(Am Ende des Textes gibt es eine Audiodatei mit den Sanskritbegriffen)
Das vierte antarāya (Hindernis) ist pramāda, die Hast, Ungeduld, Geringschätzung. Während samsaya zur Untätigkeit führt, blockiert und wir feststecken, ist pramāda das Gegenteil: Hastiges, achtloses, nachlässiges Agieren, Unaufmerksamkeit und Ungeduld aus einem unruhigen Geist (citta viksepa). Warum bringt uns das nicht weiter? Warum ist pramāda ein Hindernis, das uns blockiert? Die Eile und Hetze verhindert, dass wir nachdenken und der Geist zur Ruhe kommt. Wir können nur immer wieder die gleichen Muster wiederholen. Und uns geht es wie diesem Holzfäller.
Wenn wir uns unseren Alltag ansehen, könnte man den Eindruck gewinnen, pramāda sei das dominante Hindernis. Möglichst effizient und schnell arbeiten wir eine Aufgabe nach der anderen ab, eilen von Termin zu Termin (und ärgern uns, wenn Bus oder Bahn uns einen Strich durch unsere Rechnung machen) und von Verabredung zu Verabredung. Zwischendurch beantworten wir die eine oder andere Nachricht. Dieser Lebensstil tut uns nicht gut. Nicht umsonst unterstützen die gesetzlichen Krankenkassen Yogakurse als Entspannungsverfahren. Nicht ohne Grund sind Achtsamkeits-und Meditationsangebote stark nachgefragt. Wenigstens auf der Matte, wenigstens einmal in der Woche erfüllen wir uns das Bedürfnis nach einer erholsamen Auszeit-um unsere Kräfte für den Rest der Woche zu stärken und den Alltag wie bisher bewältigen zu können.
Hast, Eile, Ungeduld sind Bewegungen des Geistes (cittavritti), die immer wieder auftauchen und den Geist nicht zur Ruhe kommen lassen (nirodha YS 1.2). Sie sind Hindernisse auf dem Entwicklungsweg zum klaren Geist (citta prasādana YS 1.33).
Wichtig ist der innere Zustand, aus dem das Handeln folgt. Wir können innerlich gesammelt und schnell sein. Wir können aber auch innerlich unruhig und gehetzt sein und äußerlich einen ruhigen Eindruck vermitteln. Unabhängig von äußeren Aktivitäten kann pramāda sich auch nur als inneren Zustand ausdrücken.
Pramāda im Yogasutra 1.30
Das Yogasutra präsentiert bereits im ersten Kapitel die Themen, die in den folgenden Kapiteln ausführlicher vorgestellt werden. Das erste Kapitel gibt uns einen Überblick über den spirituellen Weg des Yoga. Im sutra 1.30 erfahren wir, dass es kein einfacher Weg sein wird, denn es stellt neun Hindernisse (antarāya) vor. Wir werden also zu Beginn darauf vorbereitet, dass wir mit Hindernissen zu rechnen haben. Wir können uns darauf einstellen und werden nicht von ihnen überrascht. Die neun Hindernisse können eine abschließende Aufzählung, die häufigsten Hindernisse, Anregungen für eine Reflektion oder ein Hinweis sein, aufmerksam zu sein. Diese Hindernisse sind zu überwinden, denn sie trennen uns von unserem Ziel, unser Selbst zu erfahren und nicht aus unserem Ego zu leben. Das Yogasutra zeigt uns im zweiten Kapitel (YS 2.28ff) den achtgliedrigen Übungsweg, astanga (as=acht, anga=Glieder), der uns hilft, die Hindernisse zu überwinden. Der Weg stellt die praktischen Erfahrungen dar, die Menschen geholfen haben, samādhi, den allumfassenden Bewusstseinszustand trotz der Hindernisse zu erleben. Es sind keine theoretischen Ratschläge, sondern es ist ein praktizierter Weg.
Wie im ganzen Text gibt es auch im sutra 1.30 eine Reihenfolge vom „Groben“, d.h. vom Offensichtlichen zum „Feinen“, den subtileren Aspekten: Vom Körper –vyādi- dem Unwohlsein und der Krankheit zum körperlich-mentalen, der Trägheit- styāna- zum psychisch-mentalen, dem Zweifel – samsaya- und der Hast und Ungeduld –pramāda- dem vierten antarāya. Diese Reihenfolge sagt nichts darüber aus, welches Hindernis wann im Wege steht. Sie können einzeln auftreten und sich auch gegenseitig bedingen. So kann sich aus Trägheit in Form von mentaler Schwäche Unwohlsein oder ein körperliches Symptom entwickeln und aus einer Krankheit kann eine Depression entstehen.
Pramāda in der Yogapraxis
Pramāda bezeichnet einen unruhigen Geist (citta viksepa). Er kommt nicht zur Ruhe. Selbst auf der Yogamatte und in der Meditation kann er sich nicht entspannen. Wenn wir uns z.B. auf den Atem konzentrieren wollen, tauchen andere Gedanken über Probleme auf oder neue Ideen und Lösungen und sie erscheinen so dringlich, dass der Geist dort hängen bleibt. Diese Gedanken entwickeln sich dann weiter-vielleicht wollen wir eine Idee unbedingt festhalten, weil sie so gut ist oder eine Lösung, nach der wir lange gesucht haben. Der Geist freut sich und ist begeistert. Der geistige Zustand entfernt sich immer mehr von einem ruhigen und konzentrierten Zustand. Und da der Geist sehr kreativ ist, fallen ihm immer wieder andere wichtige Dinge ein. Dieser Automatismus ist ein Hindernis in unserer Praxis. Wir möchten gern meditieren, aber der Geist findet wieder und wieder scheinbar wichtigere Themen.
Einem unruhigen Geist fällt es schwer, die richtige Priorität zu setzen. Wir schaffen es dann nicht auf die Matte oder in die Meditationshaltung, weil der Geist immer wieder etwas findet, was ganz dringend ist oder schon lange aufgeschoben wurde- ein Anruf, ein Einkauf, der Haushalt usw. Und so wird die Yogapraxis von Tag zu Tag verschoben.
Schaffen wir es auf die Matte, schweifen die Gedanken bei den Übungen ab und wir führen sie mechanisch durch. Oder wir hetzen durch die Praxis, damit wir uns schnell wieder anderen Dingen zuwenden können. Der Geist hat immer ein „Ja….ABER“. Diese Blockade verhindert unsere Entwicklung zu samādhi.
Welches sind die Ursachen von pramāda?
Die Ursachen liegen in unserem Geist selbst und werden im Yogasutra als klesa (Störungen des Geistes YS 2.2ff) beschrieben. Mit Geist ist unser Alltagsbewusstsein, auch Ego genannt, gemeint im Unterschied zu dem Bewusstsein unseres Selbst. Dieses Ego definiert sich über innere und äußere Attribute. Äußere Attribute sind z.B. der Körper, der Besitz, das Image, der Status, der Beruf, Familie, Partner/in, Kinder, Hobbys. Innere Attribute sind z.B. Kraft, Leistungsfähigkeit, Perfektionismus, Intelligenz, Empathie, künstlerische Fähigkeiten/Talente. Diese Attribute an sich sind nicht das Problem, sondern die Identifikation und Anhaftung und die ständige Sorge um deren Verlust. Das Ego lebt und stirbt mit diesen Attributen. Deshalb ist es so wichtig, alles dafür zu tun und sich dafür anzustrengen, um sie zu erhalten bzw. alles zu vermeiden, was sie beschädigt.
Diese Störungen- Angst, Gier, Abwehr und die daraus resultierende Egozentrik- verursachen pramāda. Je größer Angst, Gier, Abwehr sind, desto größer die Anstrengung. Je mehr äußere Dinge das Ego schützen sollen, je größer also das Sicherheitsbedürfnis ist, desto mehr Geld braucht man, desto mehr muss man arbeiten. Dafür muss der Körper immer funktionieren, also muss man viel dafür tun. Das Ego hat einen „Tunnelblick“. Es geht nur um das Haben und Halten bzw. Kämpfen gegen alles Bedrohliche, um möglichst viel Kontrolle. Im Zustand von pramāda fehlt dem Geist das Vertrauen – shraddhā– in das Leben und in sich selbst. Der Geist ist rund um die Uhr beschäftigt – ohne wirklich in der Gegenwart zu leben.
Da das Ego vom Selbst nichts weiß, kann es die Bedeutung der Yogapraxis nicht erkennen. Die wirkliche Erfahrung des Selbst, nicht nur das intellektuelle Wissen um das Selbst, würde das Hindernis beseitigen. Das Selbst fühlt sich sicher und ist unabhängig von inneren oder äußeren Zuschreibungen. In diesem Zustand könnten wir weiterhin in der Welt alles Nötige tun, die Welt bewusst wahrnehmen und es gleichzeitig auch zu schätzen wissen. Da wir im jeweiligen Moment präsent wären, würden wir tun, was gerade jetzt wichtig ist. Wir würden die richtige Priorität setzen ohne von den klesa getrieben zu sein. Manchmal müssen wir uns wirklich beeilen, aber wenn es nicht erforderlich ist, wäre unser Geist still.
Genau diesen inneren Zustand verhindert die Hast und die Unruhe und bildet damit ein großes Hindernis. Es setzt die falsche Priorität, indem sie uns von einer regelmäßigen Yogapraxis abhält. Das Hindernis wirkt wie eine Selbstsabotage.
Pramāda im Alltag- Notwendigkeit oder Übel?
Während die ersten Hindernisse- Krankheit/Unwohlsein, Trägheit, Zweifel- uns auch im Alltag spürbar behindern und wir deshalb dagegen angehen, ist die Eile oder Hast oft und für Viele zum normalen Alltag geworden. Wir würden vielleicht sogar Kopfschütteln oder Erstaunen ernten, womöglich Schwierigkeiten und Konflikte erleben, würden wir uns dem allgemeinen Tempo nicht in gewissem Maße anpassen. Unsere Hast und Ungeduld treiben uns vorwärts. Das ist im Alltag hilfreich und manchmal notwendig. Wir schaffen viel und oft auch in guter Qualität. Natürlich kann es vorkommen, dass es wichtig ist, sich zu beeilen, schnell etwas zu erledigen. Wenn es notwendig ist, können wir schnell sein. Aber können wir von Eile, Hast und Ungeduld frei sein, wenn es nicht erforderlich ist? Oder ist pramāda eine Gewohnheit oder ein Zwang? Wir brauchen die Unterscheidungsfähigkeit und Bewusstheit für das was wir tun und wie wir es tun. Ist es notwendig, dann ist es kein Hindernis, im Gegenteil. Als Gewohnheit kann es zu einem Hindernis werden.
Folge aus pramāda: 1. Der Tunnelblick und Dissoziation
Muss es immer schnell gehen-nicht damit wir eine Pause haben, sondern um noch mehr in den Tag zu packen? Müssen wir uns hetzen, um die Bahn zu erreichen statt zehn Minuten geduldig auf die nächste zu warten? Zehn Minuten, in denen wir den Atem spüren können, die Umgebung wahrnehmen, die Menschen, das Wetter…. Denn ein Nachteil der Unruhe und Hast ist der „Tunnelblick“. Während wir das eine beenden, sind wir in Gedanken-ohne Pause- beim nächsten, der Aufgabe, dem Termin, Einkaufen, Anruf, Mail… Auf diese Weise verpassen wir vieles, z.B. die Geschmacksnuancen oder den Geruch des Essens, den erstaunten, ärgerlichen oder freudigen Gesichtsausdruck des Gegenübers, den Gesang der Vögel, die Fülle des Frühlings, die Wärme des Sonnenlichts… Wir sind dissoziiert, nicht in Kontakt mit dem gegenwärtigen Augenblick und dem Geschehen und den Menschen. Aus der Unaufmerksamkeit kann unbesonnenes Handeln entstehen oder fehlende Umsicht.
Im Beruf sind wir mehr oder weniger fremdbestimmt. Wir müssen Termine einhalten, können Kunden nicht warten lassen oder Kollegen/Kolleginnen/Mitarbeiter/innen, die auf unsere Informationen angewiesen sind. Wir können uns aber auch hier fragen, wann wir uns beeilen sollten und wann wir mit Ruhe und Geduld unsere Arbeit erledigen können, ggf. durch Umorganisation.
Folge aus pramāda: 2. Geringschätzung
Wie ist es in unserer „Frei-„Zeit, die häufig dem Namen nicht gerecht wird? Müssen wir dann ins Sport-oder Yogastudio hetzen oder noch schnell ein Treffen mit Freunden oder Familie einschieben? Werden wir im ersten Fall uns selbst gerecht und in den anderen Fällen den anderen? Sind wir dann wirklich präsent oder auch dann schon bei den nächsten Dingen in unserem Kalender? Wie fühlen wir uns, wenn unsere Verabredung oder unser Besuch abgehetzt erscheint und nicht die Muße für wirklichen Kontakt, wirkliche Verbindung hat? Pramāda bedeutet auch Geringschätzung. Wir erledigen und erleben viel, aber da wir nicht in Kontakt mit dem Moment sind, können wir das jeweilige Ereignis nicht wertschätzen. Es ist eines unter vielen.
Die Geringschätzung bezieht sich auf alles:
Auf uns selbst, weil wir ohne Rücksicht auf unsere Bedürfnisse und eine gute Lebensqualität, Genuss und Muße nicht wirklich leben.
Auf andere, weil wir ihnen nicht die Bedeutung einräumen und die Aufmerksamkeit schenken, die einem Menschen und seiner Würde gemäß sind. Das Verhalten kann sogar verletzend sein.
Auf die Umwelt, weil wir die Ressourcen der Natur an Nahrung und den anderen Schätzen nicht wertschätzen, z.B. zu sehen an den weggeworfenen Essensressen, Pizzaschachteln, dem achtlosen Umgang mit Gegenständen im öffentlichen Raum (Parkbänken etc.).
Geringschätzung kann sich auch als Arroganz zeigen. Pramāda kann auch zur Gleichgültigkeit führen allem gegenüber, was nicht in den Plan passt. Das ist nicht zu verwechseln mit Gleichmut, vairāgya, wenn wir an der der Welt interessiert sind, aber nicht damit identifiziert. Aus der Gleichgültigkeit kann Vernachlässigung werden.
Folge aus pramāda: 3. Krankheit- vyādhi und Trägheit- styāna
Die gesundheitlichen Konsequenzen von pramāda kennen wir als Zivilisationskrankheiten: Magenprobleme/-geschwüre, Bluthochdruck, Herzprobleme, Burnout. Diese Folgen werden bereits im Yogasutra 1.31 genannt. Sie sind keine neuen Phänomene.
Das ist der Preis, den wir für unsere Hast zahlen. Wollen wir das? Wenn wir zurückblicken, woran erinnern wir uns gern? Soll unsere Zukunft eine Wiederholung unserer Vergangenheit sein? Für diese Fragen fehlt uns im Alltag die Zeit und die Geduld.
Vom Umgang mit pramāda
- Abhyāsa und vairāgya (YS 1.12)
Auch wenn es zum Lebensstil in der Gesellschaft gehört, durch den Alltag zu hetzen, können wir den Zustand im Yoga nicht akzeptieren und dürfen uns nicht damit abfinden. Auch um unserer Lebensqualität und Gesundheit willen sollten wir uns mit diesem Verhalten auseinander setzen und es zu verändern versuchen. Das Yogasutra rät uns deshalb zu abhyāsa (YS 1.12) der Hartnäckigkeit. Indem wir es immer wieder neu versuchen und immer dabei bleiben, wird das Hindernis geringer werden. Wir werden erleben, dass jede kleine Veränderung in diese Richtung unseren Stress, oder wie es im Yogasutra heißt unser Leid, verringert und das wird uns anspornen, die Anstrengung auf uns zu nehmen und Disziplin aufzubringen. Es wird uns immer besser gelingen, unser altes Muster und unsere Gewohnheit, Dinge automatisch hastig und ungeduldig zu tun, loszulassen (vairāgya YS 1.12).
- Tapas (YS 2.1) Im zweiten Kapitel des Übungsweges wird beschrieben, worauf es ankommt:Für unsere Hartnäckigkeit brauchen wir einen unbedingten Willen, der auf unserer Leidenschaft beruht. Tapas ist sowohl das Feuer, das in uns brennt als auch das Feuer, das unsere alten Gewohnheiten und Muster verbrennt.
- Āsana (YS 2.46) „verbrennen“ auf der körperlichen Ebene die alten Strukturen, indem sie körperliche Spannungen auflösen und den Körper und den Geist durch ungewohnte Bewegungen aus der Komfortzone herausholen.
- Prānāyāma mit der starken Wirkung des Atems auf das Nervensystem bringt uns mit kräftigen Atemübungen Energie für den Prozess und kann den inneren Zustand von pramāda beruhigen.
- Svādhyāya (YS 2.1) ist die Selbsterforschung, die zur Selbsterkenntnis führt. Wir erkennen, was uns im „Hamsterrad“ hält. Es ist unser Ego, seine Funktionsweise der Selbsttäuschung, Angst, Gier und Abwehr. Wir erkennen, dass diese Funktionsweise uns davon abhält, uns in die Richtung unseres Selbst und eines glücklichen zufriedenen Lebens zu entwickeln. Gerade in der Yogapraxis erkennen wir gut, wie es um pramāda bestellt ist: Führen wir die Übungen ruhig und konzentriert durch?
- Meditation: Immer wieder richten wir unseren Geist auf einen „Punkt“ aus, immer wieder kommen wir in der Meditation zum Fokus zurück. Mit der Zeit ändert der Geist seine Strukturen und nimmt diese neue Gewohnheit an.
In der Zeit mit vielen schnellen Veränderungen, die uns wie keine Generation vorher fordern ist Yoga eine wichtige Ressource um unseren inneren Zustand zu beruhigen und zu klären. In diesem Zustand können wir erkennen, wie wir agieren können, die richtigen Prioritäten setzen und erkennen, was wir los- oder einfach so stehen lassen können. Wir können ein bewusstes und wertschätzendes Leben führen. Je mehr wir auf diesem Weg zu unserem Selbst sind, desto mehr Lebensqualität werden wir gewinnen.
Die Datei mit der Aussprache der Sanskritbegriffe