Zukünftiges Leid vermeiden- Was ist sinnvolle Selbstverantwortung und Selbstfürsorge?

pexel

(Am Ende des Textes gibt es eine Audiodatei mit den Sanskritbegriffen)

Heyam duhkham anagatam 2. 16 – Zukünftiges Leid kann vermieden werden

Das ist eine Botschaft, die wir gern hören. Wer wünscht sich nicht, dass zukünftiges Leid verhindert wird? Und doch erleben wir seit Menschengedenken tagtäglich Leid. Ist das nicht ein Widerspruch? Gibt es dafür eine Erklärung ode sogar eine Lösung? Wer oder was kann dafür sorgen und wie kann das geschehen?

Mit Fragen können wir uns diesem Phänomen nähern:

  • Was versteht das Yogasutra unter Leid? YS 1.31
  • Welche Formen von Leid gibt es? YS 1.30
  • Welches sind die Ursachen von Leid?  YS 2.14 und 2.15
  • Was ist die Quelle der Ursachen von Leid? YS 2.12 und 2.13
  • Zukünftiges Leid kann vermieden werden? YS 2.16
  • Der Weg aus dem Leid- astanga yoga YS 2.28
  • Ist Glück das Gegenteil von Leid?
  • Ist „des einen Freud des anderen Leid“?
  • Ein vivekin werden YS 2.15

  • Was versteht das Yogasutra unter Leid? YS 1.31

Der Sanskritbegriff ist duhkha. Duhkha bedeutet Druck, schwer zu ertragen, dunkel, das was den inneren Raum verengt. Der Geist wird schwer, pessimistisch, trübsinnig, ständige negative Gedanken rauben Energie, Depression (daurmanas). Duhkha kann sich durch innere Unruhe und unruhigen Atem (svāsaprasvāsa), Zittern, Spannung, Instabiliät, Unsicherheit, Unbeherrschtheit (ejayatva) oder Zertreutheit (viksepa) ausdrücken. Die Symptome können auf allen Ebenen, sowohl körperlich, mental als auch psychisch auftreten. So wird duhkha in diesem Sutra beschrieben.

Während wir mit Leid oftmals dramatische Ereignisse verbinden, umfasst duhkha auf der Skala von Unwohlsein, Unzufriedenheit, sich gestört fühlen, belästigt fühlen, Unglück,  Schmerz, Sorge, Schwierigkeiten, Kummer, Traurigkeit, Wut bis hin zu Bedrohungen, Verletzungen und existenziellem Leid alles. Wir alle erleben in der ein oder anderen Form täglich duhkha. 

Die Beschreibung im Yogasutra läßt den körperlichen Schmerz, körperliche Empfindungen außen vor. Das Schmerzempfinden ist eine biologische Funktion von großem Nutzen. Es weist uns auf eine Bedrohung hin und fordert zum Handeln auf, z.B. einen Arzt aufzusuchen oder eine falsche Haltung zu verändern. Duhkha meint nicht den Schmerz, sondern Leid. Schmerz ist immer mit einer Körperempfindung verbunden. Leid hingegen entsteht im Geist durch die Bewertung des Schmerzes. Der gleiche Schmerz kann bei verschiedenen Personen unterschiedlich zu Leid führen. Durch Prävention kann auch zukünftiger Schmerz verhindert werden. So gesehen sind Schmerzen indirekt angesprochen, aber nicht Gegenstand der Erforschung.


  • Welche Formen von Leid gibt es? YS 1.30

Handlungen, oder allgemein eine Lebensweise aus einem unklaren Geist, haben verschiedene Auswirkungen und zeigen sich in unterschiedlichen Formen.

Im Sutra 1.30 werden neun verschiedene Formen von Leid auf allen Ebenen- körperlich, psychisch und mental- genannt. In Sanskrit ist der Begriff antarāya- Hindernis, Widerstand, Störungen des Geistes, die Leid erzeugen:

  • Vyādhi zersplittert, fragmentiert sein drückt sich durch Unwohlsein oder Krankheit aus
  • styāna Trägheit oder Schwere. Das Gefühl ist das der Gleichgültigkeit, Mangel an Interesse und Motivation und leichter Ablenkbarkeit
  • samsaya– Unentschiedenheit, ständiges, sinnloses Zweifeln ohne Ergebnis, nicht ins Handeln kommen können, mangelndes Selbstvertrauen
  • pramāda Hast, nie ankommen. Das Erreichte nicht wertschätzen, immer mit dem Blick in die Zukunft
  • ālasyaFaulheit, innerer Widerstand, es ist zu schwierig
  • avirati das Gegenteil von styāna, samsaya und ālasya. Ständig mit etwas beschäftigt sein, sich von jedem Reiz ablenken lassen, mangelnde Konzentration
  • bhrāntidarsanaDie Neigung zur Selbstüberschätzung und zur Überheblichkeit
  • alabdhabhumikatva- mangelnde Zielstrebigkeit, Mangel an Motivation, Zuversicht und Vertrauen
  • anavasthitatva– Unbeständigkeit, mangelnde Ausdauer, zu früh aufgeben

Wenn einer dieser Zustände dominiert ist das leidvoll.


  • Welches sind die Ursachen von Leid? YS 2.14 und 2.15

Wenn wir zukünftiges Leid vermeiden wollen, ist es wichtig zu wissen wodurch es entsteht. Der Vers 2.16 bezieht sich auf die vorhergehenden Sutren.

1. Eine Ursache von Leid sind unsere Handlungen. Beruht unser Handeln auf Erkenntnis und einer klaren Wahrnehmung führt das Ergebnis langfristig zu Glück, Zufriedenheit, Genuss (hlāda), beruht es auf einem Irrtum, führt es zu Leid (paritapa 2.14). Alle Handlungen aus antarāya bringen Leid, weil die Klarheit im Geist fehlt. Die Ursache liegt also im eigenen Beitrag zum Glück oder Leid. Welche anderen Einflüsse dazu beitragen, ist nicht Gegenstand der Betrachtung. Dieser Ansatz ist deshalb wichtig, weil wir den größten Einfluss auf unser eigenes Handeln haben und damit auch die größten Erfolgsaussichten, Leid zu verhindern. Es nützt uns nicht viel, nach äußeren Ursachen zu suchen, weil unser Einfluss auf andere nur begrenzt gegeben ist. Der Umkehrschluss, wir könnten oder sollten uns nicht um die äußeren Umstände kümmern und um sinnvolle Veränderungen, ist jedoch falsch. Oft läßt sich das eine auch garnicht vom anderen trennen. Der innere Prozess von Wahrnehmung und Erkenntnis geht jedoch immer einer äußeren Veränderung voraus und ist unerlässlich. Andernfalls bringt die Veränderung nur anderes Leid. Wir „kommen vom Regen in die Traufe“ und wundern uns. Wenn wir andere Ergebnisse wollen müssen wir anders handeln.

2. Die Ursachen für Leid aus falschem Wissen und Unkenntnis sind YS 2.15:

  • Leid aus den Veränderungen / der Vergänglichkeit (parināmaduhkha): Eine wesentliche Erkenntnis ist, dass alles, was uns umgibt, was wir sind, sich ständig verändert und vergänglich ist. Unser Geist verdrängt diese Tatsache oft und wenn sie bewusst wird, verursacht sie Leid statt echter Akzeptanz. Einerseits kennen wir Veränderungen, weil wir es selbst erleben – in der Natur draußen, in Bauwerken (z.B. Brücken), durch unsere Mitmenschen und bei uns selbst-  andererseits leiden wir dennoch und versuchen, die Vergänglichkeit zu leugnen, zu verdrängen oder zu bekämpfen. Die positiven Seiten der Vergänglichkeit sehen wir weniger, sondern halten sie für selbstverständlich, z.B. die Vergänglichkeit von Krankheit oder das Nachlassen von Schmerz. Vergänglichkeit an sich ist weder gut noch schlecht, weder Leid noch Glück. Leid entsteht aus der Nichtakzeptanz dieser Tatsache und dem Mangel einer tiefen Einsicht in das Wesen und die Bedeutung von Vergänglichkeit, in den Kreislauf der Natur.
  • Sehnsucht (tāpaduhkha): Wir sehnen uns nach etwas, was nicht da ist, was wir nicht oder nicht in der Art und Weise oder in der Fülle haben und denen wir die Eigenschaft zuschreiben, dass sie uns glücklich machen. Auf den ersten Blick ist es oft etwas im Außen: Geld, Macht, Besitz, Freunde, Familie, Arbeit, Status. Auf den zweiten Blick können wir erkennen, dass es nicht um Äußeres geht, sondern um das Gefühl, das wir dem zuschreiben. Unsere eigentliche Sehnsucht ist ein bestimmter innerer Zustand, den wir Glück, Ruhe, Sicherheit, Freiheit nennen. Es kann auch die Abwesenheit von Leid, Stress, Angst, Einsamkeit oder andere Gefühle sein. Sehnsucht ist ein Auslöser für Leid in der Zukunft und in der Gegenwart denn 1. beruht die Sehnsucht auf dem Irrtum, dass der innere Zustand nur durch eine Änderung der Situation im Außen möglich ist, 2. wird der jetzige Zustand als Mangel erlebt, 3. weil immer neue Sehnsuchtsobjekte auftauchen und 4. weil das Verständnis fehlt, dass auch Gefühle von Natur aus veränderlich sind. Dabei spielen unsere Sinne eine wichtige Rolle. Die Sinneseindrücke oder -reize wecken oft erst eine Sehnsucht.
  • Abhängigkeiten (samskāraduhkha):  Dieses Leid beruht auf unseren Prägungen und Mustern (samskāra). Wir haben in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass uns etwas für eine gewisse Zeit glücklich gemacht hat. Oder es hat vorübergehend die Gefühle und Gedanken, die Ängste und Sorgen, verdrängt, was als Erleichterung erlebt wird. Das Leid kehrt aber immer wieder zurück. Das führt zu einem Wiederholungszwang, der langfristig zu mehr Leid führt. Wir werden abhängig von äußeren Dingen. Gepaart mit Sehnsucht leiden wir doppelt.
  • Konflikte (virodha): Konflikte können als offene oder verdeckte Form auftreten und sind für die meisten Menschen ein Auslöser für Leid, wenn sie nicht lösbar scheinen. Sie gehen einher mit emotionalen oder körperlichen Verletzungen und lösen Stress im Körper aus (Kampf-, Fluchtreflex). Der Verlierer geht mit dem Gefühl der Niederlage, der Demütigung und dem verletzten Selbstwert aus dem Konflikt. Er strebt nach einem Ausgleich, nach Rache und Wiederherstellung des Selbstwertes. Wenn dies bei dem Gegner nicht möglich ist, wird er sich andere Möglichkeiten suchen und seinerseits wieder andere verletzen. Eine Spirale ohne Ende, wie wir sie seit Hunderttausenden von Jahren kennen. Aber auch der Sieger freut sich nur kurzfristig über seinen Sieg, denn auch er hat Verletzungen davon getragen, hat sich neue Feinde gemacht und muss mit Rache rechnen. Das eigentliche Motiv eines Konfliktes ist die Herstellung eines Überlegenheitsgefühls und Befriedigung einer Sehnsucht. Eine andere Form von Konflikten sind die inneren Konflikte. Sie sind oftmals unbewusst und dennoch sehr mächtig. Wir können ihnen auch nicht aus dem Weg gehen, wie bei äußeren Konflikten. Eine -unbewusste-  Lösung ist, sie nach außen zu verlagern.  Der innere „Feind“, das innere Gefühl von Schwäche wird auf andere projeziert und dann im Anderen bekämpft. Das Leid besteht darin, dass der innere Konflikt niemals befriedet wird. Der innere Feind bleibt und der andere Mensch ist ein ganz anderer.
  • Schließlich ist das Fazit, dass alles (sarva) zu allen Zeiten und überall das Potenzial für duhkha hat. Auch im Glück liegt schon Leid, weil es auch unbeständig ist. Glücklicherweise ist diese Aussage nicht das Ende. Es gibt einen Weg aus dem Dilemma. Er führt uns zunächst zur Quelle von Leid, dort wo die Ursachen ihren Ursprung haben.

  • Was ist die Quelle der Ursachen von Leid? YS 2.12 und 2.13

Nachdem einige Ursachen von Leid bekannt sind, stellt sich die Frage nach den Gründen für diese Ursachen. Sie entstehen nicht aus dem Nichts. Wenn wir der Frage nachgehen, tauchen wir tief ein in die menschliche Psyche und in unseren Geist ein.

Die Ursachen für Leid liegen in unseren Handlungen im weitesten Sinne, inklusive unserer Gedanken und Worte in Kontakt mit anderen oder in Selbstgesprächen. Sind diese Handlungen von Erkenntnis und Wissen und einer klaren Wahrnehmung gepägt, führen sie zu einem langfristig leidfreien Erleben, beruhen sie auf einem Irrtum, führen sie zu Leid. Wenn wir uns unser Leben und das Geschehen um uns herum anschauen, sehen wir die Ergebnisse.

Wie können wir das Wissen und die Erkenntnis für unsere Handlungen erwerben, so dass sie zu Zufriedenheit und Glück führen und wir sie nicht zu bereuen? Der Schlüssel dazu sind unsere „Neigungen“ oder Triebe, die klesa (YS 2.2 ff.). Sie sind die Wurzeln (mula) unserer Handlungen (YS 2.12).

  • Das klesa rāga ist die Gier, das Festhaltenwollen und erzeugt Sehnsucht, Abhängigkeit, Neid und Eifersucht
  • Das klesa dvesa ist die Quelle von Konflikten durch Ablehnen, Bekämpfen, Verdrängen (auch die Vergänglichkeit), Projezieren
  • Das klesa asmitā ist die ich-Bezogenheit, das Ego das immer alles auf sich bezieht und aus einer egozentrischen Sicht bewertet
  • Das klesa avidyā ist die Täuschung, dass das innere Glück durch äußere Zustände dauerhaft herbeigeführt und dadurch das Leid der Vergänglichkeit vermieden werden kann
  • Das klesa abhinivesa ist die Angst vor Leid und treibt die anderen klesa an.

Die klesa sind immer vorhanden und mal ist das eine, mal das andere mehr oder weniger aktiv. Sie liegen wie Samen in unserem Geist und werden unter bestimmten Umständen aktiv. Diese „Samen“ liegen in einem Bereich unseres Geistes, der karmāsaya genannt wird. Āsaya bedeutet einfach „Feld“ und meint das, was wir heute Unbewusstes oder Unterbewusstsein nennen. Dort heißen sie samskāra. Zu unserem Unterbewusstsein haben wir keinen Zugang und damit auch nicht zu den samskāra. Sie können sehr alt sein und sogar aus früheren Existenzen sammen. Erst in der Form der klesa, in unserem Bewusstsein, haben wir einen Einfluss. Das ist wichtig, denn sie sind die Grundlage der Ursachen für unser Leid.

Karma bedeutet, anders als im Sprachgebrauch, Ursache. Unsere Handlungen sind die Ursache und haben bzw. hatten Auswirkungen, die gespeichert werden bzw. wurden und wiederum das Feld für neue Handlungen bestell(t)en. Das meint das Prinzip von karma. Es hält einen leidvollen Kreislauf in Gang.

Immer dann, wenn die klesa wirksam sind (sati-mule), bestimmen sie die Art und Weise  der Auswirkung  / Folgen (jāti), deren Dauer (ayuh) und das Gefühl von Glück (bhoga) oder Leid (duhkha) der Handlungen (tad)  (2.13). Das Yogasutra setzt bei der Ursache- den klesa – an, um den Kreislauf von Handlungen- neue Prägungen- Leid-neue Handlungen usw. zu unterbrechen.


  • Zukünftiges Leid kann vermieden werden? YS 2.16

Die Beschreibung des Kreislaufs von Handlungen, Prägungen, Leid, neuen Handlungen usw. vermittelt zunächst wenig Hoffnung auf Änderung.

Dennoch sagt das Sutra, dass Leid nicht determiniert, nicht vorher bestimmt und für alle Zeiten festgelegt ist. Es gibt einen Spielraum, Veränderung ist möglich. Deshalb ist zukünftiges Leid vermeidbar. Unsere Gegenwart ist das Ergebnis unserer bisherigen Handlungen, also unserer Vergangenheit. Unsere Zukunft wird das Ergebnis unserer Handlungen in der Gegenwart sein. Die Gegenwart ist -auch im Hinblick auf zukünftiges Leid- der wichtigste Moment in unserem Leben!

Das Yogasutra ist gekennzeichnet durch einen logischen Aufbau. Wir können den gedanklichen Weg nachvollziehen: Der Begriff duhkha wird im ersten Kapitel definiert und dadurch klarer und fassbarer. Damit wird Missverständnissen oder fruchtlosen Diskussionen vorgebeugt. Dann erfolgt im zweiten Kapitel eine Ursachenforschung. Der Text endet nicht mit der Zustandsbeschreibung, sondern liefert die Grundlage für eine Strategie oder Methode, das Leben in eine Richtung zu lenken, die weniger leidvoll oder sogar das Potenzial, leidfrei zu werden.

  • Selbstverantwortung und Selbstfürsorge

Das Yogasutra sieht die alleinige Ursache für Leid in unserem Geist. Da wir in der Welt handeln, bringen wir unser Leid durch unsere Handlungen in die Welt. Die Auswirkungen unserer Handlungen spüren wir sowohl in unserem Inneren und in der Welt als neues Leid.

Wollen wir zukünftiges Leid verhindern, so müssen wir an der Wurzel beginnen, etwas zu verändern. Denn solange unser Geist verblendet ist durch falsches Wissen (avidyā) und es ihm an Erkenntnis und Klarheit mangelt (viveka YS 2.26), werden wir unter den Folgen unserer Handlungen leiden. Die Schlussfolgerung ist, dass wir uns der Verantwortung für uns selbst- unserer Selbstverantwortung- bewusst werden müssen, wenn wir etwas ändern wollen. Das Yogasutra präsentiert uns keinen Guru oder Lehrer, der uns sagt, was wir tun sollen. Wir müssen es selbst herausfinden- und aufhören, die Lösung in der Welt zu suchen. Die Veränderung in der Welt steht, wenn überhaupt, am Ende des Prozesses. Sie ist es aber nie ohne den inneren Weg möglich. Selbstver-Antwort-ung sagt, dass wir selbst eine Antwort finden müssen-und können.

Selbstverantwortung setzt voraus, dass wir die Folgen unseres Handelns absehen können. Am Anfang unseres Lebens war es uns nicht möglich und wir brauchten Personen, die dies für uns übernommen haben und uns gezeigt haben, wie es gelingt (oder auch nicht). Dann konnten wir mit zunehmenden Bewusstsein in kleinen Schritten Selbstverantwortung üben. So steht sie uns jetzt zur Verfügung und wir können sie nehmen. Und dass wir es können und wie wir selbst Antworten finden, wird dann im folgenden als achtgliedrigen Pfad (astanga 2.28) beschrieben.

Aus der Selbstverantwortung folgt die Selbstfürsorge. Es reicht nicht aus, sich ihrer bewusst zu sein, sondern sie muss in Handlungen im Alltag zum Ausdruck kommen (anusāsanam YS 1.1)


  • Der Weg aus dem Leid- astanga yoga YS 2.28

1. Im ersten Kapitel wird ausgesagt, dass aus unseren unbewussten Eindrücken (samskāra) in unserem Bewusstsein (citta) die Prägungen und Neigungen (klesa) entstehen, die wiederum zu Gedanken und Gefühlen (vritti) führen. Nicht alle vrittis führen zu Leid. Es hängt davon ab, ob es leidauslösende (klista YS 1.5) oder klare, erkennende (aklista) Geistesaktivitäten sind. Wir sind also nicht determiniert. Das ist eine wichtige Prämisse, um zukünftiges Leid zu verhindern.

2. Voraussetzung für eine Befreiung von Leid ist das zur Ruhe kommen des Geistes (cittavritti nirodha YS 1.2). Dann kann der Geist klar werden, Erkenntnis gewinnen und frei von Irrtümern werden. Das ist ein langer (dirghakāla) und ständiger, ununterbrochener (nairantarya YS 1.14) Prozess von einem unruhigen (viksepa YS 1.30) und dumpfen (daurmanas YS 1.31) zu einem klaren (prasānta YS 3.10)  und reinem Geist (saumanas YS 2.41). Das klare Bewusstsein am Ende des Prozesses wird samādhi und kaivalya, die Freiheit von den klesa, genannt. Der Zustand wird mit einem vollkommenen Edelstein (abhijātasya-iva-maneh YS 1.41) verglichen, der völlig rein ist von Verschmutzungen (klesa, samskāra). Ein solcher Geist ist frei von Leid.

3. Der praktische Weg zur Freiheit von Leid- sādhana pāda. Der Text beginnt damit, dass Yoga Theorie und Praxis ist (anusāsanam YS1.1). Die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Thema führt nicht zum Ziel. Es braucht praktisches Handeln (kriyā yoga YS 2.2). Dieser Weg des Handelns (sādhana pāda) wird im zweiten Kapitel im Anschluss an die Analyse von Leid, in acht Schritten (astanga) erklärt.

1. Die yamaWie vorher beschrieben sind Konflikte oftmals die Ursachen von Leid. Die yama beschreiben fünf Aspekte, mit denen wir Leid vermeiden können:

  • Gewaltfreiheit (ahimsa). Indem wir selbst auf jede Form von körperlicher und psychischer Gewalt verzichten und auf Wut und Aggression gewaltfrei antworten, vermeiden wir Leid durch Konflikte.
  • Wahrhaftigkeit (satya). Indem wir authentisch, ehrlich, nicht manipulativ oder kontrollierend agieren, vermeiden wir Leid, das aus diesem Verhalten resultiert.
  • Nicht stehlen (asteya). Indem wir uns nicht bereichern, weder materiell noch immateriell, schaden wir nicht und vermeiden Leid und Konflikte.
  • Enthaltsamkeit (brahmacharya)Wir überprüfen unsere Bedürfnisse auf ihre Notwendigkeit und folgen ihnen nicht blind. Dies reduziert das Leid hervorgerufen durch Abhängigkeiten.
  • Genügsamkeit (aparigraha): Da unsere Sehnsüchte ein Grund für Leid sind, führt Genügsamkeit in einen leidfreien Zustand.

2. Die niyama: Wir übernehmen die Verantwortung für uns selbst, reduzieren leidvolle Verhaltensweisen und stärken Verhalten, das zu mehr Klarheit und einem ruhigeren Geist führt:

  • Reinigung / Reinheit (sauca). Wir erkennen das Leid, das durch die klesa entsteht und lassen uns immer weniger von den leidvollen (aklista) Gedanken beeinflussen und verbessern unsere Erkenntnis (viveka), indem wir unsere Gedanken auf die Klarheit ausrichten (klista) und den leiderzeugenden Gedanken keinen Raum geben. Wir verstehen immer mehr, dass das Glück nicht von außen kommt.
  • Zufriedenheit (santosha). Aus der Klarheit und Ruhe des Geistes erwächst Zufriedenheit und inneres Glück, das von äußeren Gegebenheiten unabhängig ist. Dieser Zustand führt zum höchsten, dauerhaften Glück (ānanda). Aus solchen Handlungen entsteht kein Leid und wir reduzieren die klesa (Angst, Gier, Abwehr).
  • Tiefe innere Motivation (tapah). Wir setzen unsere ganze Energie für diesen langen und schwierigen Prozess ein und bleiben auch wenn es anstrengend wird ohne uns ablenken zu lassen (abhyāsa). Nur so können wir das Leid überwinden.
  • Selbsterforschung (svādhyāya). Wir suchen nicht in der Außenwelt nach Ursachen und Lösungen, weil es sie dort nicht gibt. Wir suchen innen und erforschen unseren Geist.
  • Hingabe an das höhere Bewusstsein (isvarapranidhāna). Wir lassen nach und nach unsere leidvollen Prägungen los und werden frei davon. Das führt uns zu dem neuen Bewusstsein, das kein Leid kennt.

3. Der Körper (āsana). Die āsana können den Körper von Spannungen reinigen (sauca) und Symptome lindern. Fehlende Kraft wird aufgebaut. Der Körper kommt in seine natürliche Balance ( dvandva). Dann kann der Geist zur Ruhe kommen und wird nicht immer wieder in Unruhe versetzt und abgelenkt. Hier spielt der psychosomatische Aspekt eine Rolle um Leid zu reduzieren. Der Körper wird als Werkzeug benutzt, um den Geist zur Ruhe zu bringen.

4. Die Atemaufmerksamkeit und -lenkung (prānāyāma). Der Atem hat eine unmittelbare Verbindung zum Körper und zum Geist. Durch gezielte und bewusste Atmung kann auf den inneren Zustand (die antarāya) Einfluss genommen werden. Das führt zu psychischer und mentaler Stabilität.

5. Das Zurückziehen der Sinne (pratyāhāra). Wenn wir die inneren Ursachen finden wollen, ist es unerlässlich, dass wir die Aufmerksamkeit zu unseren inneren Bewegungen bringen und von der Außenwelt (für eine gewisse Zeit) abziehen.

6. Fokussierung (dhāranā). Wenn die Aufmerksamkeit nach innen gerichtet ist, fokussieren wir uns auf die inneren Prozesse (was wird wahrgenommen, wer nimmt wahr, wie ist der Prozess) und erkennen so, wie Leid entsteht. So können wir immer mehr Leid und seine Ursachen auflösen und durch Klarheit ersetzen.

7. Fokussierung halten (dhyāna). Die Aufmerksamkeit wird solange wie möglich gehalten, um auch subtile Vorgänge zu erkennen.

8. Leidfreier Zustand / höheres Bewusstsein (samādhi). Wenn alle Bemühungen und Schritte lange (dirghakāla) und ohne Unterbrechung (nairantarya 1.14) praktiziert wurden und der Geist nach und nach von einem unruhigen (viksepa YS 1.30) und dumpfen (daurmanas) zu einem klaren (prasānta YS 3.10)  und reinem Geist (saumanas YS 2.41) wird, führt der Weg zum leidfreien Zustand von samādhi. Der Geist ist still, die klesa sind nicht mehr aktiv, sie haben keinen Einfluss mehr, alle Handlungen beruhen auf Wahrheit und Erkenntnis und erzeugen kein weiteres Leid. Das ist kaivalya.


  • Ist Glück das Gegenteil von Leid?

Glück im üblichen Sinn suchen wir in der Welt nicht in uns selbst. Unsere Sinne liefern uns Eindrücke, die uns Glück versprechen. Wir glauben oder hoffen dass dieses oder jenes (Kleidung, Haus, Auto, Reise, Partner, Kinder, Karriere, Erfolg, Reichtum) uns glücklich macht. Es liegt in der Natur dieser Objekte oder Subjekte, dass sie vergänglich sind. Damit steht das Glück auf einem unsicherem Fundament. Es kann nur unbeständig sein, weil wir es an unbeständige Objekte oder Subjekte binden. Dieses Glück ist nicht wirklich frei von Leid. Glück und Leid sind wie die beiden Seiten einer Medaille. Im Yogasutra heißt es bhoga oder lābha im Sinne von Genuss und Anziehung.

Das unendliche und höchstmögliche Glück ist ānanda (YS 1.17). Dieses Glück erfahren wir am Ende des Yogaweges, wenn wir die wirkliche Einsicht (kaivalya) erlangt haben und die klesa überwunden sind.


  • Ist „des einen Freud des anderen Leid“?

Für diese Redewendung gibt es zahlreiche Beispiele: Im Sport, an der Börse, im Krieg, in der Politik, in der Wirtschaft, am Arbeitsplatz.

Aus der Sicht des individuellen Ego (asmitā) scheint es möglich zu sein, Freude und Glück allein zu erleben, womöglich auf Kosten anderer. Aber diese Freude führt nicht zu innerem Frieden, denn die Freude ist vergänglich und das ist dem Ego bewusst. Ein gewonnener Titel muss verteidigt werden, der Börsengewinn abgesichert, die Grenzen geschützt, der Gegner ausspioniert und Geld in die Rüstung gesteckt werden, neue Werbestrategien erdacht, neue Märkte erschlossen, neue Produkte erfunden werden, neue und bessere Leistung erbracht werden. Aus Freude wird Anstrengung, begleitet von der ständigen Angst (abhinivesa), dass es nicht genug ist. Die Freude, die aus solchen Handlungen zunächst entsteht, bleibt vergänglich. Es ist ein Irrtum zu glauben, unabhängig von anderen glücklich sein zu können. (siehe auch den Punkt Konflikte).

Unabhängig von den bereits aufgeführten Gründen führt ein Handeln aus den klesa und den antarāya aus einem weiteren Grund zu Leid: Mit solchen Handlungen führen wir eine Trennung herbei bzw. stärken sie zwischen uns und der Umwelt. Wir verletzen unser Grundbedürfnis und das der anderen Menschen und Wesen nach Verbundenheit. Unser Ursprung, unser Beginn liegt in der Verbundenheit, nicht in der Trennung. Deshalb ist jede Trennung, von der eigenen Geburt an immer mit Schmerz und dem Gefühl von Verlust verbunden. Wir brauchen Verbundenheit und verhindern sie doch. Dann kann unser Geist nicht klar und ruhig werden. Nicht umsonst stehen die yama am Anfang des Yogaweges. Sie fördern Verbundenheit.

Und das Yogasutra geht darüber hinaus. Im ersten Kapitel werden die bhāvana (YS1.33), auch Herzensqualitäten genannt, als Grundhaltung im Yoga betrachtet:

  • Maitri: Liebe oder liebende Güte
  • Karuna– das Mitgefühl
  • Mudita- die Mitfreude
  • Upekşa– Verständnis, Toleranz, Gleichmut

Dann stellen wir Verbindung her und werden glücklich, zufrieden und ruhig. Sie führen über den äußeren Frieden zu innerem Frieden und innerem Glück. Freude auf Kosten anderer, oder sogar Schadenfreude sind der Ausdruck eines in den klesa gefangenen Geistes, der die Zusammenhänge nicht erkennt und neues Leid erschafft.


  • Ein vivekin werden YS 2.15

Ein vivekin ist ein Mensch, der das Leid und seine Ursachen verstanden und sich selbst erkannt hat. Seine Handlungen sind frei von Täuschung und Irrtümern und damit frei von neuem Leid. Das ist der Yogaweg.

Duhkha findet immer in der Gegenwart statt. Wir können nur jetzt leiden. Wir können zwar unter vergangenen Ereignissen leiden, aber das Leiden selbst findet jetzt statt. Auf die Vergangenheit und vergangenes Leid können wir keinen Einfluss nehmen, aber auf unser jetziges und unser zukünftiges duhkha sehr wohl. Wie wollen wir leben?

In einem Mantra in der Brihadaranyaka Upanishad heißt es:

Om Asatoma Sat Gamaya (führe mich vom Nichtwissen zur Wahrheit)
Tamasoma Jyothir Gamaya (führe mich von der Dunkelheit zum Licht)
Mrithyorma Amritham Gamaya (führe mich vom Vergänglichen zum Unvergänglichen).

Und in dieser Geschichte erfahren wir etwas über Glück und Unglück, Veränderungen (parināma) über(Loslassen (vairāgya YS 1.12), Vertrauen (shraddhā YS 1.20) und Hingabe (isvarapranidhāna YS 2.1): Der alte Mann und das Pferd.

Audiodatei mit den Sanskritbegriffen