dabei und im schlechtesten Fall blockieren. Wenn dieses ständige Zweifeln zu einer Grundeinstellung wird, wirkt sie wie eine Bremse. Sie verhindert letztendlich das Leben zu leben, das wir leben wollen. Es gibt viele Pläne, Ideen, Wünsche, Vorhaben-aber immer gibt es im letzten Moment Zweifel, die verhindern, dass wir sie in Angriff nehmen, Veränderungen angehen oder ein Projekt abschließen. Im Yoga verhindern sie die Entwicklung unseres Geistes hin zu Ruhe, Stille und samādhi.
Es gibt Menschen, die durch Krankheit oder Unfall eine Schädigung ihrer Gehirnregion erlitten haben, die dazu führt, keine Entscheidungen mehr treffen zu können. Glücklicherweise liegt die Quelle für ständigen Zweifel bei den meisten Menschen nicht daran, sondern im psycho-mentalen Bereich.
Die Quelle übermäßigen Zweifelns – ist nicht die Umgebung, sind nicht die Menschen- ist unser Geist in der Form des Ego. Eine häufige Quelle ist die Angst (abhinivesa YS 2.3):
-Die Angst einen Fehler zu machen. Vielleicht wurden Erfahrungen gemacht, die es nicht erlauben, Fehler zu machen. Vielleicht gab es Erfahrungen, dass das Ergebnis nie gut genug war und jede Entscheidung, jeder Schritt perfekt sein muss. Also macht man lieber nichts, schließt ein Projekt, eine Aufgabe nicht ab, als einen Fehler zu machen oder zu versagen. Oder lieber besuchen wir keinen Kurs oder üben nicht, als etwas falsch zu machen. Dies wird rational mit Zweifeln begründet und dadurch vor uns selbst versteckt. Es wird darüber diskutiert, was passieren könnte oder nicht und dabei bleibt es. Diese Einstellung geht davon aus, dass eine Klärung nur intellektuell erfolgt. Manchmal ist es aber so, dass erst in der Praxis Fragen und Probleme erkannt und Lösungen manchmal erst im Prozess selbst gefunden werden.
-Auch die Selbstzweifel gründen auf unserer Angst. Sie können ein großes Hindernis sein, denn es sind die Zweifel an den eigenen Fähigkeiten oder auch des Ego selbst. Sie sind ein Minderwertigkeitsgefühl in Bezug auf eine bestimmte Fähigkeit oder Situation oder auch auf die eigene Person als Ganzes. Es fehlt die innere stabile Mitte als Basis und der Kontakt zu sich selbst. Wer sich selbst gut kennt, weiß, was er kann und nicht kann. Die Selbstzweifel sind weniger stark. Selbstzweifel können sich entwickelt haben aus abwertenden Erfahrungen und Urteilen im Leben oder auch zu wenig Erfahrungen, die das Selbstvertrauen ausbilden. Starke Selbstzweifel können eine starke Blockade sein. Selbstzweifler sind stark verunsichert, überängstlich und müssen sich z.B. permanent weiterbilden, weil sie glauben ihr Wissen reicht noch nicht oder sie benötigen noch mehr Erfahrung bevor sie in die Umsetzung gehen. Sie kommen nicht ins Tun und können ihre Fähigkeiten und Kenntnisse nicht nutzen. Sie verstärken dieses Selbstbild, indem sie sich mit anderen vergleichen-und es gibt immer jemanden, der besser ist. Diese Zweifel schwächen und verhindern, ins Selbstvertrauen zu kommen. Ständige Selbstzweifel verhindern das Potenzial zu leben und die Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Auch unterschätzen Selbstzweifler ihre eigene mentale und körperliche Kraft, weil sie sie nie kennengelernt haben. Davon zu unterscheiden sind die Selbstzweifel, die uns davor schützen, überheblich und oberflächlich zu werden.
-Die Angst vor den Konsequenzen der Entscheidung oder des Handelns: vor Verurteilung, Beschämung, Ausgrenzung, sich lächerlich zu machen, Schaden anzurichten, zu verletzen.
-Die Angst, die falsche oder nur zweitbeste Entscheidung zu treffen: „Jede Entscheidung ist ein Massenmord an Möglichkeiten“ (Quelle unbekannt). Jede Wahl bedeutet den Verzicht auf viele andere Erfahrungen. Deshalb wird versucht, alle Eventualiäten zu kontrollieren um die beste Wahl zu treffen. Dazu zählt auch die Variante, nach der Entscheidung oder nachdem der Prozess abgeschlossen ist, immer weiter zu zweifeln. Dabei werden die altbekannten Zweifel immer wiederholt. Das ist eine besonders quälende und sinnlose Form des Zweifels.
Alle diese Ängste beinhalten ein Bedürfnis, das Leben zu kontrollieren, immer die Kontrolle zu behalten. Andernfalls wird es bedrohlich. Deshalb muss alles ganz klar sein, bevor auch nur ein Schritt getan wird. Da es unmöglich ist, die Welt und das eigene Leben zu kontrollieren kommt es nie zum Handeln.
Ein anderer Grund ist Trägheit, styāna, das zweite Hindernis. Es fehlt an Energie oder wirklichem Interesse. In diesen Fällen dient der Zweifel und die Unentschiedenheit als Entschuldigung, etwas nicht zu tun oder zu verändern. Dann wird der Zweifel nur benutzt.
Desweiteren bedeutet Veränderung auch der Verzicht oder Verlust auf bisherige Vorteile, z.B. bei einem Arbeitsplatzwechsel ein längerer Anfahrtsweg oder die Kollegen/Kolleginnen nicht mehr zu treffen.
Die zahlreichen Möglichkeiten und Freiheiten unserer Gesellschaft verstärken das Problem: Die Auswahl bei fast allen Produkten und Dienstleistungen, z.B. im Supermarkt, in den Kaufhäusern, in der Elektronik, bei Reisen, in Restaurants usw. Es ist kaum möglich, alle Fakten für eine Entscheidung zu kennen geschweige denn zu vergleichen. Und alle preisen ihre Vorteile an. Auch die beruflichen Wahlmöglichkeiten, die Wahl des Wohnortes oder des Partners/der Partnerin sind so groß wie nie zuvor. Manchmal ver-zweifeln wir an den vielen Möglichkeiten und sind nicht entscheidungsfähig.
Aber irgendwann muss man eine Entscheidung treffen. Und nichts zu tun ist dann auch eine Entscheidung, auch wenn wir denken, keine Entscheidung getroffen zu haben. So ist es auch im Yoga: Wenn wir nicht praktizieren entscheiden wir uns dafür, dass wir dort stehen bleiben wo wir sind.
Welche Möglichkeiten haben wir, dieses Hindernis aufzulösen, so dass es uns nicht schwächt oder blockiert? Was bietet das Yogasutra an?
- Abhyāsa YS 1.32
Unmittelbar nach der Aufzählung der Hindernisse und Effekte der antarāya (YS 1.30/1.31) empfiehlt der Text, wir sollen uns auf ein Thema ausrichten und beharrlich dabei bleiben. Abhyāsa ist nicht einfach eine Methode, sondern wir richten unsere ganze Energie auf dieses Thema aus, z.B. eine regelmäßige Praxis, den ruhigen Geist. Wir halten diesen Fokus und lassen uns von Zweifeln nicht beirren. Auch im Alltag richten wir unsere Energie auf unser Ziel aus und handeln auf das Ziel hin. Eine Yogapraxis kann besonders bei der Tendenz zum Selbstzweifel hilfreich sein, denn durch angemessenes, aber gesteigertes Tun können behutsam Grenzen erweitert werden und das Selbstvertrauen-also das Vertrauen in sich selbst, Körper und Geist, wachsen. Wenn wir beharrlich bleiben, so das Yogasutra, schwächen wir die samsaya. Deshalb spielt eine regelmäßige Praxis eine wichtige Rolle zur Überwindung der Hindernisse und von samsaya. Wohlgemerkt handelt es sich hier nicht um berechtigte Zweifel, sondern um die samsaya, die uns bremsen.
- Die bhavāna YS 1.33
Die bhavāna können uns helfen, samsaya zu überwinden, wenn wir mit Liebe, Mitgefühl, Freude und Verständnis auf uns und die Ursachen schauen. Wir wollen die Zweifel nicht einfach loswerden. Wir verurteilen uns nicht dafür, dass wir schwanken, unsicher oder blockiert sind, sondern bemühen uns um Verständnis, was sie uns „sagen“ wollen und verstehen uns selbst immer besser. So verlieren die samsaya ihre Macht über uns und können gehen.
- Prānasya YS 1.34 – Der Atem
Wir können unseren zweifelnden unruhigen Geist durch einen langen Ausatem oder das Anhalten des Atems beruhigen. Dadurch gewinnt der Geist an Klarheit und wenn wir ruhiger werden, erkennen wir die samsaya als das, was sie sind: Eine Eigenart unseres Geistes und ein Hindernis. Dann stehen sie uns nicht mehr im Weg.
- Kriyā Yoga YS 2.1
Das zweite Kapitel mit der Überschrift als Übungsweg, sādhana pāda, bietet weitere Hilfen an, um die Hindernisse und samsaya zu überwinden.
Kriyā Yoga ist der Dreiklang von Leidenschaft/Energie, Selbsterforschung und Vertrauen in das höchste Ziel. Alle drei tauchen im zweiten Kapitel unter den niyama (YS 2.40ff) noch einmal auf:
Tapas ist die Leidenschaft, das Feuer, das in uns brennt. Wenn es stark genug ist, verbrennt es die samsaya. Es ist stärker als sie und aus ihm erwächst abhyāsa, die Beharrlichkeit trotz aller Zweifel nicht aufzugeben. Wir können uns an unsere Begeisterung und unseren Enthusiasmus, den wir vorher erlebt haben, erinnern und wieder wachrufen. Dann verlieren die Zweifel ihre Kraft.
Svadhyāya ist das Erforschen der samsaya. Was ist das Motiv meines Zweifels? Ist der Zweifel notwendig oder dient er als Entschuldigung für meine Trägheit (styāna YS 1.30), für Ängste oder Selbstzweifel? Ist er ein Schutzschild, etwas nicht zu machen?
Īsvarapranidhāna meint die Hingabe und das Vertrauen, shraddhā, in das höchste Ziel. Am Anfang des Yogaweges können wir keine Sicherheit über das höchste Bewusstsein haben, weil wir es noch nicht erfahren haben. Auch können wir nicht mit Sicherheit wissen, ob der Weg „funktioniert“. Wir brauchen stattdessen die Hingabe und das Vertrauen, dass es möglich ist. Wenn wir uns entschieden haben, auch im Alltag, dann bleiben wir erstmal dabei und vertrauen auf diese Entscheidung statt sie anzuzweifeln.
Wir müssen unser Bedürfnis nach Kontrolle aufgeben, aber es ist kein blindes Vertrauen. Wir können auf die Erfahrung von vielen Menschen vertrauen, die den Weg schon gegangen sind, die Krisen bewältigt haben und von ihren Erfahrungen berichten (YS 1.34). Wir können auf deren und unsere eigene Einsicht und Unterscheidungsfähigkeit (viveka) vertrauen. Wir können die alten Schriften lesen, die von diesen Erfahrungen berichten. Wir können natürlich auch die Menschen und Lehrer fragen, die wir kennen, wie sie mit samsaya umgehen und wie sie es schaffen, auf ihrem Weg zu bleiben.
Das Vertrauen und die Hingabe überwindet in zweierlei Hinsicht unsere Selbstzweifel. Wenn andere Menschen es geschafft haben, können wir es auch schaffen. Und wenn es nicht allein in der Macht unseres Ego liegt, sondern wir vertrauen können, das unser Selbst uns unterstützt und führt, verlieren die Selbstzweifel ihren Einfluss.
Die Festigung von Energie ist Vertrauen. Mit dem Vertrauen stellen sich Festigung und Stärke ein. Vertrauen macht ganz. Es hält die losen Enden des Bewusstseins zusammen. Es hält die ganze Persönlichkeit zusammen.
- Pratipaksa bhāvanam (YS 2.33)
Um Zweifel zu überwinden sollen negative Zweifel bzw. Gedanken durch geistige Kultivierung von deren Gegenteil überwunden werden. In diesem sutra empfiehlt Patanjali die sogenannte pratipaksha-bhāvana-Methode zur Überwindung dieser unerwünschten Geisteszustände. Damit ist gemeint, sich in eine andere, gegenteilige Position hinein zu versetzen und aus dieser Haltung auf den Zweifel zu schauen. So können wir statt auf unsere Schwächen und Probleme auf unsere Stärken und Lösungen schauen. Dadurch können wir unsere Ängste und Selbstzweifel überwinden und ins Handeln kommen. Es meint nicht, einfach nur die Zweifel auszublenden, sondern einen anderen Blickwinkel einzunehmen.
- Japa (YS 1.28)
Japa ist das Wiederholen bzw. Rezitieren von Worten oder Texten, die uns unterstützen und an unser Ziel erinnern. Es kann laut oder leise sein. Während der Rezitation des Textes, z.B. eines sutra oder das om oder shraddhā, richten wir uns innnerlich mit der ganzen Energie darauf aus. Es hilft nicht, wenn man den Text einfach nur heruntersagt. Wichtig ist die Aufmerksamkeit. Das stabilisiert den Geist, richtet die zerstreute Energie wieder aus und besänftigt die Zweifel. Auch das Tönen von Mantren ist japa.
- Meditation
Die Meditation läßt den Geist zur Ruhe kommen und damit auch die Zweifel als eine Form von vritti. Wir können als innerer Beobachter/ innere Beobachterin wahrnehmen, ein Mantra tönen, den Atem fokussieren oder eine Affirmation nutzen, was immer uns entspricht.
„Eine Meditation bei Unsicherheit, Zweifel oder Ängstlichkeit“
- Sankalpa-Einen Entschluss fassen. Wir müssen uns zuerst gründlich Gedanken machen über den Weg, den wir gehen. Wir müssen überlegen, ob das der richtige Weg und der richtige Lehrer ist oder wir spüren es einfach. Wenn man einmal einen Entschluß gefaßt hat, dann sollte man ihn auch ausführen. Hin und wieder kann man die Angelegenheit vielleicht nochmals gründlich überdenken, aber nicht ständig zweifeln.
Alle diese Möglichkeiten können wir auch in unserem Alltag nutzen. Wenn wir sie im Yoga schon kennengelernt haben, fallen sie uns im Alltag eher ein und sind leichter umszusetzen. Das gilt auch umgekehrt.
Fazit:
Zweifel oder Unsicherheit ist ein schweres Hindernis auf dem Weg zur Selbstverwirklichung und hält jeden geistigen Fortschritt auf. Durch Umgang mit Weisen, durch Studium religiöser Bücher, durch Unterscheidung und Einsicht kann man den Zweifel zerstören, das Hindernis, das das Bewußtsein in Unruhe versetzt und immer wieder vorrücken wird und uns von unserem Weg abbringen.
Die samsaya des Alltags und der Yogapraxis können beide zum Hindernis werden. Wir sind ihnen nicht ausgeliefert, denn das Yogasutra gibt uns Werkzeuge an die Hand, sie aufzulösen. Jeder spirituell Praktizierende kennt Phasen der Unsicherheit, des Zweifels, der Negativität und der geistigen Schwäche. Wir müssen also nicht ver-zweifeln.
Letztlich ist es so dass, bis wir zur höchsten Erkenntnis gelangen, immer wieder Zweifel auftauchen werden. Wie können wir über alle Zweifel hinauswachsen? In der Bhagavādgita heißt es „„Indem du den Geist fest auf Mich (hier: das Höchste/Selbst) richtest“, ist das eine. Das zweite, „Yoga übst“, und als drittes, „bei dem Höchsten Zuflucht suchst“.
Durch Vertrauen, Kraft oder Mut, durch die Erinnerung an eine Erfahrung des Selbst und durch einen Zustand tiefer Gleichmut erreicht man einen Zustand gesteigerter Bewusstheit. (YS 1.20)