(Am Ende des Textes gibt es eine Audiodatei mit den Sanskritbegriffen)
Avirati, das sechste Hindernis, ist ein psychisch-mentaler Zustand des ständigen Abgelenktseins und der Unruhe. Dieser unruhige Zustand (citta viksepa) stört die Konzentration, verhindert Dinge zu Ende zubringen, Gedanken zu Ende zu denken.
Im Yoga hat avirati mit dem fünften Glied des achtgliedrigen Yogaweges (astanga YS 2.29, as=acht; anga=Glied) zu tun. Pratyāhāra (YS 2.54/2.55), das Zurückziehen der Sinne ist die Vorbereitung zur Konzentration (dhāranā YS 2.53, 3.1), zum Halten der Konzentration, für die Meditation (dhyāna,YS 3.2) und für samādhi (YS 3.3).
Avirati, das ständige Abgelenktsein, so scheint es, wird aktuell immer mehr zu einem Hindernis, auf der Yogamatte, in der Meditation sowie im Alltag. Wie können wir mit diesem Hindernis umgehen? Was sind die Gründe?
Der Begriff avirati
Rati bedeutet zu genießen. Unsere Sinne haben permanent ein Verlangen nach Genuss. Sie sind ununterbrochen auf der Suche nach Objekten, die Freude bereiten. Diesem Verlangen ständig nachzugeben ist rati.
Virati bedeutet die Sinne daran zu hindern, ständig nach diesen Objekten zu suchen und sich mit ihnen zu verbinden. Es setzt voraus, dass wir bemerken, wenn die Sinne reflexhaft nach Reizen suchen und dass wir dann bewusst entscheiden, ob wir diesem Reflex nachgeben oder nicht. Es bedeutet eine Wahl zu haben.
Avirati ist die Abwesenheit von virati. Die Sinne jagen den verschiedensten Dingen nach und der Geist folgt ihnen unbewusst, zwanghaft, süchtig. In der Katha-Upanisad (3.Jh. v.Chr.) werden die Sinne als fünf Pferde dargestellt, die eine Kutsche (Körper) ziehen. Der Wagenlenker ist der Verstand und die Zügel stellen das Bewusstsein dar. Die Aufgabe des Verstandes (Wagenlenker) ist es, mit dem Bewusstsein (Zügel) die Sinne (Pferde), die mal hierhin mal dorthin ziehen, so zu lenken, dass sie auf dem Weg bleiben. Der Weg ist der Lebensweg und in der Kutsche sitzt das Selbst, das den Weg kennt. Der Geist (Wagenlenker) kann den Weg nur finden, wenn er das Selbst kennt und versteht. Wenn alles gut verbunden ist, wird die Welt so wahrgenommen, wie sie ist. Das ist der Weg des Yoga. Wenn der Verstand (Wagenlenker) die Sinne (Pferde) nicht lenkt und auf dem Weg hält, kommt die Kutsche vom Weg ab oder wird angehalten und es ist schwer, das Ziel zu erreichen. Das Bild wird auch in der Bhagavadgītā (5.-2.Jh. v.Chr.) verwendet. Das ist avirati.
Avirati wird auch als Mangel an Kontrolle über die Sinne übersetzt. Die Kontrolle ist jedoch auch eine geistige Aktivität, ein vritti, und demzufolge verhindert sie das Zur Ruhe kommen des Geistes (nirodha, YS 1.2). Sich von avirati zu befreien ist nur über das Erkennen des Verhaltens und seiner Ursachen möglich. Eine Kontrolle ist keine Befreiung, sondern kann Unterdrückung oder Verdrängung sein, die wieder neue Hindernisse schaffen.
Avirati im Yoga und Yogasutra
- Pratyāhāra YS 2.54
Die Sinne sind nach außen orientiert. Sie nehmen alles wahr. Im Yogasutra wird es so beschrieben, dass es ihre Natur ist, sich „mit Objekten zu verbinden“ (samprayoga YS 2.54). Das ist ihre Aufgabe. Wir Menschen sind auf unsere Sinne angewiesen. Wir brauchen sie zur Orientierung, Nahrungssuche, zum Erkennen von Gefahren und im Kontakt mit anderen. Diese lebensnotwendigen Funktionen sind nicht das Thema von avirati.
Unsere Sinne sind immer „online“, auch wenn es nicht notwendig ist bzw. wir es auch nicht möchten, wie z.B. in der Meditation. Sie erzeugen Wahrnehmungen, ein vrtti, also eine Bewegung im Geist. Aus dieser Wahrnehmung entstehen weitere Aktivitäten, auch wenn sie nicht nützlich und erforderlich sind: Gefühle, Bewerten, Vergleichen, Erinnern, Assoziationen. Der Geist entfernt sich mehr und mehr von seinem ruhigen und fokussierten Zustand- bis der nächste Reiz kommt und der Prozess neu beginnt. Im Zustand des unruhigen Geistes ist pratyāhāra nicht möglich. Der Geist ist leicht ablenkbar, z.B. durch ein Geräusch, eine Fliege, ein Geruch und er kann sich nicht von den Objekten lösen. Das ist avirati. Wenn der Geist die Tendenz zu dieser Funktionsweise hat, so wussten auch die Yogapraktizierenden vor 2000 Jahren, kommt der Geist nicht so schnell in die Ruhe. Die Schritte, die im Yogasutra beschrieben werden, und für alle Hindernisse gelten, zeigen einen kontinuierlichen Weg in die Ruhe. Diese Ruhe ist unabdingbar für das Einheitsbewusstsein, samādhi.
Pratyāhāra bedeutet, die Sinne zurückzuziehen, z.B. sich eine ruhige Umgebung zu suchen, das Telefon auszuschalten oder in einen anderen Raum zu legen, die Augen zu schließen, noise cancelling Kopfhörer zu benutzen und die Aufmerksamkeit nach innen zu richten, z.B. auf den Atem. Damit wird die Verbindung der Sinne zu den Objekten unterbrochen (asamprayoga). Der damit verbundene Prozess ist beendet, es gibt kein Interesse nach außen. Die Sinne können zur Ruhe kommen und haben nicht mehr die Kraft zu stören. Dies wird bereits im ersten Kapitel angesprochen:
- Vairāgya (YS 1.12/1.15)
Avirati ist das Festhalten, die Bindung des Geistes an eine Befriedigung der Sinnesreize. Wir identifizieren uns mit ihnen. Die Befriedigung duldet keinen Aufschub. Die Sinnesreize sind übermächtig. Es fehlt die Fähigkeit, diesem Bedürfnis zu widerstehen und sich nicht ablenken zu lassen. Zum Beispiel muss die Nachricht sofort gelesen und es muss sofort reagiert werden, noch bevor die Praxis beendet wurde. Im Alltag stört es Arbeitsabläufe und unterbricht Gespräche. Die dauernden Störungen führen zu Fehlern oder notwendige Dinge bleiben unerledigt.
Vairāgya (YS 1.12/1.15) wird mit dem Begriff ´Loslassen` übersetzt und beinhaltet sowohl den Prozess als auch den Zustand, wenn die Bindung der Sinne an die Objekte gelöst wurde. Vairāgya ist das Gegenteil von avirati. Es ist die Freiheit von dem heftigen Verlangen, der triebhaften, zwanghaften, süchtigen Gier nach Ablenkung und Vergnügen. Diese Freiheit bedeutet eine Gelassenheit gegenüber den Sinnesreizen. Die Freiheit der Sinne ist ein Ziel des achtgliedrigen Yogaweges.
- Der achtgliedrige Weg –astanga (YS 2.29ff)
Angesichts der Hindernisse wie avirati, stellt das Yogasutra vor pratyāhāra nicht nur die Hindernisse, sondern auch vier Schritte vor. Sie stärken den Rückzug der Sinne und schwächen die Tendenz, sich ablenken zu lassen:
1. Die fünf yama (YS 2.30): Hier geht es um die Art und Weise unseres Kontaktes in und mit der Mitwelt. Sie ermöglichen einen ruhigen Geist, weil Leid und Konflikte ihn nicht mehr beschäftigen. Der äußere Frieden entspannt auch die Sinne. Es gibt nichts zu kontrollieren.
2. Die fünf niyama (YS 2.40): Sie betreffen den Umgang mit uns selbst, mit unserem Körper, unserer Psyche und unserem Geist. Im Gegensatz zu den yama haben wir hier einen 100%-igen Einfluss und damit auch die volle Verantwortung. Wir können ganz unmittelbar viel für einen ruhigen Geist tun.
3. Āsana (YS 2.46): Die Übungen auf der Matte sind allen bekannt. Sie lösen Verspannungen, geben Kraft und beruhigen den Geist. Dies reduziert avirati und ist eine gute Vorbereitung auf pratyāhāra.
4. Prānāyāma (YS 2.49): Der Atem hat eine direkte und starke Wirkung auf den psychomentalen Zustand. Das Yogasutra empfiehlt einen ruhigen, langen Atem mit einer Atempause. Es ist der natürliche Atem, wenn wir in einem ruhigen und entspannten Zustand sind.
Wir können erkennen, dass es viele Aspekte zu bedenken gibt. Hier werden sie in den Zusammhang mit dem Erreichen von pratyāhāra gestellt. Sie sind wichtige Hilfen, um das Hindernis auf dem Weg, avirati, zu beseitigen. Je ruhiger der Geist, desto ruhiger sind die Sinne, desto mehr lösen sie sich von den Objekten.
Weitere Hilfen im Yogasutra sind:
- Abhyāsa YS 1.12/1.13
Abhyāsa scheint das wichtigste Merkmal bei avirati zu sein. Wenn trotz bester Absicht und festem Willen der Geist nicht zur Ruhe kommt und dies auch nach langer Zeit des Praktizierens nicht gelingt, kann es frustrierend wirken, sodass man entmutigt aufgibt. Und es tauchen Sätze auf wie: Das schaffe ich sowieso nie. Das ist nichts für mich.
Aufgrund der Erfahrung der damaligen Yogapraktizierenden ermutigt uns das Yogasutra durchzuhalten und dranzubleiben. Dann wird das Ziel erreicht, heißt es. So war wohl die Erfahrung schon immer auf dem spirituellen Weg. Wir wollen unseren Geist von seiner leidvollen Funktionsweise, an die er aus verschiedenen Gründen festhält, befreien. Es ist letztendlich wirklich eine Transformation. Dies braucht Zeit und Energie.
Die Aufzählung der Hindernisse besagt auch, dass es kein leichter Weg ist und mit Hindernissen zu rechnen ist. Abhyāsa bedeutet einerseits die Disziplin und das Dranbleiben trotz der Hindernisse und andererseits auch immer wieder neu anzufangen. Wenn die regelmäßige Praxis unterbrochen wurde, immer wieder anzufangen. Wenn die Aufmerksamkeit auf den Atem verloren gegangen war, wieder zurückzukehren. Unabhängig, wie lange oder wie oft es eine Unterbrechung gibt. „Einmal mehr anfangen als aufhören“ hat ein Yogalehrer gesagt.
- Tapas (YS 2.43)
Wie kann abhyāsa erhalten und gestärkt werden? Die Kraft wird genährt durch unser inneres Feuer, die Begeisterung für Yoga. Dieses Feuer können wir lebendig erhalten durch die Erinnerung (smrti) an die Freude und Neugier des Anfangs und an die Situationen, in denen wir eine ruhige Praxis und Meditation erlebt haben und an die Ruhe und Freude daraus. Und wenn wir es schon einmal erlebt haben, warum dann nicht wieder? Nur müssen wir die Erwartung loslassen, dass es jedes Mal gelingt. Oder wenn wir von anderen hören, dass es ihnen auch so bzw. wie es ihnen ergangen ist und dass sie diese Phase überwunden haben kann uns das stärken. Oder auch der Gedanke, dieses Muster, dieses avirati, nicht gewinnen zu lassen.
- Shraddhā (YS 1.20)Shraddhā ist das Vertrauen in den Weg und das Ziel. Es ist das Vertrauen in die Weisheiten und Erfahrungen der alten Texte wie des Yogasutra. Es ist das Vertrauen, dass der dort vorgeschlagene Erfahrungsweg auch für uns funktioniert. Es ist das Vertrauen, dass das Ziel erreichbar ist und bleibt. Und dieses Vertrauen ist kein kindliches Vertrauen, sondern kommt aus dem Innersten.
Avirati und die anderen Hindernisse
Wie die anderen Hindernisse ist avirati Ausdruck eines zerstreuten und fragmentierten Geistes (citta viksepa). Die vielen Ablenkungsmöglichkeiten, die den Geist nur oberflächlich beschäftigen, blockieren oder stören die Yogapraxis. Die regelmäßige Yogapraxis auf der Matte ist mit mehr geistiger Anstrengung und Disziplin verbunden als viele Vergnügungen.
Avirati kann auch mit den anderen Hindernissen zusammenhängen:
- Vyādhi– die Krankheit oder das Unwohlsein können eine Quelle von avirati sein. Schmerzen oder Beschwerden ziehen die Aufmerksamkeit immer wieder auf sich und lenken sowohl im Alltag als auch in der Yogapraxis ab. Nicht nur die Empfindungen selbst sind es, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sondern auch Sorgen und Gedanken halten den Geist beschäftigt. Vyādhi bindet den Geist, so dass es fast unmöglich ist, die Aufmerksamkeit für längere Zeit auf etwas anderes zu richten.
- Styāna , die Trägheit/Starrheit und ālasya, die Faulheit scheinen das Gegenteil von avirati, der Unruhe zu sein. Aber wenn der Geist im Zustand der Trägheit ist, vermeidet er die geistige Veränderung und Anstrengung von komplexen und tiefen Überlegungen. Er läßt sich deshalb gern von Reizen aus der Umgebung verführen. Die Yogapraxis wird vermieden und eine andere Tätigkeit vorgeschoben. Im Alltag kennen wir das als Prokastination oder Aufschieberitis. In diesem Zustand sucht sich der Geist immer wieder neue Anlässe, um die eigentliche Anstrengung zu vermeiden. Die Ablenkung kann sich dann einfach in Appetit, besonders auf Süßes, Koffein, Nikotin, Durst, Müdigkeit, unwichtige Dinge/Erledigungen äußern. Der Geist ist unruhig und gierig nach Ablenkungen.
- Samsaya –der ständige Zweifel, die Unentschiedenheit kann sowohl Ursache als auch Ergebnis des ständigen Abgelenktseins sein. Wenn es ständig Ablenkungen gibt bzw. sie gesucht werden, kann nichts durch- und zu ende gedacht werden. Die Gedankenströme werden immer wieder unterbrochen, z.B. durch Anrufe, Mails, Nachrichten oder auch Mitmenschen. Der geistige Faden muss immer wieder neu aufgenommen werden, Aspekte abgewogen und eingeordnet werden. Das erhöht zudem die Fehlerquelle und verhindert möglicherweise überhaupt ein Ergebnis. Andererseits verstärkt die Unentschiedenheit die Ablenkbarkeit, weil die Verbindlichkeit fehlt. Das Interesse an dem Thema ist dann nicht stark genug und macht den Geist leichter anfällig für Ablenkung.
- pramāda: Hast/Geringschätzung ist eine Ursache und Folge von avirati. Wenn der unruhige Geist sich nicht konzentriert sondern sich immer wieder ablenken läßt, neuen Reizen folgt, ist es nicht möglich, den gegenwärtigen Moment, die jeweilige Situation vollständig zu erfahren, zu genießen und wertzuschätzen. Es bleiben oberflächliche Erfahrungen, die nicht zufriedenstellen. Das Leben wird oberflächlich. Man eilt von einem Termin, einem Kurs oder Seminar zum anderen, klickt sich von einer Information zur nächsten ohne etwas aufzunehmen und zu integrieren. Es bleibt wenig „hängen“. So ist es auch mit der Yogapraxis. Wenn man mit dem Drang nach einem neuen Kick von einer Haltung zur nächsten, von einem Kurs oder Lehrer zum nächsten wechselt, kann die Praxis keine Wirkung entfalten.
Avirati im Alltag
Unsere Sinne nehmen permanent alle Reize aus der Umgebung auf. Schließlich sichern wir so seit Jahrtausenden unser Überleben. Nur ein kleiner Bruchteil dieser Informationen gelangt in unser Bewusstsein. Welche Sinneseindrücke wichtig oder interessant sind, entscheidet unser Gehirn in Bruchteilen von Sekunden. Hätten wir diese Fähigkeit nicht, wären wir ständig überflutet.
Die Kriterien, was wir wahrnehmen hängt von unseren Interessen und Gewohnheiten ab oder von der vermuteten Gefahr. Diese selektive Wahrnehmung kennen wir, wenn wir z.B. eine neue Brille kaufen wollen und uns ab dem Zeitpunkt auffällt, wieviele Menschen Brillen ganz unterschiedlichster Art tragen und wir sehen Werbung für Brillen. Auch Menschen und Verhalten nehmen wir selektiv wahr. Abweichungen von der „Norm“ fallen uns schneller auf-im positiven wie im negativen Sinn. Die Bewertung von positiv und negativ ist wiederum individuell, je nach familiärer und gesellschaftlicher Prägung, Alter, Erfahrung….
Obwohl unser Gehirn selektiert, bleiben immer noch so viele Reize, dass unsere Gedanken nicht zur Ruhe kommen. Der Unterschied zeigt sich schon in früher Kindheit, wie dieses Beispiel aus einer Kita zeigt: Die Mutter eines dreijährigen Kindes wird nach dem Medienkonsum des Kindes gefragt. Es fällt auf, dass dieses Kind sich im Vergleich zu den anderen Kindern länger konzentrieren und bei einer Sache bleiben kann. Dieses Kind kommt zuhause nur sehr begrenzt mit Medien in Kontakt. Sein noch nicht entwickelter Geist, der noch nicht so filtern kann wie der eines erwachsenen Menschen, hat die Fähigkeit, sich zu konzentrieren. Dieses praktische Beispiel zeigt, wie sich Reize auf die Funktionen unseres Gehirns auswirken.
Im Yogasutra gibt es den Begriff sauca (YS 2.40)- der innere Zustand der Reinheit. Es ist das erste niyama. Die Reinheit bezieht sich auch auf die körperliche Hygiene und reine d.h. gesunde Nahrung aber vor allem auf einen reinen Geist. So wie wir unser Essen auswählen, müssen wir auch die Informationen auswählen, die wir aufnehmen und wie viele wir aufnehmen. Jede Information wird im Gehirn mit Emotionen verknüpft und löst innere wie äußere Reaktionen aus. Welche Informationen dienen uns und welche schaden uns? Welche sind überhaupt wesentlich?
Die Ablenkungen und Zerstreuungen haben in den letzten 100 Jahren bis heute enorm zugenommen. Andererseits erfordert die Arbeit Konzentration, was zu Überforderung und Stresssymptomen beiträgt. Die Welt des Internets und der social media bietet seit einigen Jahren eine unbegrenzte Zahl von Sinnesreizen. Allein die Möglichkeit, es könne eine neue Nachricht oder ein neuer Post kommen, gepaart mit der unbeschränkten Erreichbarkeit, erzeugt in unserem Gehirn eine Unruhe. Tests haben gezeigt, dass die Klickzahl sich sogar erhöht, je weniger Nachrichten eingehen. Scheinbar rechnet das Gehirn dann mit einer höheren Wahrscheinlichkeit, dass bald wieder etwas passieren muss und die Anziehung wird stärker. Es entwickelt sich eine Abhängigkeit, die Gefühle agieren eigenständig. Das ist avirati.
Menschen klagen über Reizüberflutung. Die Frage ist: Wie kann man sich ihr entziehen? Wir haben mit unserem Zugang zu den Medien einen großen Einfluss auf die Menge der Reize. Warum sind Smartphones, Tablets, Laptops permanent online? Sie sind ein Quelle permanenter Ablenkung und ein ideales „Spielzeug“ für die Sinne. Es steht buchstäblich rund um die Uhr eine Fülle an Reizen zur Verfügung. Unsere Sinne (die Pferde), die ununterbrochen auf der Suche nach Reizen sind, können sich ständig beschäftigen. Sie haben das Kommando über das Bewusstsein (Zügel) übernommen und der Geist (Kutscher) fährt bewusstlos in tiefen Schlaf versunken mit. Er kann weder lenken noch wahrnehmen, was das Selbst (Herr der Kutsche) sagt. Das gilt nicht nur in Bezug auf das Internet. Welche anderen Quellen der Ablenkung haben wir sonst im Alltag?
Avirati führt durch mangelnde Impulskontrolle zu einer Verringerung der Aufmerksamkeitsspanne. In diesem Zustand ist der Alltag anstrengend. Die Energie wird nicht zielgerichtet eingesetzt, sondern -ohne ein befriedigendes Ergebnis – vergeudet. Da wir uns gleichzeitig mit mehreren Dingen beschäftigen, verlieren wir den Bezug zum jeweils Ganzen. Wir verlieren die Fähigkeit zum Reflektieren und die innere Ruhe und den inneren Frieden. Das kann der Geist/Kutscher in seinem Tiefschlaf nicht wahrnehmen denn das Bewusstsein/Zügel ist bei den Sinnen/Pferden.
Wenn wir an diesem Zustand etwas ändern wollen, muss der Geist wieder erwachen, um die Sinn-, Ziel- und Zügellosigkeit und die Konsequenzen zu bemerken: Wir bewegen uns nicht fort bzw. nicht in die gewünschte Richtung und nicht in der möglichen Geschwindigkeit. Unser Alltag kostet uns Energie, läßt uns aber oft unzufrieden oder unglücklich zurück. Wir empfinden keine Lebensfreude und sind weniger erfolgreich.
Was ist zu tun? Unser Geist muss wieder seinen Job machen und die Zügel übernehmen, d.h. bewusst werden. Yoga bietet dem Geist dafür viel Unterstützung durch āsana, prānāyāmā und Meditation. Ohne Unterstützung geht es nicht, denn der Geist muss nicht mehr und nicht weniger als seine Funktionsweise ändern!
Dazu gehört auch die biochemische Ebene. Reize erzeugen Gefühle und innere Zustände durch biochemische Prozesse. Der Körper schüttet Botenstoffe aus, z.B. Endorphin, Dopamin, Adrenalin, Oxytocin. Der Körper kann nach diesem Hormoncocktail süchtig werden wie auch nach anderen Stoffen, z.B. Nikotin, Alkohol, Schlaf-oder Aufputschmittel, Heroin u.a. Er verlangt immer wieder nach neuen Reizen oder er reagiert mit Entzugserscheinungen und läßt uns wieder rückfällig werden, z.B. beim Medienfasten. Wir brauchen also eine starke Einsicht, viel Geduld und Mittel, die den inneren Zustand verändern. Eine rationale Entscheidung und ein einmaliger Entschluss reichen dafür allein nicht aus. Sie sind nicht stark genug. Wir brauchen eine Erkenntnis.
Diese Erkenntnis gewinnen wir nach und nach, wenn wir uns beochachten (svādhyāya YS 2.1)
1. welche Reize, d.h. Quellen es sind, die uns am ehesten ablenken. Mit diesem Bewusstsein ist es vielleicht schon möglich, zukünftig nicht zu reagieren.
2. wann wir uns ablenken lassen. Gibt es immer wieder gleiche Situationen, Orte oder Umstände, wo wir besonders ablenkbar sind? Z.B. bei Stress, Erschöpfung, Hunger? Können wir sie meiden oder nicht reagieren? Oder müssen wir dafür sorgen, dass wir die Ursache beheben?
3. welches die Ursachen für unsere Ablenkung sind. Läßt die Konzentration vielleicht nach, weil wir eine Pause brauchen? Vermeiden wir etwas oder weichen dem aus? Scheuen wir eine bestimmte Aufgabe, ein bestimmtes Thema, einen Konflikt, eine Anstrengung, ist uns etwas lästig und wir nehmen dann dankbar die Ablenkung an? Ist uns etwas unangenehm oder fühlen wir uns überfordert, nicht kompetent genug und gehen diesem Gefühl aus dem Weg? Spielen die anderen antarāya (Hindernisse) eine Rolle? Wie können wir uns anders verhalten? Fehlt unserem Körper und Geist gerade der „Kick“ oder Lebensfreude und durch die Ablenkung mit etwas Neuem oder Anderem oder einem Gespräch bringen wir wieder „Leben“ hinein? Wo im Leben vermeiden wir Tiefe (Yogapraxis, Beruf, Kontakte), auch wenn es schwierig wird und bleiben nur an der Oberfläche?
Der Austausch mit anderen, Bücher von weisen Menschen und andere Medien können uns ebenso Hinweise geben. (YS 1.37)
Die Erkenntnis, womit dieses zwanghafte Verlangen nach ständiger Ablenkung, der Unfähigkeit, den Versuchungen nicht zu folgen, die Unruhe und der Mangel an Gelassenheit zusammenhängt, erschließt uns Handlungsmöglichkeiten. Das Bewusstsein ist wieder beim Geist und er ist jetzt wieder in der Lage, die Sinne zu steuern. Dies ist keine Kontrolle der Sinne, sondern die natürliche Reaktion. Denn die gute Nachricht ist: Ein aufmerksamer Geist und eine regelmäßige Übungspraxis verringern das übermäßige Interesse und die Wünsche und weckt stattdessen die tiefe Sehnsucht nach innerem Frieden.
Mit Yoga stärken wir unsere Bewusstheit. d.h. wir nehmen wieder die Zügel in die Hand und übernehmen wieder die Führung in unserem Leben. Indem wir unser Bewusstsein vertiefen, können wir die Botschaft unseres Selbst vernehmen. In diesem Sinne lenken wir unsere Sinne mehr und mehr wie und wohin wir wollen und in die richtige Richtung von Entwicklung und Erfüllung. Wir bleiben nicht auf dem Stand unserer Triebe, die uns an der Entwicklung hindern, sondern mit den Möglichkeiten des Yoga- āsana, prānāyāma, Meditation holen wir uns mit unserem Bewusstsein die Fähigkeit zurück, unsere Aufmerksamkeit zu lenken. Im Alltag benötigen wir unsere Sinne oft. Wir können aber, wenn sie nicht erforderlich sind, unsere Sinne und unseren Geist zur Ruhe kommen lassen und ruhig bleiben.
Datei mit der Aussprache der Sanskritbegriffe